»Geh dennoch!«, befahl Artax. »Vielleicht haben sie ja etwas übersehen.«
»Aber wenn nicht wir es waren, die den Drachen getötet haben … Wer sollte es dann gewesen sein?«
Der Unsterbliche musste an die grünen Riesen denken, die sich aus den Fluten des Flusses erhoben hatten. Der Löwenhäuptige behauptete, dies seien die eigentlichen Kinder Nangogs gewesen. Aber welchen Grund hätten sie, einen Drachen zu töten, der gekommen war, um für sie zu kämpfen? »Finde heraus, wie der Drache starb, vielleicht verrät uns das auch, wer ihn getötet hat.«
Ormu nickte knapp, dann huschte er zu den Schatten, die Artax auf Schritt und Tritt folgten, und gab den Leibwächtern neue Befehle, bevor er ganz im Dunkel verschwand.
Der Unsterbliche blieb noch einen Moment lang stehen und lauschte in die Nacht. Vom Marktplatz ertönten Trommelklang und ausgelassenes Gelächter. Er wusste, dass die Krieger nicht nur den Sieg feierten. Ihr Lärm sollte das unheimliche Heulen des Windes übertönen, das hier in der Stadt viel deutlicher zu hören war als draußen auf der Eisebene. Etwas stimmte hier nicht. Seit er durch das Weltentor getreten war, verfolgte ihn die düstere Vorahnung, dass sie hier in eine Falle tappten.
Doch das war es nicht allein, was ihm Sorgen bereitete. Kurz nachdem sie die Stadt erreicht hatten, war etwas geschehen, das selbst seinen Herrn, den Löwenhäuptigen, zutiefst erschreckt hatte. Artax hatte beobachtet, wie der Devanthar regelrecht zusammengezuckt war. Er hatte ihn dreimal darauf ansprechen müssen, bis der Löwenhäuptige schließlich damit herausrückte, er habe eine Erschütterung der magischen Welt gespürt. Etwas, das nur geschah, wenn ein machtvoller Zauber gewoben wurde, der die natürliche Ordnung störte.
Was für ein Zauber das war, hatte der Devanthar nicht sagen können oder wollen. Kurz darauf hatte er das Heer verlassen und war nach Daia zurückgekehrt. Der Große Bär war der einzige der Götter, der sie jetzt noch begleitete. Das war kein gutes Zeichen.
Ganz in düstere Gedanken versunken, strebte Artax dem kleinen Haus am Stadtrand entgegen, das er sich zum Quartier erwählt hatte. Höchstens vier Stunden noch, dann würde es dämmern. Dann würden sie die letzten Daimonen töten und sich auf dem schnellsten Weg aus dieser verfluchten Eiswüste zurückziehen. Wenn nichts dazwischenkam, konnten sie binnen vierundzwanzig Stunden das Weltentor erreichen.
Immer wieder gingen ihm die Worte des Löwenhäuptigen durch den Kopf. Was für ein Zauber hatte die magische Welt erschüttert? Wovor lief selbst ein Devanthar davon?
Aus der Sonne
»Herr!«
Artax hatte das Gefühl, er hätte gerade erst die Augen geschlossen, als die drängende Stimme Ormus ihn aus dem Schlaf riss.
»Was?«
»Ich habe noch gestern Nacht Späher hinaus vor die Stadt geschickt. Gerade ist einer zurückgekehrt. Er ist völlig verstört. Er sagt, er habe eine Schar Pferdemänner gesehen.«
Artax stöhnte und zog die Wolldecke enger um seine Schultern. Das Feuer im Kamin der kleinen Kammer war verloschen und eisige Kälte in sein Nachtquartier gesickert. »Er hat also ein paar Ischkuzaia gesehen«, entgegnete Artax verschlafen. »Davon gibt es hier Hunderte.«
»Das waren keine Steppenreiter!«
Artax blinzelte verschlafen. Ormu kniete neben seinem schmalen Feldbett. Der Jäger sah aus, als hätte er die ganze Nacht im Freien verbracht. Eiskristalle funkelten in seinem roten Bart und dem zerzausten Haar.
»Dort draußen sind Kreaturen, die halb Mann, halb Pferd sind.«
»Wie kann er sich da so sicher sein? Es ist doch noch dunkel.«
»Ich vertraue ihm!« Ormu rüttelte nun an seiner Schulter. »Wir müssen dem nachgehen. Da draußen östlich der Stadt ist etwas!«
Artax rieb sich den Schlaf aus den Augen. Ormu würde ihm keine Ruhe lassen. Müde setzte sich der Unsterbliche auf seinem Lager auf. »Wahrscheinlich waren es diese Kreaturen, die durch Nangogs Zauber geboren wurden. Du hast sie doch auch schon gesehen. Vogelweiber, Krokodilmänner … Alle nur erdenklichen Abscheulichkeiten.«
»Nein, das hier ist anders. Von diesen Ungeheuern, die Ihr meint, hat nie jemand mehr als zwei oder drei Gleichartige an einem Ort gesehen. Meist waren sie sogar allein. Mein Späher beharrt darauf, dass die Pferdemänner eine ganze Schar waren. Als sie sich zurückgezogen haben, hat er die Spuren im Schnee untersucht. Es waren mindestens zwanzig.«
Schlagartig war Artax hellwach. Das war in der Tat alarmierend! Artax schwang die Beine über den Rand der schmalen Pritsche, auf der er in seinen Kleidern genächtigt hatte. »Bring Wachposten auf die beiden Ankertürme und verdoppele die Posten draußen vor der Stadt.« Der Unsterbliche griff nach seinen gefütterten Stiefeln. »Hast du etwas über den Tod des Drachen herausgefunden?«
»Tja …« Ormu druckste derart herum, dass Artax von den Stiefeln aufblickte.
»Wie es scheint, wurde das Ungeheuer doch durch einen Pfeil getötet. Ein einziger von all den Hunderten … Aber es bleibt seltsam.«
»Du hast dich also geirrt. Irgendeiner von Subais Männern hat den glücklichen Schuss gesetzt, der den Drachen tötete.« Artax streifte den zweiten Stiefel über und griff nach dem Leinenpanzer, den der Löwenhäuptige ihm geschenkt hatte.
»Nein, ich glaube nicht, dass es einer von Subais Männern war. Dieser Pfeil muss ganz anders gewesen sein.«
Artax hob beide Arme. »Schließ die Schnallen des Leinenpanzers.«
Ormu zog an den Lederriemen, bis sich der Kürass aus leimgetränktem Leinen eng um die Brust des Unsterblichen schloss. Der Jäger roch nach Rauch und Blut. Seine Weste war voller dunkler Flecken.
»Wer war dann der Schütze, wenn es nicht die Steppenreiter waren?«
Ormu bog die Schulterstücke der Rüstung herab und ließ ihre Bronzehaken in die kleinen Ösen auf dem Bruststück neben dem aufgestickten Löwenkopf einrasten. »Wie ich sagte, es bleibt rätselhaft, wer der Schütze war. Sein Pfeil hat den Hinterkopf des Drachen getroffen. Der Schädel ist dort mindestens zwei Zoll dick. Ich kenne keine Waffe, deren Geschosse einen so dicken Knochen durchschlagen könnten.«
»Vielleicht haben uns ja doch die Devanthar geholfen?«
»Aber warum machen sie ein Geheimnis daraus?« Ormu sprach halb zu sich selbst, während er Artax die ledernen Ärmel über die Arme schob und mit der Rüstung verband. Sein Blick war in sich gekehrt. »Der Pfeil hat einen der Zähne des Drachen durchschlagen, die Lefzen und ist dann weitergeflogen. Der Kopf des Ungeheuers ist so groß wie ein Wagen! Und dieses Geschoss ist einfach quer hindurchgegangen.«
»Dann müsste der Pfeil irgendwo liegen?« Artax bewegte seine Arme in weiten Kreisen und prüfte den Sitz der Rüstung. »Finde ihn, Ormu. Ich will sehen, was für ein wunderliches Geschoss das ist, und Langarm bitten, noch mehr davon zu fertigen. Der Rote wird nicht der letzte Drache sein, dem wir begegnen.«
»Sobald der Tag anbricht, werde ich mich auf die Suche machen.«
Artax schnallte den Schwertgurt mit seiner verfluchten Klinge um, jener Waffe, die ihm den Namen König Geisterschwert und einen dunklen Ruf eingebracht hatte. Jetzt war er froh, sie bei sich zu haben.
»Ihr rüstet Euch für den Kampf?«
»Ich werde nachsehen, was es mit den Pferdemännern auf sich hat.« Artax nahm den Maskenhelm von seinem Platz neben dem verloschenen Feuer. Das Metall war eiskalt. Langarm hatte ihn noch einmal verändert vor einigen Wochen, nun war er prächtiger als je zuvor. Er sah aus wie ein Löwenhaupt mit wallender Mähne aus gehämmertem Gold. Wenn er ihn trug, ragte über Artax’ Stirn ein Oberkiefer mit Reißzähnen aus Elfenbein, so als hätte er, wie manche Jäger es taten, einen Helm aus dem Schädel des Löwen gemacht und ihn sich mit der Mähne auf den Kopf gesetzt. Unter den Reißzähnen aber lag eine Maske auf seinem Gesicht, mit Löchern für die Augen und schmalen Atemschlitzen unter der Nase. Sie zeigte das fein geschnittene Antlitz eines bärtigen Mannes. Es war ein Meisterwerk der Handwerkskunst und Magie.
Die Maske lag fast wie eine zweite Haut auf dem Gesicht des Unsterblichen. Klappte er das Visier zu, presste es seinen Vollbart eng gegen seine Kehle. Ein Gefühl, als versuchte ihn jemand zu würgen. Doch so unbequem der Helm zu tragen war, vermochte ihn keine Waffe zu durchdringen.