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Ihr Bruder Subai war unter denen, die zum Löwen ritten. Ihm folgte sein persönlicher Standartenträger mit dem Feldzeichen, von dem drei weiße Rossschweife hingen. Er durfte sie nicht sehen! Shaya wurde langsamer. Laufende Männer überholten sie. Sie erkannte Ormu und einige vertraute Gesichter aus Aarons Leibwache, den Kushiten.

Die Prinzessin musste sich eingestehen, dass Ninwe recht hatte. Es war dumm hierherzukommen, wenn auch aus ganz anderen Gründen, als ihre Gefährtin annahm. Niemand von denen durfte sie sehen! Shaya zog die Decke, die um ihre Schulter und ihren Kopf geschlungen war, tiefer in ihr Gesicht und zupfte an dem groben Wollschal, bis er ihre Lippen bedeckte.

Sie hatte die Absturzstelle fast erreicht, als ihr ein Reiter mit drohend gesenktem Speer entgegenpreschte. Der silberne Löwe war in eine große Schneewehe an der windabgewandten Seite eines Hügels geschlagen.

»Bleib weg!«, schrie der Krieger sie an, doch sie hatte schon gesehen, was nicht für sterbliche Augen bestimmt war. Ein abgebrochener Speerschaft ragte aus der Brust ihres Vaters. Seine Rüstung war von seinem Blut durchtränkt. Es waren allein die straffen Gurte, die ihn noch im Sattel hielten. Sie brauchte nicht sein Antlitz zu sehen, das hinter der Wolfsmaske seines Helms verborgen war, um zu wissen, dass er tot war.

»Weg mit dir!« Die stählerne Speerspitze berührte ihre Brust. »Trosshuren haben hier nichts verloren!«

Sie sah, wie Aaron von der hohen Sattellehne geschnallt wurde. Er sank in die Arme von Ormu.

»Weib …«

Shaya packte wütend den Speerschaft und zog ihn mit einem Ruck an sich vorbei, der den überraschten Reiter aus dem Sattel stürzen ließ. Ein Schlag vor die Schläfe, und er rührte sich nicht mehr. Sie wollte weitergehen … Keiner hatte bemerkt, was sie getan hatte. Noch nicht. Alle Blicke waren auf die beiden Unsterblichen gerichtet.

Gerade wurde Aaron in seinen Umhang gehüllt und von den Kushiten von dem Löwen fortgetragen. Einen Herzschlag lang konnte Shaya ihn sehen, das gespaltene Löwenvisier seines Helms. Ein Augenblick, der sich in eine Ewigkeit dehnte.

Ihr knickten die Beine weg. Das durfte nicht sein. So konnte es nicht enden! Hatten die Götter sie denn verlassen? Aaron war der Edelste unter allen Unsterblichen, der Einzige, der eine Vision hatte, die über sein Königreich hinausging. Vielleicht war er verrückt, aber er wollte die ganze Welt verbessern. Das hatte sie mehr als alles andere an ihm geliebt. Und damit ihre Liebe diesen Traum nicht erstickte, war sie letztlich gegangen. War all dies nun zerstört?

Zwei Hände legten sich auf ihre Schultern. Sie wirbelte herum. Ninwe!

»Komm hier weg! Das ist kein Ort für uns.« Ihre Stimme war heiser vor Angst. »Was hier geschieht, ist zu groß für zwei einfache Mädchen.«

Shaya hatte das Gefühl, dass etwas in ihr zerbrochen war. Sie hatte weder die Kraft noch den Willen, sich zu widersetzen. Sie duldete, dass Ninwe ihr auf die Beine half und sie fortführte. Erneut reihten sie sich in den langen Treck der Flüchtlinge ein. Doch nur weil Ninwe sie neben sich herzog, setzte sie einen Fuß vor den anderen.

Shaya vermochte das Bild des zerschmetterten Visiers nicht mehr zu vergessen. Sie starrte vor sich hin und sah nichts anderes als die Löwenmaske, die durch einen Schwerthieb zerteilt worden war. Die Sonne wanderte über das Firmament und versank in rot glühender Pracht, als wollte sie den Himmel in Flammen setzen. Der Wind frischte auf und zerrte an Shayas schwerer Wolldecke. Die Fliehenden marschierten stumm, mit verkniffenen Gesichtern und leicht vorgebeugt, als duckten sie sich vor der tyrannischen Kälte des Nordwinds.

Plötzlich blieben die Krieger vor ihnen stehen. Ein Raunen ging durch die Reihen. Ängstliches Geflüster. Dann griff Panik um sich. Plötzlich drängten alle wieder nach vorn, schneller nun. Es entstand ein mörderisches Gedränge. Die Schwachen wurden zu Boden getreten. Verzweifelte Schreie erklangen. Ninwe, die sie die ganze Zeit über geführt hatte, war nicht mehr an ihrer Seite. Shaya sah sich nach ihr um. Endlich war der Bann gebrochen, der die Welt auf das zerschmetterte Löwenvisier hatte zusammenschrumpfen lassen. Wo war ihre Freundin? Das Gedränge wurde immer schlimmer.

Shaya war stehen geblieben, während immer mehr erschöpfte Krieger rechts und links an ihr vorüberdrängten. Sie kämpfte sich aus der schiebenden und stoßenden Masse. Verzweifelt rief sie immer wieder Ninwes Namen. Sie erhielt keine Antwort. Keiner nahm Anteil. Ärgerliche Rufe ertönten aus der Marschkolonne, warum es nicht vorwärtsging. Alle wollten nur noch fort von den Daimonen und der mörderischen Kälte. Plötzlich preschte ein Hauptmann in guter Winterkleidung auf seinem Schimmel an der Kolonne entlang und rief den Männern zu, dass sie rasten sollten und dass es bald weitergehen werde.

Shaya spürte, dass dies eine Lüge war. Irgendetwas stimmte nicht. Hatte der Feind sie umzingelt und den Weg zum Weltentor abgeschnitten?

Endlich entdeckte Shaya einen flammend roten Haarschopf im Gedränge hinter ihr.

Ninwe schob sich in ihre Richtung. Ihr Gesicht war gerötet. Tränen rannen ihr über die Wangen. »Es ist vorbei. Wir sind alle verloren«, rief sie, als sie bei Shaya ankam. »Wir alle werden sterben!«

Die verwundete Schöpfung

Die Kunst ist es, nicht gierig zu sein, dachte Langarm, während er durch sein Verborgenes Auge seine neueste Schöpfung betrachtete und das Gespinst aus feinen Lichtfäden studierte, das die Kreatur in der Mitte seiner weiten Höhle umgab.

Warum nur Löwen erschaffen? Warum sich bescheiden? Hatte er doch alle Möglichkeiten. Stolz erfüllte ihn beim Anblick der Silhouette aus verwobenem Licht. Es war ein Drache, nicht so groß wie die Himmelsschlangen, doch keinesfalls kleiner als deren mächtigste Diener, die Sonnendrachen. Von der Schwanzspitze bis zur Schnauze maß das Geschöpf fast dreißig Schritt. Es würde Tod und Verderben unter die Albenkinder tragen.

Er spürte, wie das Goldene Netz sich gegen ihn aufbäumte, sich seinem Bemühen widersetzte und ihn zu umschlingen versuchte. Langarm atmete schwer aus. Nicht dagegen ankämpfen, ermahnte er sich in Gedanken. Loslassen! Er hatte zu viel und zu schnell Kraft aus dem Gespinst, das alle drei Welten umfasste, genommen. Geduld war die schwerste aller Tugenden, wenn man ein Gott war. Ließ er die Kraft langsam fließen und verwob seine Kreatur mit dem Netz, dann wurde sie ein Teil der magischen Welt. Ließ er die Kraft zu schnell fließen und war ein nachlässiger Zauberweber, dann wandte sich das Goldene Netz gegen den Drachen aus lebendem Metall. Es war eine Eigenart, die von den Alben in diesen größten aller Zauber eingebracht worden war, als sie gemeinsam mit den Devanthar die Welten erschaffen hatten. Oder war es Nangog gewesen?

Der Gedanke, dass die plumpe Riesin etwas so Hintersinniges und zugleich Kunstfertiges hätte erschaffen können, widerstrebte Langarm zutiefst. Nein, es waren ganz gewiss die Alben gewesen, die dem magischen Netz so etwas wie ein Bewusstsein für die Welten eingehaucht hatten. Jenes Bewusstsein wandte sich gegen alles, was gegen den Plan der Schöpfung verstieß. Es strafte Zauberweber, die zu unmäßig von seiner Kraft stahlen, und richtete sich gegen Kreaturen wie den Drachen, den er erschaffen hatte … Es sei denn, man nahm sich die Zeit, diese Kreaturen mit Geduld und Kunstfertigkeit zu einem Teil des magischen Netzes werden zu lassen.

Langarm verlangsamte den Fluss der Kräfte. Es war, als wäre er gezwungen, nur in winzigen Schlucken Tropfen um Tropfen zu trinken, obwohl er fast verdurstet war. Die Kräfte des Goldenen Netzes wandten sich nun nicht mehr gegen ihn und den Drachen. Die feinen Fäden leuchteten nun in allen Regenbogenfarben. Kein Menschenkind würde jemals die wahre Pracht seiner Schöpfung sehen. Die magische Welt blieb ihrem Blick verborgen. Alles, was sie sahen, war die metallene Hülle. Doch das war nur der kleinste Teil seiner Arbeit.

Er wandte den Blick zum Kopf des Drachen. Hier ruhte ein kleiner Splitter des Herzens Nangogs. Er war das Geheimnis des Drachen und aller anderen Kreaturen aus lebendem Metall. Nur dieser Splitter ermöglichte es, die komplexen und vielfältigen Zauber an den Drachen zu binden. War dies ein Hinweis darauf, dass sich die Riesin doch heimlich in die Schöpfung der magischen Welt eingebracht hatte, so wie sie in aller Heimlichkeit ihre eigene Welt gebaut hatte? Oder war es nur Zufall?