Einen Moment lang war er versucht, sein Schwert zu ziehen und im Sturzflug anzugreifen. Artax wusste, dass es die verfluchte Klinge war, die solche Gedanken in seinen Kopf pflanzte. Er stellte sich vor, welchen Schaden die Löwenkrallen und die metallenen Klingen anrichten würden. Doch er war nicht gekommen, um ein Blutgericht zu halten. Der Silberlöwe verstand seine Absicht und trug ihn weiter nach Osten, wo das Silber am Horizont von blassem Rosa verdrängt wurde. Er musste herausfinden, wohin die Pferdemänner unterwegs waren.
Er hatte die Pferdedaimonen wohl drei oder vier Meilen hinter sich gelassen, als sich der Horizont zu bewegen begann. Schatten krochen aus dem Glutball der Sonne, der bereits zu einem Viertel sein Haupt erhoben hatte. Das stetig zunehmende Licht blendete Artax. Etwas Dunkles ergoss sich über das blendende Weiß der Ebene. Stetig vorwärtskriechend. Ein Heer, viel größer als jenes, das die Herrscher der sieben Königreiche in die Eiswüste geführt hatten.
Artax trieb seinen Löwen in Gedanken zu größter Eile an. Der Wind sang in seiner goldenen Mähne. Kraftvoll schlugen die weiten Schwingen auf und nieder und brachten ihn dem näher, das ihn mit tiefstem Entsetzen erfüllte und er zugleich doch unbedingt sehen musste. Dies also war ihre Zukunft!
Rotes Morgenlicht funkelte über Tausende Speerspitzen und ließ sie aussehen, als wären sie gerade erst in Blut getaucht worden. Unzählige Banner erhoben sich über die marschierenden Massen. Einzelne, riesige Gestalten stachen aus der Heerschar hervor wie Felstürme, die sich aus der Brandung erhoben.
Immer schneller gewann alles an Konturen, obwohl die Sonne Artax immer noch in den Augen brannte. Die Riesen, die an der Brücke gekämpft hatten, waren ein Nichts im Vergleich zu dem, was er dort sah. Diese Gestalten inmitten des Heeres waren wie wandelnde Türme. Flankiert wurden sie von unübersehbaren Reiterscharen, Geschwadern, die Hunderte von Streitwagen umfassten, und endlosen Marschkolonnen von Speerträgern. Eine Karawane, groß wie eine Büffelherde, folgte den Kriegern. Und ganz an den äußersten Flanken des Heeres entdeckte er Segler, die über das Eis dahinschossen! Schon der zehnte Teil dieses Heeres würde genügen, sie zu zermalmen.
In Artax’ Kopf überschlugen sich die Gedanken. Bis zur Mittagsstunde würde das Daimonenheer Wanu erreichen. Er musste augenblicklich umkehren und die anderen Unsterblichen warnen. Wenn sie sofort zum magischen Tor zurückeilten, dann vermochten sie vielleicht noch zu entkommen. An diesem Morgen hatte die Sonne ihrer aller Tod geboren.
Ein schriller Schrei ließ ihn endlich den Blick vom marschierenden Heer der Daimonen wenden. Artax sah hinauf in den Himmel und erblickte geflügelte Schatten, die aus dem Licht auf ihn hinabstießen: Adler, groß wie Stiere. Und mitten unter ihnen ritt eine rot gewandete Gestalt auf einem rabenschwarzen Hengst mit Schwingen, weiter noch als die seines Löwen.
Auf Löwenschwingen
Der Löwe reagierte, ohne dass Artax ihm in Gedanken einen Befehl gegeben hätte. Während der Unsterbliche noch den unheimlichen Reiter anstarrte, kippte der Silberlöwe über den linken Flügel ab und ging in einen Sturzflug, der Artax so fest gegen die hohe Lehne seines Sattels presste, dass er kaum noch zu atmen vermochte. In rasender Geschwindigkeit stürzten sie der Eisebene entgegen. Artax sah sich dort schon in Gedanken zerschellen, als ihm bewusst wurde, dass der Löwe dies vielleicht als einen Befehl auffassen mochte.
Plötzlich weitete der Löwe seine Schwingen, die er für den Sturzflug eng an seinen Leib gepresst hatte. Ein schreckliches Klirren und Kreischen fuhr durch den metallenen Leib. Rechts und links schossen zwei Adler an ihnen vorbei. Auch sie weiteten die Schwingen, um den Sturzflug abzufangen. Der gefrorene Boden lag vielleicht noch vierzig Schritt unter ihnen, als der Löwe versuchte, mit kräftigen Flügelschlägen an Höhe zu gewinnen. Ein einziger Blick nach oben genügte, um Artax zu zeigen, dass der Sturzflug nichts geholfen hatte. Noch immer kreisten sieben Adler über ihnen, und inmitten der Raubvögel ritt der rotgewandete Daimon, auf seinem Hengst stehend. Weißblondes Haar flatterte um sein fein geschnittenes Gesicht. Auch er führte eine Lanze wie Artax, und er hob sie zum Gruß, als er den Blick des Unsterblichen auf sich spürte.
Ein Schnabelhieb traf Artax’ Helm, und Krallen zogen kreischend über eine der Schwingen des Löwen. Überall um sie herum waren schlagende Flügel. Die Luft war erfüllt von schrillen Schreien. Plötzlich drehte sich der Löwe zur Seite weg und führte eine Rolle durch. Seine goldenen Flügel schlugen hart auf die Schwingen eines Adlers. Artax stach mit seiner Lanze blindlings in das braune Federgestöber, dabei bekam sein Helm einen zweiten Treffer, und die Ohren dröhnten ihm vom metallischen Klang. Er sah einen der großen Vögel dem Boden entgegenstürzen. Ein seltsam verdrehter Flügel flatterte hilflos im Wind, während der zweite Flügel auf und nieder schlug, ohne den Adler retten zu können.
Ein Schnabel schnappte nach dem rechten Arm des Unsterblichen. Das weiche Leder der Rüstung verhärtete sich, kaum dass Druck darauf ausgeübt wurde. Was sich eben noch wie eine zweite Haut an ihn geschmiegt hatte, wurde zu einer festen Röhre, die der zerrende Schnabel nicht zu durchdringen vermochte. Doch nun vermochte Artax seinen Arm auch nicht mehr zu beugen – starr, mit vorgestreckter Lanze stand er von seinem Körper ab, während Schwingen über seinen Helm wischten.
Die goldenen Löwenflügel peitschten in das Knäuel der Riesenadler, das sie umschwirrte. Federn stoben auf. Plötzlich hatte Artax wieder freie Sicht auf den Himmel. Sie waren durch die Formation der Adler hindurchgestoßen. Ohne zustoßenden Schnäbeln und den Krallen ausgesetzt zu sein, wurde das Leder seiner Rüstung wieder geschmeidig, und er konnte seinen Arm wieder anwinkeln. In diesem Moment drehte der Löwe so plötzlich nach links ab, dass Artax hart in seine Gurte geschleudert wurde. Eine Lanzenspitze stieß knapp an ihm vorbei und riss einige der goldenen Strähnen vom Haupt des Löwen. Der rotgewandete Reiter auf dem geflügelten Pferd zog knapp über ihnen hinweg. Ihm folgte ein Adler, dessen Krallen sich in die hohe Lehne des Löwensattels gruben. Kraftvoll mit den Flügeln schlagend, versuchte er, den Sattel vom Löwen zu reißen.
Artax stieß mit seiner Lanze nach hinten und spürte, wie der Stahl auf Widerstand traf. Der Adler ließ von ihm ab. Trudelnd und eine sprühende Blutspur hinter sich herziehend, stürzte das große Tier in die Tiefe.
Doch Artax empfand keinen Triumph, nur Erleichterung. Die Adler waren Geschöpfe voller Anmut, ebenso wie das geflügelte Pferd. Sie sollten nicht in Schlachten ziehen!
Er nutzte die kurze Angriffspause und blickte nach Wanu. Dort schien alles ruhig zu sein, noch lagen die Schatten der Nacht über der Stadt. Artax wand sich im engen Gurtzeug, um nach hinten zu blicken. Der Himmel war so weit … und leer. Flog der Rotgewandete unter ihm und versuchte, dem Löwen seine Lanze in den Leib zu rammen?
Er hörte Flügelschlagen, und einen Augenblick später stieg der rote Reiter dicht neben ihm auf gleiche Höhe. Seine Lanze hing in einer Schlinge vom seltsamen Sattel seines Himmelspferdes. Nun führte er eine lange, glänzende Schwertklinge.
Der Silberlöwe drehte zur Seite hin ab und wollte Abstand zu ihrem Gegner gewinnen, doch das geflügelte Pferd folgte dem Manöver ohne Mühe. Artax dachte an die seltsame Rolle, die sein metallener Gefährte vorhin vollführt hatte, ein Flugmanöver, das ihm kein Geschöpf aus Fleisch und Blut nachmachen konnte. Augenblicklich setzte der Löwe den Gedanken in die Tat um. Wie ein Fass rollte er nach links weg, und seine metallenen Flügel peitschten in die schwarzen Schwingen des fliegenden Rosses.
Für einen Moment hing Artax mit dem Kopf nach unten im Gurtzeug, dann war die Rolle vollendet. Schwarze Federn wirbelten in der Luft. Der Hengst des rotgewandeten Kriegers war ins Trudeln geraten. Der Reiter jedoch beugte sich, noch immer auf dem Rücken des Hengstes stehend, tollkühn weit vor und drosch mit seinem Schwert auf die linke Schwinge des Löwen ein. Funken stoben auf, Metall kreischte, und mit Schrecken sah Artax, dass der rote Reiter die Spitze der Löwenschwinge abgetrennt hatte. Etwas, das aussah wie flüssiges Glas, perlte aus dem zerfetzten Metall. Sich schneller und schneller um die eigene Achse drehend, schoss der verletzte Silberlöwe der Ebene entgegen. Blau und Weiß wechselten in rasender Folge, Himmel und Eis. Artax wurde von der Fliehkraft, die an ihm zerrte, halb aus dem hohen Sattel gerissen. Immer mehr goldene Federn rissen von dem beschädigten Flügel.