Es war besser, dieses Geheimnis ruhen zu lassen, als Beweise dafür zu finden, dass die Schöpfung vielleicht nicht ganz so war, wie er sie gerne sehen wollte. Ob es unter seinen Brüdern und Schwestern irgendjemanden gab, der sich auch solche Gedanken machte? Wohl kaum. Sie waren viel zu sehr dem Weltlichen und dem Genuss verfallen. Den meisten von ihnen traute er keine selbstkritischen Gedanken zu.
Zu gern hätte er gewusst, wie es bei den Himmelsschlangen aussah. Gab es auch unter ihnen Intrigen und Missgunst? Oder handelten sie alle nach einem Willen, entschlossen, Rivalitäten zu vergessen, bis der Sieg erreicht war?
Etwas störte die Harmonie seines Zaubers. Die Kraftlinien begannen auf eine Art zu schwingen, wie er es noch nie gesehen hatte. Plötzlich traf ihn ein scharfer Schmerz wie ein Peitschenhieb. Etwas zerrte an seiner Essenz, seiner Lebenskraft. Ja, sie wurde in das magische Netz gezogen! Sofort beendete der Devanthar seinen Zauber, trennte jede Verbindung zu den Kraftlinien und sah, wie zwei der Linien, die er in sein Zauberwerk eingebunden hatte, verblassten und sich schließlich ganz auflösten.
Langarm mochte nicht glauben, was er sah. Kraftlinien verschwanden nicht einfach. Etwas hatte sie zerstört, und verlöschend hatten sie von seiner Kraft genommen, um ihren Fortbestand zu sichern. Schwer stützte er sich auf einen großen Amboss, der nahebei stand. Seine Knie zitterten. Er fühlte sich so schwach, als hätte er Tage ohne Unterlass gearbeitet, so wie er es manchmal tat, wenn ein großes Werk kurz vor der Vollendung stand und er die Welt und den Lauf der Zeit völlig vergaß.
Fluchend wurde ihm bewusst, dass der Zauber, den er um den metallenen Drachen gesponnen hatte, schweren Schaden erlitten hatte. Er würde noch einmal ganz von vorne beginnen müssen. Auch wenn er, anders als bei seinem ersten Drachenzauber, nur eine Harmonie zwischen dem Kristall aus dem Herzen Nangogs und dem Metall des Drachen herstellen musste, war es keineswegs ein banales Unterfangen.
Immer noch betrachtete Langarm seine Umgebung durch sein Verborgenes Auge. Alle Kraftlinien schwangen wie Saiten einer Leier, die zu stark angeschlagen worden waren. Hatten die Himmelsschlangen entdeckt, was er tat, und bewusst seinen Zauber gestört? Er musste sich mit seinen Brüdern und Schwestern beraten!
Als er sich vom Amboss abwenden wollte, knickten ihm fast die Beine weg. Laut fluchend suchte er nach etwas, das ihm als Krückstock dienen konnte. Endlich fand er einen Speerschaft und begann, die lange Treppe zu erklimmen, die aus dem Herzen des Berges hinauf zum Gelben Turm führte. Deutlich spürte Langarm, dass auch seine Brüder und Schwestern in Aufruhr geraten waren. Alle strebten sie dem großen Versammlungssaal entgegen.
Als Langarm endlich die weite Halle vor dem Saal erreichte, hörte er Anatu wimmern. Sie kauerte in ihrem Gefängnis, dem Drachenschädel des Purpurnen, und stieß Laute aus, die den Devanthar an ein verwundetes Tier erinnerten. Er würdigte sie keines Blickes, obwohl er wegen des seltsamen Zaubers, der diese Halle beherrschte, zweimal auf den Schädel zugehen musste, bis er schließlich den hohen Torbogen zum Versammlungssaal durchqueren konnte.
Seine Brüder und Schwestern waren in heller Aufregung. Sie redeten durcheinander, wie sie empfunden hatten. Jeder schien auf andere Art gespürt zu haben, was vor sich gegangen war. Die unstet wandernden Säulen aus Dunkelheit taten das Ihre, um die beklemmende Atmosphäre zu unterstreichen, die herrschte. Kurz hatte Langarm das Gefühl, in einen Hühnerstall geraten zu sein, in den ein Fuchs eingebrochen war.
Endlich war es sein Bruder mit dem Adlerhaupt, der Schutzgott Valesias, der seine Stimme erhob und sie alle zur Ruhe rief: »Die Himmelsschlangen haben das Weltentor, das nach Wanu führt, angegriffen. Alle sieben Albenpfade, die hindurchführten, sind durchtrennt. Das Heer der sieben Königreiche ist von seinem Rückzugsweg abgeschnitten. Das nächste Weltentor ist viel zu weit entfernt. Unsere Krieger sind im ewigen Eis gestrandet und werden von einer Übermacht von Albenkindern bedrängt. All unsere Unsterblichen sind dort, aber keiner von uns. Was sollen wir tun?«
»Wir müssen ihnen natürlich helfen!«, brummte der Große Bär mit düsterem Bass. »Wir dürfen sie nicht gleich in der ersten Schlacht im Kampf gegen die Albenkinder verloren geben.«
»Glaubst du nicht, dass es genau das ist, was die Himmelsschlangen von uns erwarten«, fragte Langarm. Es fühlte sich niederträchtig an, dazu aufzurufen, die Menschenkinder im Stich zu lassen. Doch was die Himmelsschlangen beabsichtigten, war allzu offensichtlich. »Sie wollen, dass wir dorthin eilen, um unseren Schützlingen zu helfen. Und warum? Um noch einmal möglichst viele von uns an einem Ort zu versammeln, der nicht so geschützt ist wie der Gelbe Turm. Habt ihr das Feuer von Selinunt vergessen? Habt ihr vergessen, wie selbst der Himmel in Flammen stand? Sie wollen es wieder tun! Sie sind dort. Entweder irgendwo im Dunkel zwischen den Welten oder aber im ewigen Eis. Sie sind Raubtiere. Sie sind es gewohnt, Beute zu belauern. Und ich weiß ganz sicher, dass ich keine Beute sein werde.«
Schweigen senkte sich über den weiten Saal. Er sah seinen Brüdern und Schwestern an, wie es in ihnen arbeitete. Der Löwenhäuptige rang offensichtlich mit sich. Es gefiel ihm nicht, seinen Aaron aufzugeben. Išta hingegen wirkte ruhig und gefasst. Der Große Bär lief unruhig auf und ab wie ein gefangenes Raubtier. Der Adlerhäuptige hingegen sah ihn voller Hass an. Er hatte unbequeme Wahrheiten schon immer schlecht vertragen. Der Ebermann schnaubte vor sich hin. Schließlich war er es, der das Schweigen brach. »Ist das wirklich alles? Das ist es, was uns dazu einfällt, wenn uns die Drachen gleich in der ersten Schlacht all unsere Unsterblichen nehmen? Ihr alle schreckt vor ihnen zurück? Können wir keinen Zauber weben, der uns vor ihren Flammen schützt? Wir sind Weltenschöpfer. Wir sind Götter! Wir haben eine Verantwortung. Wir können doch nicht einfach hierbleiben und abwarten, bis es vorbei ist, während unsere Kinder darauf hoffen, dass wir sie erretten werden.«
»Ob es dir gefällt oder nicht, es ist das einzig Vernünftige«, erklärte Išta mit grausamer Ruhe. »Du weißt selbst, wie es mit dem Zauberweben ist. Wenn man sich auf ein neues Gebiet wagt, weiß man vorher nicht, ob einem Erfolg beschieden ist. Ja, wir könnten versuchen, uns durch einen Zauber zu schützen. Aber was wissen wir schon vom Feuer der Himmelsschlangen? Sie sind Geschöpfe mit fast göttergleichen Fähigkeiten. Was, wenn wir uns irren? Machen wir einen Fehler, dann werden wir keine Gelegenheit haben, einen zweiten Zauber zu wirken. Wir werden Asche sein. Die Zukunft der Menschheit wird Asche sein … Gerade weil sie unsere Kinder sind und uns brauchen, dürfen wir nicht gehen. Wir dürfen nicht die Zukunft der ganzen Welt riskieren, nur um ein paar wenige Sterbliche zu retten.« Sie hob resignierend die Hände. »Ich weiß, ihr haltet mich für kaltherzig und grausam. Und doch ist wahr, was ich sage.«
»Welches Ansehen hätten wir noch unter den Menschen, wenn sich herumspricht, dass wir ihnen in der Stunde der höchsten Not nicht geholfen haben?«, fauchte der Löwenhäuptige erbost. »Warum sollten sie in uns noch Götter sehen, wenn unsere Feigheit, den Drachen entgegenzutreten, so offensichtlich ist? Wir besiegeln unseren eigenen Untergang, wenn wir das Heer der sieben Reiche untergehen lassen.«
Išta gab einen schnalzenden Laut von sich und bedachte ihren Löwenbruder mit einem mitleidigen Lächeln. »Dramatisierst du das nicht ein wenig? Wir wissen, du hast an deinem gegenwärtigen Aaron einen Narren gefressen, aber nun ist auch seine Zeit gekommen.«
»Wir zerstören den Mythos der Unsterblichen«, beharrte der Löwenhäuptige. »Durch deinen unbedachten Auftritt nach der Schlacht von Kush, als du Muwatta vor den Augen Tausender enthauptet hast, hat dieser Mythos bereits Schaden genommen. Nun werden wir ihm den Todesstoß versetzen.«