Die Daimonen hatten seine Männer kurz vor ihrem Rückzug ermordet. Die Körper der Toten waren noch nicht ganz kalt gewesen, als er in den Keller hinabgestiegen war. Er war um eine Stunde zu spät gekommen, dachte er bitter. Warum sollte er den Tod jetzt noch fürchten? Er war bereits als Lebender in das große Dunkel gestoßen worden. Das Einzige, was ihm geblieben war, war seine Ehre. Doch die würde ihm nun wohl der Unsterbliche nehmen.
Chullunku ging an etlichen Jaguarmännern vorbei. Nie in seinem Leben hatte er so viele von ihnen gesehen. Sie waren eine wimmelnde, schwarze Masse auf dem Schnee. Wie lebendig gewordene Dunkelheit. In ihrer Mitte standen die Adlerritter. Es mussten weit über hundert sein. Auch wenn sie Chullunku mit stolz erhobenen Häuptern betrachteten, hatten sie doch die Flügel um ihre Leiber geschlungen. Es war unübersehbar, dass die Kälte ihnen zusetzte. Nur einem nicht, dem Krieger in ihrer Mitte. Er überragte sie alle um mehr als Haupteslänge. Schwere goldene Schlangenreifen wanden sich um seine Arme. Sein Antlitz lag im Schatten des Adlerhelms verborgen. Chullunku warf sich zu Boden und presste sein Gesicht in den festgetrampelten Schnee. Nie zuvor war er dem Unsterblichen Acoatl begegnet, dem Herrn der Himmel und all dessen, was unter ihnen lag.
»Erhebe dich, Chullunku! Ich will das Antlitz meines Statthalters in Wanu sehen.«
Die Stimme schnitt Chullunku bis ins Mark. Sie war eisig, hatte nichts Menschliches mehr. Es war die Stimme eines Gottes. Demütig richtete er den Oberkörper auf, wagte es aber nicht, sich von den Knien zu erheben. Es war auch nicht nötig, aufzustehen und näher vor den Herrscher zu treten. Jeder wusste, dass die Augen des Unsterblichen noch schärfer als die eines Adlers waren.
»Du lebst, weil du vor den Daimonen geflohen bist.«
Jedes Wort war wie ein Stich in Chullunkus Herz. Und unleugbar war es die Wahrheit. Er vermochte nicht länger ins Antlitz des Unsterblichen zu sehen. Sein Kinn sank ihm auf die Brust. Nun war es geschehen, er hatte auch noch seine Ehre verloren. Acoatl hatte ihn als Feigling gebrandmarkt, und es gab nichts, was er zu seiner Verteidigung hätte sagen können.
»Ich bin froh, dass die Götter dein Leben verschont haben. Du wirst deinem Volk noch von großem Nutzen sein.«
Chullunku traute seinen Ohren nicht. Er wagte es nicht, dem Unsterblichen eine Frage zu stellen, aber ihm war rätselhaft, was ein einzelner Mann gegen die Bedrohung durch die Daimonen ausrichten sollte.
»Sicher hast du von den Gerüchten gehört, die im Lager umgehen, obwohl wir Unsterblichen geheim halten wollten, was geschehen ist.«
Die Pause nach Acoatls Worten wurde so lang, dass Chullunku entschied, dass sein Herrscher wohl eine Antwort erwartete. Sein Mund war so trocken wie damals, als er ein Krieger war, im letzten Augenblick vor einem Kampf. »Acoatl, Herr der Himmel und all dessen, was unter ihnen liegt, ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht. Äh … bitte entschuldigt die Dummheit Eures niedrigsten Dieners. Ich war für mich allein. Ich habe nur von ferne Getuschel und Verzweiflungsschreie gehört, doch weiß ich nicht, was vorgefallen ist.«
»Es scheint so, als hätten die Daimonen das Weltentor zerstört, durch das wir hierhergekommen sind«, erklärte der Jaguarmann, der Chullunku geholt hatte. Natürlich war es unter der Würde eines Unsterblichen, auf die dummen Fragen einfacher Männer zu antworten. Chullunku bereute es zutiefst, nicht gelauscht zu haben und den Herrscher durch seine Unwissenheit in Verlegenheit gebracht zu haben.
»Du bist der Mann, der dieses Land am besten kennt, Chullunku«, fuhr nun der Unsterbliche fort.
Der Statthalter dachte an den Wolkensammler, der erst vor Kurzem über Wanu erschienen war. Der erste seit langer Zeit. Ganz gewiss kannte der Lotse an Bord das umgebende Land besser und hatte Karten gezeichnet. Chullunku war nur ein einziges Mal auf einem der Himmelsschiffe gereist, aber niemand kannte ein Land so wie jemand, der es von oben betrachten konnte wie sonst nur die Götter.
»Ich weiß ein wenig«, entgegnete Chullunku in dem zögerlichen Versuch, weder als Aufschneider noch als unwissend zu erscheinen.
»Wir werden ein anderes Weltentor aufsuchen müssen, um zurückzukehren«, erklärte der Unsterbliche, als wäre es nur eine Banalität. Ein Spaziergang. Acoatl sah Chullunku durchdringend an. Hatte er bemerkt, wie sehr ihn die Worte seines Herrschers erschreckt hatten.
»Ich warte!«
Chullunku erschrak bis ins Mark. »Herr der Himmel und all dessen, was unter ihnen liegt«, sagte er demütig, »ich bin einmal vor vielen Jahren zu dem nächsten Weltentor gereist. Ihr wart so gnädig, mir Euren silbernen Löwen zu schicken, denn einfachen Männern ist es nicht gegeben, ein Weltentor zu erkennen, selbst wenn sie vor ihm stehen. Ich bin mit ihm und dreiundachtzig Männern in die Eiswüste gegangen. Und dank Eurer Großzügigkeit waren wir auf das Beste ausgerüstet. Nie haben wir Hunger gelitten. Wir hatten Zelte, die uns in der Nacht vor dem Wind schützten, und konnten stets Feuer nähren, die die Geister vertrieben haben. Dennoch haben nur siebenundfünfzig Männer die Reise überlebt. Und von den Überlebenden hatte fast jeder einige Zehen verloren. Manchen mussten sogar die Füße abgeschnitten werden. Es war eine …«
»Mich interessieren keine Geschichten über Männer, die schon lange tot sind, Chullunku!«, unterbrach ihn sein Herrscher scharf. »Wie weit ist der Weg?«
Chullunku senkte demütig das Haupt. »Von hier aus etwas mehr als dreihundert Meilen, Herr der Himmel und all dessen, was unter ihnen liegt. Wir werden über Berge ziehen und einen weiteren Fluss überqueren müssen. Und die Geister des Nordwinds werden uns heimsuchen.«
Acoatl stieß einen zischenden Laut aus. »Geister? Ich mache mir keine Sorgen um Geister, wenn mir Daimonen im Nacken sitzen.«
Du irrst, Herr, dachte Chullunku, wagte aber nicht, seine Gedanken auszusprechen.
»Du wirst uns führen, Statthalter. Wir werden zwanzig Meilen am Tag schaffen. Zwei Wochen, dann sind wir diesem verfluchten Land entkommen.«
»Aber die Verwundeten und die Frauen werden das nicht schaffen. Sie …«
Acoatl schnitt ihm mit einer harschen Geste das Wort ab. »Auf sie werden wir keine Rücksicht nehmen. Wir haben ohnehin nicht genug zu essen, um Schwächlinge durchzufüttern. Morgen früh beim ersten Licht brechen wir auf.« Der Unsterbliche machte zwei Schritte in Chullunkus Richtung. »Du stehst in meiner Gunst, weil wir dein Wissen brauchen. Aber wage es nie wieder, mir zu widersprechen, Chullunku. Ich kann den Weg auch ohne dich finden. Ich bin ein Unsterblicher, für mich ist nichts unmöglich!«
Der Statthalter presste demütig sein Gesicht in den Schnee, doch tief im Herzen wusste er nun, warum die Götter sie im Stich gelassen hatten. Sie schämten sich für die Männer, denen sie Unsterblichkeit geschenkt hatten, und wollten ihren Irrtum berichtigen.
Der Heerführer
Solaiyn stand allein am Ufer und blickte auf den wirbelnden Nebel über dem Fluss. Etwa hundert Schritt entfernt entstand die Brücke, die ihnen erlauben würde, den Menschenkindern nachzustellen.
Nodon zögerte, zu dem hochgewachsenen, hageren Heerführer zu gehen. Solaiyn hatte ein verhärmtes Gesicht. Er lächelte nie. Seine Augen waren von unnachgiebiger Härte. Niemand verstand, warum die Himmelsschlangen ausgerechnet ihn zum Feldherrn gemacht hatten. Er trug keine Rüstung, kein Schwert hing von seinem Gürtel. Mit seinem schulterlangen silberblonden Haar, das ein schmaler Stirnreif aus Gold zurückhielt, wirkte er mehr wie ein Gelehrter denn wie ein Krieger. Der Fürst trug einen schlichten, taillierten Mantel mit hohem Stehkragen. Keine Stickereien schmückten den flaschengrünen Stoff. Er kam ohne Schnörkel aus wie sein Besitzer.