Dass sie hier waren, um sie zu jagen, war es nicht, was ihr eine solche Angst einjagte. Bisher hatte ihr niemand das Herz einer Kriegerin rauben können. Weder Muwatta, dem es nur darum gegangen war, sie zu demütigen, noch Aaron, dessen Liebe sie noch tiefer verletzt hatte als alles, was ihr der Unsterbliche von Luwien angetan hatte. Sie hatte viele Schlachten geschlagen. Der Anblick von Feinden allein schreckte sie nicht.
Doch diese Reiter, die gerade so weit entfernt blieben, dass sie sie nicht deutlich erkennen konnte, hatten etwas an sich, das Shaya zutiefst erschreckte. Sie waren widernatürlich! Schlimmer als die grauen Riesen, die verwachsenen Zwerge und die gewaltige Echse, die sie in den letzten vierundzwanzig Stunden zu sehen bekommen hatte.
Tausendstimmiges Geschrei von der nahen Brücke ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken. Der Angriff hatte begonnen: Shaya sah, wie ein Schwarm Adler auf die Flüchtlinge hinabstürzte, Männer mit ihren Krallen packten und sie hoch in die Luft rissen, um sie im nächsten Augenblick in die grauen Fluten stürzen zu lassen, in denen es vor Ungeheuern nur so wimmelte.
Auf der Brücke entstand ein unbeschreibliches Gedrängel. Jeder war sich selbst der Nächste. Ohne Gnade schoben und stießen die Krieger. Die Schwächeren und die Pechvögel wurden niedergetrampelt oder in die Fluten gestoßen. Es gab kein Geländer an den Seiten der Brücke. Wer abgedrängt wurde, der stürzte in den Fluss.
Shaya spürte, wie der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Das Donnern zahlloser Hufe erklang. Wie ein lebender Wall kamen Hunderte Reiter dem dünnen Schutzschirm, den die Steppenreiter bildeten, entgegengeprescht.
Alarmrufe erschollen entlang der Marschkolonne. Trotz der Angriffe der Adler drängten mehr und mehr Krieger auf die Brücke, denn es war klar, wer am Ufer blieb, der würde von den Reitern gnadenlos in die Fluten getrieben werden.
Jetzt erkannte Shaya, was ihr auf die Entfernung verborgen geblieben war, und für einige Herzschläge erstarrte sie in ungläubigem Entsetzen. Was für Götter herrschten über die Daimonen? Was für einen düsteren Scherz hatten sie sich mit diesen Geschöpfen erlaubt? Shaya wusste sehr wohl, was die anderen Völker Daias über die Ischkuzaia erzählten. Dass sie ihre Kinder im Sattel gebaren und die Kleinen erst reiten und danach laufen lernten. Dass die Steppenreiter eins mit ihren Pferden waren, die sie mehr liebten als ihre Frauen. Es erschien ihr, als hätten die Daimonengötter diesen Spruch Wirklichkeit werden lassen: Ross und Reiter waren eins geworden.
Die anderen Frauen hatten längst zu laufen begonnen. Auch sie hatten gesehen, was dort angeprescht kam. Mochten einige vielleicht noch überlegt haben, sich statt einem ungewissen Schicksal auf der Brücke der Gnade der Sieger zu überlassen, hatte der Anblick der Pferdemänner sie eines Besseren belehrt. Dieser Feldzug hier war anders als jeder Krieg, den sie bisher erlebt hatten. Daimonen würden keine Menschenfrauen brauchen.
Flüchtende Steppenreiter preschten ohne Rücksicht in das Gedränge vor der Brücke. Shaya drückte sich an einer Maultierkarawane entlang, deren Tiere in Panik schrien, und holte Ninwe ein, die zu willenlosem Treibgut inmitten des drängelnden Menschenmeeres geworden war. Sie packte ihre Gefährtin und stützte sie.
Vor ihnen lag das abschüssige Wegstück zur Brücke. Krieger mit Gesichtern, auf die Fratzen von Ungeheuern tätowiert waren, drängten sich dort hinab. Mit ihren Schilden stoßend und die Speerschäfte wie Knüppel nutzend, kämpften sie sich voran. Als ein Krieger mit einer Löwentätowierung stürzte, riss er auch seinen Vordermann zu Boden. Dann noch einen und noch einen. Sofort schloss sich die Lücke im Gedränge wieder. Gellende Schreie gingen im Fluchen und den Verzweiflungsrufen derer, die noch aufrecht standen, unter.
Wieder und wieder stießen die Adler zur Brücke hinab. Jedes Mal, wenn einer von ihnen anflog, versuchten die Verzweifelten auf dem engen Übergang auszuweichen. Dabei stießen und zerrten sie ohne Gnade, und etliche Männer stürzten ins Wasser, in dem zwischen schäumender Gischt und den schnappenden Schnäbeln der Raubfische lange Blutschlieren dem Meer entgegentrieben.
Nur mithilfe ganzen Körpereinsatzes und dicht eingekeilt zwischen Kriegern erreichten die beiden Frauen endlich die Brücke. Ein Unsterblicher mit langem, blondem Haar hatte Bogenschützen zum Ufer befohlen, die versuchten, die Adler von der Brücke fernzuhalten, doch noch während die Krieger sich formierten, erschien ein Daimon auf einem geflügelten Pferd aus den Nebelschwaden über dem Fluss. Ein Reiter, ganz in Karmesinrot gewandet. Er stand auf dem Pferderücken und ließ einen Hagel aus leichten Wurfspeeren auf die Verteidiger niedergehen.
Ein Stück voraus sah Shaya Kira. Umringt von den anderen Frauen hatte sich ihre Gefährtin fast bis zur Mitte der Brücke durchgekämpft, als die Adler erneut angriffen. Letzte Bogenschützen am Ufer schossen vereinzelte Pfeile ab, die die Raubvögel jedoch nicht aufzuhalten vermochten. Die Schreie der Frauen klangen schriller als die der Männer. Wieder setzte das gnadenlose Stoßen und Drängen auf der Brücke ein, als jeder verzweifelt versuchte, den Fängen der Adler zu entkommen.
»Ihr Götter, schützt sie«, stammelte Ninwe, doch die Götter schienen anderes zu tun zu haben, als auf die frommen Bitten einer Hure zu hören.
Kira blieb stehen, obwohl ein Adler genau auf sie zukam, ja, sie drohte dem Vogel mit erhobener Faust. Eine Geste, die ebenso tapfer wie sinnlos war. Dann, im letzten Augenblick, warf sie sich zu Boden. Die Krallen trafen den Kupferkessel, den sie auf ihrem Rücken trug. Er schützte Kira, doch hatte sie ihn zu fest auf ihr kümmerliches Bündel geschnallt. Schreiend wurde sie emporgehoben, und der Adler verschwand mit ihr im Nebel.
Ninwe stammelte unzusammenhängende Worte und wäre wohl einfach stehen geblieben, hätte Shaya sie nicht mit sich gezogen.
»Sie war immer diejenige, die sich durchs Leben gekämpft hat«, schluchzte Ninwe. »Nichts konnte sie erschrecken. Sie kann doch nicht einfach …«
»Hebt die Speere!«, erscholl hinter ihnen ein lauter Befehl. Es war eine Stimme, die Shaya unter Tausenden erkannt hätte. Der Unsterbliche Aaron!
»Seid wie ein Igel! Wollen wir einmal sehen, ob die Adler es noch wagen, euch zu packen, wenn sie dafür einen Wall von Eisenspitzen durchbrechen müssen.«
Seine Anwesenheit und seine ruhige Stimme veränderten alles. Die Männer, die eben noch jeder für sich gekämpft hatten, fassten neuen Mut. Sie hoben die Speere, und tatsächlich wichen die Adler dem Wall aus Eisen- und Bronzespitzen aus.
»Nehmt die Frauen in eure Mitte! Stützt die Schwachen und Verwundeten! Ein paar Meilen noch, und wir sind in Sicherheit!« Die Stimme war näher gekommen.
Shaya zog ihre schäbige Decke über Schultern und Haar und wandte den Blick zu Boden. Er durfte sie nicht entdecken. Das Heer und sein Königreich brauchten ihn mehr denn je. Die Sorge um sie und der Traum ihrer Liebe durften ihn nicht von seinen Pflichten ablenken.
Die Kriegerkolonne hatte zu einem regelmäßigen Marschtritt zurückgefunden, und geschützt inmitten des Speerwalls strebte Shaya dem jenseitigen Ufer entgegen. Aarons Stimme erklang nun in einiger Entfernung. Offenbar wollte er den Angriff der Pferdemänner aufhalten. So war er, seit sie ihm das erste Mal begegnet war. Stets dachte er zuletzt an sich. Wie lange würde er diesen selbstmörderischen Mut überleben? Oder wollte er am Ende gar nicht mehr länger leben? Verzweifelt drehte Shaya sich um und versuchte, einen letzten Blick auf ihn zu erhaschen, doch alles, was sie sah, war die goldene Mähne seines Löwenhelms und sein prächtiger, roter Umhang.
»Du weinst ja«, sagte Ninwe.
Shaya machte eine abwehrende Geste. »Es ist nichts …«
»Vielleicht ist Kira ja davongekommen. Sie hat immer Glück …«
Die Prinzessin nickte stumm. Sie würde kein Wort darüber verlieren, dass es nicht Kira war, der ihre Tränen galten.