Die Pferdemänner fluchten. Ein Pfeil traf Artax, ohne etwas auszurichten, in die Brust, ein zweites Geschoss streifte seinen Helm.
Der Löwe begann sich im Steigflug um seine eigene Achse zu drehen. Das war das verabredete Zeichen für den valesischen Hauptmann Vibius! Sofern ihn der Bote, den Ormu losschicken sollte, auch erreicht hatte. Artax griff nach hinten. Seine Hände krallten sich in das zähe Leder der Sattellehne. Sein Oberkörper hing fast waagerecht, so steil stieg der Löwe aufwärts. Der Wind ließ seinen roten Mantel wie eine Fahne wehen. Er stieg höher als der Nebel über dem Fluss, dabei drehte sich der Löwe immer weiter um seine eigene Achse.
Artax war es schwindelig. Der wilde Flug auf dem Löwen berauschte und erschreckte ihn zugleich. Der Tod stand neben ihm. Ein Fehler, und nicht einmal die Rüstung der Devanthar würde ihn retten. Sein Vorgänger war auf diese Art gestorben. Aus dem Himmel gestürzt, von einer Daimonin in den Abgrund gestoßen.
Ein klammes Gefühl nistete bei diesen Erinnerungen tief in seinem Magen. Und zugleich fühlte er sich wie ein Gott! Es war ganz anders als das langsame Gleiten auf den Wolkenschiffen. Dieser rasende Flug hatte etwas Berauschendes. Während sich der Löwe immer weiter in den Himmel schraubte, breitete sich unter Artax die ganze Ebene aus. Von Wanu bis zur Nebelwand über dem Fluss und darüber hinaus bis zu jenem Ort, an dem sich bald das magische Tor öffnen würde.
Rauchfäden zogen unter ihm durch den Himmel. Und dann, endlich, erblühte die erste Feuerblume unten am Ufer! Weitere folgten binnen eines Atemzugs. Die Pferdemänner stoben angstvoll auseinander. Einem von ihnen brannte das Fell lichterloh. Ein Riese wurde von einem Ölkrug auf der Brust getroffen, und eine Kaskade aus Flammen ergoss sich über seinen Bauch hinab bis zu den Lenden. Wild schreiend stürmte er dem Fluss entgegen, warf sich auf die Knie und begann mit seinen gewaltigen Händen Wasser auf seinen Leib zu schaufeln. Doch das brennende Öl wollte nicht verlöschen.
Die anderen Riesen liefen davon, ohne darauf zu achten, was ihnen unter die Füße kam. Überall am Ufer herrschte Tumult. Die Marschsäulen, die ein Stück zurücklagen, verharrten.
Artax jubilierte, als eine neue Reihe von Feuerblüten entlang des Ufers aufstieg. Die Daimonen wichen zurück! Wenn es nun noch gelang, die Brücke in Brand zu setzen, dann waren sie gerettet! Nur ein halber Tagesmarsch trennte sie vom Weltentor. So schnell würden nicht einmal die Daimonen eine neue Brücke schlagen können.
Plötzlich war der rote Reiter wieder hinter ihm. Er hob sein Schwert zum Fechtergruß. Es war unheimlich, wie schnell und mühelos sein geflügelter Hengst ihn näher trug. Bald konnte Artax deutlich das ebenmäßige Gesicht des Daimons erkennen. Er sah gut aus mit seinen hohen Wangenknochen und der gewölbten Stirn. Nur seine Augen … Sie waren ganz schwarz. Nicht einmal ein schmaler weißer Rand umfasste sie.
Mit weit vorgestrecktem Schwert flog er ihm entgegen.
»Madyas!«, versuchte es Artax noch einmal. »Madyas! Wir müssen ausweichen!«
Unbarmherzig kam der Daimon näher, während der Löwe sich immer noch in Spiralen höher in den Himmel schraubte.
Artax dachte mit aller Kraft an den Löwen. Verzweifelt hoffte er darauf, Verbindung zu dem Geschöpf aus lebendem Metall aufzunehmen. Nichts! Sie gehorchten nur einem – dem Unsterblichen, der sie erwählt hatte.
Unbarmherzig kam die Schwertspitze näher und näher. Wie ein Pfeil, der auf ihn abgeschossen worden war, nur dass Artax hier im Gegensatz zu einem Pfeil, der schnell wie der Wind flog, Gelegenheit hatte, den nahenden Tod kommen zu sehen und das Gefühl seiner Wehrlosigkeit voll auszukosten. Die Klinge zielte direkt auf sein Gesicht.
Der Unsterbliche schloss die Augen. Er atmete schwer auf. Vor seinem Geiste erschien das Gesicht Shayas. Er sah sie auf dem Rücken des Wolkensammlers tanzen und vor dem Thron in seinem Palast im Gewand einer einfachen Dienerin niederknien, in dem man sie vor ihn gebracht hatte, damit er über sie Gericht hielt. Nie würde er den Augenblick vergessen, als sie für ihn von den Toten auferstanden war.
Mit der Erinnerung kam Zorn. Er durfte sich nicht einfach dem Schicksal überlassen! Er öffnete die Augen, und seine Hand fuhr hinab zu seinem Schwert. Unheimliche grüne Flammen spielten um die Klinge, als er die Waffe zog.
Deutlich sah er, wie sich die Augen des Daimons weiteten, doch schwenkte das fliegende Pferd nicht ab. Stahl klirrte auf Stahl. Vergeblich versuchte Artax, die Waffe des Daimons zur Seite zu drücken. Funken stoben von den Klingen. Auch der Daimon würde getroffen werden, aber er gab nicht auf.
Schwarze Schwingen streiften Artax’ Helm, und dann stieß das Schwert in sein Visier. Sengender Schmerz durchfuhr ihn. Die Welt kippte nach hinten. Blut spritzte ihm in die Augen. Er blinzelte dagegen an und sah nur noch verschwommen. Benommen begriff er, dass sich der Löwe aus dem Steigflug mit ausgebreiteten Schwingen nach hinten hatte fallen lassen.
Ein metallisches Kreischen durchdrang die Apathie, mit der Artax den Sturz akzeptiert hatte. Silberne Federn stoben auf. Der Daimon tat es erneut! Er hieb auf die Schwingen des Löwen ein. Doch das Tier aus lebendem Metall gab den Sturz auf. Es drehte sich überraschend. Seine schweren Flügel durchtrennten einen Vorderlauf des fliegenden Pferdes und schnitten tief in die Brust des Hengstes, der in Todesangst wieherte.
Der Daimon wurde aus dem Sattel gerissen, und nur die Fangleine rettete ihn davor, abgeworfen zu werden, als sein prächtiger Hengst trudelnd aus dem Himmel stürzte.
Rote Schleier blendeten Artax endgültig. Mehr spürte er den Nebel, als dass er ihn sah. Schmeckte die feuchte Wärme, als er einatmete und ihm wieder das Bild Shayas erschien, wie sie für ihn im Himmel getanzt hatte.
Mondschatten
Nodon kniete neben Mondschatten, der ihn so viele Jahre lang durch den Himmel Albenmarks getragen hatte. Der Pegasus lag auf dem eisigen Boden, eine Schwinge ragte steil auf, die andere war grotesk verdreht unter seinem Rumpf begraben. Ein Huf war abgetrennt. Nodon wandte den Blick von den bleichen Knochen und verfluchte den Befehl des Dunklen, der ihn hierhergeführt hatte. Und er verfluchte seine Kampfeslust! Hätte er den silbernen Löwen doch nur ziehen lassen. Was hätte diese Kreatur aus Metall mit ihren beiden Reitern schon auszurichten vermocht. Ihren Vormarsch ein wenig stören. Sein Kampf hatte nicht verhindert, dass die Reiter des Löwen das Zeichen für die Katapulte gegeben hatten.
»Es tut mir leid«, flüsterte Nodon und strich sanft über den mit Schaumflocken bedeckten Hals des Pegasus.
Der Hengst sah ihn mit weiten Augen an. Der Elf sah den Schmerz darin. Und den Willen, weiterzukämpfen, sein Leben noch nicht loszulassen. Nodon wusste nur zu gut, dass Mondschatten diesen letzten Kampf nicht gewinnen konnte. Zu schwer waren seine Verletzungen. Aber Mondschatten würde noch Stunden durchhalten. Er war stolz und störrisch, so war er immer schon gewesen.
»Verzeih mir meine Dummheit.« Nodon spürte, wie das Blut in der großen Halsader des Pegasus pulsierte, wie kräftig das Herz seines Gefährten noch schlug. »Ich hätte diesen Kampf meiden sollen. Er war unnötig.«
Mondschatten schnaubte, als wollte er widersprechen.
»Ja, du hast ihn besiegt, diesen Metalllöwen«, sagte Nodon beschwichtigend und zog den Dolch, den er am Gürtel trug. »Nichts, was Schwingen hat, kommt dir gleich, Mondschatten.« Sanft drückte er die Schneide der Waffe gegen die große Ader tief unten am Hals. Nodon war sich sicher, dass sein Freund den Schnitt nicht gespürt hatte. Dunkles Blut breitete sich in einer schnell wachsenden Lache unter seinem Leib aus.
»Du hast nie einen Kampf verloren, mein Freund. Danke, dass du mir erlaubt hast, mit dir durch die Himmel zu reisen und an deinem Ruhm teilzuhaben.«