»Komm und rede!«, sagte Solaiyn ärgerlich. »Ich mag es nicht, wenn man mir in den Rücken starrt!«
Nodon schluckte seinen Ärger herunter. Er hätte nicht zögern sollen. Eigentlich war das nicht seine Art.
»Du entlässt deine Truppen …«, begann der Drachenelf.
Solaiyn bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick. »Sehe ich aus, als bräuchte ich jemanden, der mir meine Befehle erklärt?«
»Ich wollte …«
»Nein, dich werde ich nicht gehen lassen, Nodon. Wäre damit alles geklärt?«
»Bei allem Respekt …«
»Du respektierst mich nicht«, unterbrach ihn der Feldherr erneut. »Du bist ein Krieger, ich nicht. Es gehört zur Ordnung der Welt, dass Krieger auf alle, die nicht ihresgleichen sind, herabblicken. Umgarne mich nicht mit Lügen, Nodon. Für solche Banalitäten habe ich keine Zeit. Ich will dich hierhaben, darüber gibt es nichts zu diskutieren.«
»Wie würdest du mich aufhalten wollen?« Nodon war es leid, es mit höflichen Förmlichkeiten zu versuchen.
Nun wandte sich der alte Fürst vollends vom Fluss ab. Er musterte Nodon mit verächtlichem Blick. »Gar nicht, Schwertmeister. Ich würde mich niemals einem zornigen Mann mit deinen Fähigkeiten in den Weg stellen. Ich lasse dich ziehen, um mit den Konsequenzen deiner Fahnenflucht zu leben.«
Nodon traute seinen Ohren nicht. Er konnte also einfach gehen. »Ich denke, mit den Konsequenzen kann ich leben.«
»Es fragt sich nur, wie lange. Der Goldene sieht es gewiss nicht gerne, wenn du mich nicht unterstützt.«
Was für ein armseliger Wicht, dachte Nodon. Versteckte sich hinter dem Goldenen, um zu drohen. »Bevor der Goldene erfährt, was ich tue, bin ich im Jadegarten. Dort hat er keine Macht.«
»Bist du sicher?«, fragte Solaiyn kühl. »Männer wie du neigen dazu unterzugehen, weil sie sich selbst überschätzen. Dennoch mag ich dich.« Er sagte das ohne jede Emotion, sodass seine Worte nach Lügen klangen. »Dein Hang, rot zu tragen, ist ein wenig … exaltiert. Ich würde das an deiner Stelle lassen. Kanntest du meinen Sohn?«
Vom abrupten Themenwechsel überrascht, antwortete Nodon: »Ich bin Talawain zwei Mal begegnet. Es hieß, er sei ein …« Er zögerte.
»Spitzel ist das Wort, das dir nicht über die Zunge kommt. Es gibt keine nette Bezeichnung für das, was er war.« Ein Wangenmuskel des alten Fürsten zuckte. »Er hatte immer etwas Weibisches, musst du wissen. Schon als Kind mochte er es, sich zu verkleiden. Ich habe das gehasst! Der Goldene hat mir anvertraut, dass mein Sohn zum wichtigsten Berater eines der Unsterblichen aufgestiegen ist. Nie zuvor ist ein Elf der Blauen Halle unerkannt so weit in der Hierarchie der Menschenkinder aufgestiegen. Er hat Albenmark gute Dienste geleistet. Aber dann, vor ein paar Monden, müssen Menschen oder Devanthar sein Maskenspiel durchschaut haben. Jetzt ist er tot. Auch wenn der Goldene nichts darüber sagt. Ein Vater spürt so etwas.«
Nodon stand nicht der Sinn nach weiteren Enthüllungen über Familientragödien. »Ich werde gehen. Du brauchst mich nicht mehr. Das Heer ist groß genug, um die Menschenkinder zu vernichten.«
»Höre ich da Ekel in deiner Stimme? Ausgerechnet von dir?« Der Wind spielte mit dem langen Haar des alten Elfen. »Wie war es denn, im Himmel gegen Menschenkinder zu kämpfen, die sich kaum auf ihrem silbernen Löwen halten konnten?«
Nodon wandte sich ab und ging. Er würde sich nicht provozieren lassen. Die beiden Unsterblichen waren alles andere als wehrlos gewesen. Das konnte man nicht mit dem bevorstehenden Massaker am Heer der Menschen vergleichen.
»Bleib hier, Nodon.« Die Stimme Solaiyns hatte sich merkwürdig verändert. Sie hatte etwas Zischelndes, Dunkles und klang, als würde sie aus weiter Ferne kommen. »Mein Bruder hat dich mir geschenkt. Er will dich nicht bei seiner Buhle Nandalee haben.«
Wütend fuhr Nodon herum. Er würde nicht dulden … Solaiyn hatte sich dramatisch verändert. Sein Mund stand weit offen. Die fremde Stimme drang tief aus der Kehle des Elfen, doch weder Zunge noch Lippen bewegten sich. Seine Augen waren nach hinten gerollt, sodass nur noch das Weiße zu sehen war.
»Verträgst du die Wahrheit nicht?«, spottete die dunkle Stimme. »Wenn du jetzt gehst, wird mein Bruder dich töten. Er möchte keine Zeugen haben. Möchte nicht, dass irgendein Elf sieht, was Nandalee gebiert.«
»Wer bist du?«
»Ist das wirklich so schwer zu erraten? Ich bin ein Freund, dem daran gelegen ist, dich nicht zu verlieren. Mein Bruder wird langsam verrückt. Er bespricht sich nicht mehr mit uns. Ist ganz versessen auf Nandalee und das, was sie ausbrütet. Ich könnte im Jadegarten einen Verbündeten gebrauchen, Nodon. Kann ich auf dich zählen?«
»Ich verrate meinen Herrn nicht!«, entgegnete der Elf entschieden.
»Dann wirst du mit ihm untergehen!« Die Stimme war zu zornigem Gebrüll geworden. »Kehre jetzt zurück, und du stirbst, Narr. Ich habe es dutzendfach in der Silberschale gesehen. Erkenne endlich, wer dein Freund ist! Dein Herr, zu dem du so ergeben stehst, ist es nicht.«
Solaiyn sackte in sich zusammen. Seine Augen waren immer noch verdreht. Er starrte ins Leere und sah aus wie tot.
Nodon kniete neben dem Fürsten nieder. Sein Puls ging schwach und unregelmäßig. Sollte er ihn einfach liegen lassen? Es war niemand in unmittelbarer Nähe. Solaiyn hatte keine Leibwächter und keine Vertrauten. Ein schneller Schnitt durch die Kehle des Alten … Hatte sie jemand zusammen gesehen?
Der Schwertmeister nahm Solaiyn auf die Arme. Wie leicht der Fürst war, als bestünde er nur noch aus Haut und Knochen. Mit raschen Schritten trug er ihn fort vom Ufer zur weiten Senke, wo, vor dem ärgsten Wind geschützt, die wenigen Zelte des Heeres aufgeschlagen worden waren. Zwei Riesen kauerten dort und fraßen Rinderhälften. Das unappetitliche Geräusch splitternder Knochen, verbunden mit einem barbarischen Schmatzen, dominierte alle anderen Geräusche im Lager. Ein paar Kobolddiener huschten zwischen den Zelten umher. Ein Minotaur lag infernalisch schnarchend auf einem Haufen frisch abgezogener Schafsfelle.
In allen Zelten waren bereits Lichter entzündet, sodass die farbenfrohen Leinwände wie Lampions auf einem Sommerfest erstrahlten. Solaiyns Zelt war grün wie der schlichte Mantel, den er trug. Nodon schob sich durch die doppelte Plane, die am Eingang hing. Eine Feuerschale glomm in ersterbendem Rot und vertrieb die ärgste Kälte. Es gab einen schweren Tisch, auf dem ein Kästchen aus schwarz lackiertem Holz, ein einfacher Wasserkrug und eine Schale standen, in der drei Äpfel lagen. Dahinter erhoben sich zwei Stühle, und an der gegenüberliegenden Zeltwand stand ein schmales Bett, auf dem inmitten zerwühlter Decken eine kahlköpfige Elfe lag.
Nodon war überrascht. Eine Geliebte hatte er bei Solaiyn nicht erwartet. Und dann noch eine solche Frau … Unschlüssig stand er vor dem Bett. Es war zu schmal, als dass beide darin hätten liegen können. »Dein Herr ist zurück«, sagte er leise.
Die Elfe streckte sich. Sie hatte ein Auge auf die Stirn tätowiert, etwa vier Fingerbreit über der Nasenwurzel. Es verdeckte nur unvollkommen ein hässliches Narbengeflecht. Ihr Schädel war dort leicht eingedellt.
Solaiyns Geliebte öffnete die Augen. Sie waren vom hellen Gelb der Sommersonne. Geschlitzte Pupillen spalteten die Iris. Sie betrachtete Solaiyn, der immer noch leblos in Nodons Armen lag.
»War er unfreundlich zu dir?«, fragte sie nachdenklich.
»Kann er freundlich sein?«, fragte Nodon zurück. »Würdest du jetzt das Bett für ihn räumen?«
»Er braucht kein Bett, Drachenelf.« Sie richtete sich halb auf und strich sich fröstelnd über die Arme. »Setz ihn dort auf den Stuhl mit der hohen Lehne. Wir haben heute doch keine Kämpfe mehr zu erwarten, oder?«
»Dein Herr ist ohnmächtig geworden. Er sollte …«
»Diese Ohnmacht spielt keine Rolle. Es ist nur eine Nebenwirkung. Es ist wieder so weit. Ich muss ihn entspannen.« Ihre Beine bewegten sich unter der Decke. Sie taten es auf eine unheimliche, zutiefst unnatürliche Art, so als bestünden sie nur aus sich windenden Muskeln.