»War nur überrascht«, entgegnete Artax einsilbig. Er durfte jetzt nicht darüber nachdenken! Sein ganzes Leben hätte eine andere Wendung genommen, hätte er Shaya als Prinzessin aus Ischkuza heiraten können. Niemand im Reich hätte seine Stimme erhoben, hätte er die Tochter eines Unsterblichen in seinen Palast geführt. »Besorge Köcher mit Wurfspeeren. Ich muss noch ein paar letzte Befehle erteilen, damit die Truppen einen geordneten Rückzug antreten.«
Madyas lächelte süffisant. »Du meinst wohl, du willst dich von deinen Männern verabschieden. Ich werde dasselbe tun. Ich möchte nicht, dass Subai das Kommando übernimmt, wenn mir etwas zustoßen sollte.«
Artax sah ihm verblüfft nach. Dieser Barbar steckte voller Überraschungen. Kopfschüttelnd machte er sich auf die Suche nach Ormu. Sein Hauptmann stand bei den Bogenschützen.
»Du wirst einen Boten für mich zum anderen Ufer schicken«, begann Artax ohne Umschweife. »Gib ihm eine Eskorte mit, damit er durch das Gedränge auf der Brücke kommt. Diese Nachricht muss durchkommen! Der Bote soll Vibius, den Valesier, der die Katapulte befehligt, ausfindig machen und ihm Folgendes ausrichten …«
»Das könnt Ihr nicht tun!«, begehrte der Jäger aus Garagum auf. »Das ist Selbstmord!«
»Wir werden jetzt nicht darüber debattieren, ob es einem Unsterblichen gegeben ist, sich selbst das Leben zu nehmen«, entgegnete Artax lächelnd. »Es ist der einzige Weg. Du übernimmst hier das Kommando. Beginne sofort mit dem Rückzug zur Brücke.« Er sah über die Schlachtlinie der Speerträger hinweg. Die Riesen waren inzwischen bedrohlich nahe gekommen. »Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Unsere Männer können die Riesen nicht aufhalten. Sorge dafür, dass sie lebend über die Brücke kommen und der verdammte Valesier an den Katapulten seine Arbeit tut.«
»Herr!« Ormu hatte es bisher stets vermieden, ihn so anzureden. Der Bogenschütze zog etwas aus einem kleinen Lederbeutel an seinem Gürtel. »Das hier sollte ich für Euch suchen.« Er hielt ihm eine merkwürdig aussehende Pfeilspitze hin, in deren Tülle ein zersplitterter Holzschaft steckte, der kaum so lang wie sein kleiner Finger war. »Ich glaube, es war dieses Geschoss, das den Drachen getötet hat. Es ist danach noch durch sieben Hauswände geschlagen. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Vielleicht sind die Götter ja doch hier, um uns zu helfen?«
Artax nahm das Metallstück an sich. Es sah eigenartig aus. Eher wie ein Nagel als wie das Blatt eines Pfeils. Ein Vierkant, der sich zu einer Spitze verjüngte. Am anderen Ende saß die Tülle.
»Es durchdringt alles, Stein, Metall … Einfach alles. Ich habe es ausprobiert«, erklärte Ormu ehrfürchtig. »Es muss von den Göttern geschaffen sein.«
Artax wünschte sich, sie hätten ein wenig mehr Zeit. Ein solcher Pfeil wäre genau das, was sie jetzt brauchten.
»Heh, Seelenbruder!«, rief Madyas ihn mit rauer Stimme. Der Unsterbliche stand neben seinem geflügelten Löwen und hielt seinen Maskenhelm mit dem Wolfsvisier im Arm. »Bist du bereit?« Links und rechts der hohen Rückenlehne des Reitsattels waren je zwei Köcher mit Wurfspeeren aufgehängt.
Ormu nahm einen Lederriemen vom Hals, an dem irgendein unkenntlicher Fellfetzen hing. »Nehmt das. Es hat mir immer Glück gebracht.«
Artax betrachtete das Fellstück mit gemischten Gefühlen. »Du wirst dein Glück noch brauchen.«
»Nicht so viel Glück wie Ihr!«
»Nun gut.« Er wickelte die Schnur auch um die seltsame Pfeilspitze. »Das gute Stück hat ihrem Drachen Unglück gebracht. Es wird mir als Talisman sicher gute Dienste leisten.« Er lächelte Ormu zu. »Mach dir keine Sorgen. Ich komme immer wieder.«
»Kommst du, oder soll ich alleine fliegen?«, rief Madyas.
Artax wandte sich ab und lief dem Löwen entgegen. Die Bogenschützen und die Männer aus der zweiten Reihe der Speerträger winkten ihm zu. Plötzlich rief jemand: »König Geisterschwert ist unbesiegbar!«
Andere griffen den Ruf auf. Unter dem Jubel seiner Männer schwang er sich auf die Kruppe des Silberlöwen und schlang einen breiten Ledergürtel um seine Hüften.
»Bereit?«, fragte Madyas.
»Bereit!« Artax legte den Talisman um seinen Hals und setzte seinen Helm auf. Jetzt, wo niemand mehr sein Gesicht sehen konnte, verblasste sein aufgesetztes Lächeln.
Langsam und schwerfällig setzte der Silberlöwe sich in Bewegung. Mit zwei Kriegern und den ganzen Wurfspeeren war er völlig überladen. Vielleicht würde er nicht einmal abheben. Wenn das geschah, waren sie tot.
Artax umklammerte den Talisman auf seiner Brust und murmelte ein leises Gebet, während die Rufe seiner Krieger ihn begleiteten. »König Geisterschwert ist unbesiegbar!«
Der Todesritt
Eine Gasse bildete sich in der Doppelreihe der Speerträger, und der Löwe stürmte den Pferdemännern auf der Ebene entgegen. Schwer hoben und senkten sich seine silbernen Flügel in kraftvollem Schwung. Feiner Pulverschnee stob davon. Hinter ihnen schlossen sich die Reihen der Krieger.
Artax blieb, mit dem Gürtel an die hohe Sattellehne gefesselt, nur der Blick zurück. Was vor ihnen lag, konnte er nicht sehen, und er war nicht traurig darum.
Ormu war in die vorderste Reihe der Krieger getreten und sah ihm so traurig nach, als wäre er sich gewiss, dass sie einander niemals wiedersehen würden. Dann rief er einen Befehl, und die Krieger Arams zogen sich langsam in Richtung des Flussufers zurück.
Immer noch trommelten die Pfoten des Löwen auf den gefrorenen Boden. Sie hatten die Reihe der Krieger mehr als zweihundert Schritt hinter sich gelassen, als rechts und links von ihnen die ersten Pferdemänner auftauchten. Manche sahen den metallenen Löwen mit weit aufgerissenen Mündern an, andere waren geistesgegenwärtiger und hoben ihre Bögen. Bald umschwirrten sie Pfeile wie zornige Hornissen. Madyas brüllte etwas in der Sprache der Steppe, die Artax nicht verstand. Ein Geschoss streifte Artax’ Löwenhelm, und ein leiser, sirrender Ton hallte in seinen Ohren.
Und immer noch hatte der Löwe nicht abgehoben. Immerhin machte er jetzt weitere Sätze.
Etliche Pferdemänner hatten bereits gewendet und lieferten sich nun ein regelrechtes Rennen mit dem Löwen. Drohend erhoben sie ihre Speere und Schwerter.
Ein gellender Schrei erklang. Artax sah einen Pferdemann in die Knie brechen. Seine ganze Brust war eine einzige klaffende Wunde.
»Flügelspitze!«, rief Madyas von vorne. »Der verdammte Bastard ist uns zu nahe gekommen.«
Die anderen Pferdemänner reagierten sofort und hielten nun mehr Abstand. Noch mehr Pfeile gingen auf den Silberlöwen nieder. Artax riss einen Arm hoch, um die Sehschlitze seines Maskenhelms abzuschirmen. Gleich mehrere Geschosse trafen ihn in die Brust, doch keines vermochte seine Rüstung zu durchdringen.
Mehr Sorgen als die Pferdemänner machten Artax die Adler. Ihr Anführer, der Reiter auf dem geflügelten Pferd, hatte inzwischen bemerkt, was vor sich ging, und einer nach dem anderen schwenkten die großen Vögel vom Fluss ab und folgten nun ihnen.
»Lanze!«, rief Artax.
»Links!« kam die Antwort von Madyas. Er reichte die lange Waffe nach hinten.
Der Silberlöwe hatte einen flachen Hügel erreicht. Auf dem Weg die Flanke hinab steigerte er noch einmal sein Tempo. Und endlich hoben sie ab. Drei Herzschläge lang, dann gruben sich die schweren metallenen Pranken wieder in den vereisten Boden.
»Riesen voraus!«, schrie Madyas.
Artax konnte sich nicht weit genug zur Seite beugen, um zu sehen, wie nahe sie den turmhohen Gestalten schon gekommen waren. Er hatte nur Augen für die Adler, die ihnen folgten. Der vorderste war schon erschreckend nah.
Artax schob die Rechte durch die lederne Schlaufe in der Mitte der Lanze und ließ die Spitze der Waffe sinken, sodass sie gegen den Boden zeigte. Plötzlich brach der Löwe zur Seite aus. Madyas fluchte, und die Worte waren kaum über seine Lippen, als ein Baumstamm keinen halben Schritt von ihnen entfernt niederschlug. Der Löwe machte einen Hüpfer. Rechts und links von ihnen waren plötzlich Beine, mächtiger als die bauchigen Tempelsäulen von Isatami. Haare wie Drähte sprossen aus grobporiger Haut.