Dann spreizte der Löwe seine Schwingen auf. Ein Ruck lief durch seinen Körper, und Artax wurde gegen die hohe Lehne geschleudert. Ihm schwanden fast die Sinne, als es einen zweiten, noch heftigeren Schlag gab. Eissplitter sprühten auf, Metall keuchte und bog sich durch. Artax stürzte in die Gurte, umgeben von einem Wirbel aus goldenen Federn.
Der Löwe hatte wieder festen Boden unter den Füßen. Und er lief. Hinkend zwar, aber noch strebte er Wanu entgegen, wo nun Hörner erklangen. Die Wächter auf den Ankertürmen mussten gesehen haben, was vorgegangen war.
Nur das Gurtzeug hielt Artax noch aufrecht. Jeder einzelne Knochen in seinem Leib schmerzte, und sein Kopf dröhnte.
Reiter kamen ihm entgegen. Verschwommen erkannte er Madyas unter ihnen. »Wir müssen zurück«, stieß er aus, als sie ihn fast erreicht hatten. »Die Daimonen kommen. Tausende von ihnen.«
Von Adlern und Häschen
Shaya verstand nicht, was vor sich ging, und niemand machte sich die Mühe, einer vermeintlichen Trosshure irgendetwas zu erklären. Das Heer der Sieben Reiche war auf der Flucht. Gestern noch hatten sie ihren Sieg gefeiert, und ihre Gefährtinnen hatten gute Geschäfte gemacht. Während Shaya sich um die zahlreichen Verwundeten gekümmert hatte, hatten sie den Siegern Vergnügen bereitet. Die dicke Ninwe mit dem rot gelockten Haar, Kira, die hagere Wortführerin ihrer Gruppe, die unverdrossen ihren Kupferkessel auf dem Rücken schleppte, und all die anderen, die doch noch mitgekommen waren, obwohl die Werber sie vor dem eisigen Winter gewarnt hatten.
Im ersten Morgenlicht hatten die Hörner Alarm gerufen, und seitdem ging alles durcheinander. Es hieß, Tausende Daimonen seien auf dem Weg zu dieser verfluchten Stadt am Ende der Welt und dass sie versuchen würden, dem Heer den Rückweg zur Brücke über den Kuñi Unu, den dampfenden Fluss, abzuschneiden. Ein Tagesmarsch nur, und sie wären in Sicherheit!
Aber dieser Tagesmarsch würde ein gnadenloses Wettrennen werden, wie es schien. Die Männer marschierten in bedrücktem Schweigen. Immer wieder sahen sie zum Himmel hinauf. Angeblich gab es auch fliegende Daimonen.
»Na, das war der kürzeste Feldzug meines Lebens«, japste Ninwe kurzatmig. Die korpulente Konkubine hatte Mühe, mit ihnen Schritt zu halten. Seit der Nacht trug sie einen teuren Pelzmantel. Die Götter allein wussten, wem sie den Kopf verdreht hatte, um an ein solch kostbares Kleidungsstück zu kommen. Sie hüllte sich in bedeutungsschweres Schweigen und war schon den ganzen Morgen nicht dazu zu bringen zu verraten, wer ihr Gönner war.
»Spar dir lieber deinen Atem! Den wirst du noch brauchen, wenn du nicht zurückfallen willst.« Kira bedachte sie mit einem abfälligen Blick. Die Wortführerin der kleinen Frauenschar ging gebeugt unter ihrem Kupferkessel. Sie hatte nur eine Decke um ihre Schultern geschlungen, und ihr Gesicht und ihre Hände waren krebsrot vom Frost.
»So weit wie du komme ich noch lange!«, entgegnete Ninwe gut gelaunt. »Auch wenn ich nicht so hart und dünn wie eine Schwertklinge bin.«
Kira schnaubte verächtlich. »Was glaubst du, was Krieger lieber mögen, eine schlanke Klinge oder eine bauchige Ölamphore?«
»Tja, wenn ich mir das kostbare Gewand betrachte, in das du dich hüllst, dann kenne ich die Antwort«, sagte eine der anderen Frauen. Ein paar kicherten gehässig.
»Ich hab mir jede von euch gemerkt«, schnappte Kira. »Kommt mir heute Abend nicht angeschlichen und fragt nach was Warmem aus meinem Kessel. Ihr könnt ja unter Ninwes Mantel schlüpfen. Vielleicht schmeckt euch halb gefrorenes Trockenfleisch ja besser, wenn ihr euch an die Dicke kuschelt. Ich jedenfalls …«
Ein schriller Schrei schnitt Kira das Wort ab.
Shaya blickte zum Himmel hinauf. Ein Schwarm riesiger Adler zog über sie hinweg und hielt auf die Brücke zu, die nur knapp eine Meile entfernt aus der Nebelwand des Kuñi Unu ragte. Mitten unter ihnen flog eine rot gewandete Gestalt auf einem geflügelten Pferd. Ein Raunen ging durch das Heer. Jeder hatte es jetzt eiliger.
Der halbwegs geordnete Rückzug könnte jeden Augenblick in blinde Flucht umschlagen, befürchtete Shaya. Sie hatte so etwas schon auf den Feldzügen ihres Vaters am Seidenfluss gesehen. Wie die Schwachen niedergetrampelt wurden, wenn sie nicht schnell genug aus dem Weg kamen. »Götter helft!«, flüsterte sie leise und ging schneller.
»Schöne Vögel!«, sagte Kira düster. »Hab als Kind gerne den Bussarden über den Dorfäckern zugesehen. Sie haben dort Häschen gejagt. Und es waren immer die fetten Häschen, die sie zuerst erwischt haben.«
Ninwe lachte ein wenig gezwungen. »Ich bin ein zu fettes Häschen. Mich kriegen nicht einmal diese Adler in die Luft gehoben.«
»Aber sie haben die Tiere doch nicht in die Luft gehoben«, trumpfte Kira auf. »Sie haben sie mit ihren Fängen fest zu Boden gedrückt und dann genüsslich mit ihrem Hakenschnabel zerfleischt.«
»Das reicht!«, sagte Shaya scharf. »Wir helfen einander. Und wir werden alle dieser verdammten Eiswüste entkommen. Es ist nicht mehr weit. Haben wir erst die Brücke passiert, sind es nur noch ein paar Meilen, und wir haben die Goldenen Pfade durch die ewige Nacht erreicht. Dann trennen uns nur noch ein paar Schritt von warmen Quartieren.«
»Bist du schon mal mit einem fliehenden Heer marschiert?« Alle Gehässigkeit war aus Kiras Stimme gewichen.
»Nein.«
»Merkt man.«
Schweigend schritten die Frauen neben der langen Kolonne der zurückflutenden Truppen. Keiner der Krieger scherzte mit ihnen so wie auf dem Weg nach Wanu. Die Männer starrten verdrossen vor sich hin oder blickten furchtsam zum Himmel. Shaya lauschte dem Gespräch zweier Krieger, dass am Morgen einer der Unsterblichen schwer verwundet worden war, als er sich den geflügelten Daimonen entgegengestellt hatte. Tatsache war, dass sich keiner der Herrscher auf ihren geflügelten Löwen blicken ließ.
Shaya dachte an Aaron. Hatte er sich den Daimonen gestellt? Oder war alles nur ein Gerücht? Gewiss stimmte nicht, was geschwatzt wurde! Es gab zu viele Geschichten. Shaya mochte nicht glauben, dass Subai die riesige Echse erlegt hatte, die sie bei den Ankertürmen in Wanu gesehen hatte. Eine solche Heldentat entsprach ganz und gar nicht dem Wesen ihres Bruders. Aber offenbar glaubten es alle anderen. Sogar ihr Vater, der Unsterbliche Madyas.
Sie hatte sich gestern Nacht von den feiernden Steppenreitern ferngehalten. Auch wenn sie in ihren abgetragenen Kleidern und mit einer Wolldecke um die Schultern nicht im Entferntesten der stolzen Kriegerprinzessin ähnelte, die sie einst gewesen war, wollte sie kein unnötiges Risiko eingehen.
Auch jetzt versuchte sie, so gut wie möglich unsichtbar zu bleiben. Steppenreiter ritten nur wenige Schritt entfernt an den Flanken der Marschkolonne, die sich im Eilschritt auf die Brücke zubewegte. Der Zug der Flüchtenden zog sich über mehr als zwei Meilen. Die Frauen um Shaya hatten sich im vorderen Drittel der Kolonne eingereiht. Vor ihnen marschierten die Krieger aus Valesia. Hinter ihnen gingen Männer von den Schwimmenden Inseln. Sie litten entsetzlich unter der Kälte. Immerzu lief ihr Unsterblicher an seinen Männern vorbei und feuerte sie an. Shaya wusste, dass es viele nicht bis zum Weltentor schaffen würden.
Noch waren die Daimonen nur unstete Schatten vor dem gleißenden Weiß der Ebene. Sie sammelten sich hinter ihnen und an ihrer linken Flanke, parallel zur Marschsäule. Auch sie hatten Reiter geschickt. Sie kamen nicht nah genug, um sie deutlich zu erkennen. Doch ihr Anblick weckte eine Unruhe, die sich Shaya nicht erklären konnte.