Das hatte er in der Tat. Asfahal war eines der bestgehüteten Geheimnisse der Weißen Halle. Er hatte Talent als Zauberweber gehabt, war todesmutig und zugleich leichtherzig gewesen. Er war einer der Schüler des Schwebenden Meisters geworden und nach seiner Zeit bei dem Drachen in die Weiße Halle berufen worden. Doch so vielversprechend er auch gewesen war, hatte er sich als zu unbeständig erwiesen. Schließlich hatten die Meister der Halle ihm die letzte Prüfung verwehrt und ihn der Schule verwiesen. Vergleichbares war seit mehr als dreihundert Jahren nicht mehr geschehen.
»Ich hätte ihn in der Gruft verrotten lassen sollen!«, murmelte Solaiyn. »Er taugt nichts. Wie all ihr Mörder!«
»Dein Sohn, der nichts taugt, war es, der mich zu dir geschickt hat, um dir zu helfen«, tadelte die Schlangenfrau. »Nun lass uns beginnen. Nodon, wärest du so nett, die Hände des Fürsten auf den Lehnen festzuhalten. Manchmal versucht er nach mir zu schlagen, wenn ich ihm helfe. Im falschen Augenblick könnte das schreckliche Konsequenzen haben.«
»Ihm die Hände halten?«
»Hilf mir. Nach der Behandlung wird er für einige Stunden nicht bei sich sein. Dann kannst du gehen, ohne dass er dir irgendjemanden hinterherschickt, um dich aufzuhalten.«
»Was redest du da?«, murrte Solaiyn. »Das ist Verrat, du niederträchtige Schlange. Glaub nicht, dass ich das vergessen werde. Du … Ich lass dich an die Ungeheuer im Fluss verfüttern, falsches Biest.«
»Ja, rede mit mir. So ist es gut«, sagte sie ganz ruhig. Dann nahm sie den langen Metalldorn und den kleinen Hammer vom Tisch. »Seine Hände. Bitte!«
Nodon kniete sich vor den Stuhl. Wenn es ihn zurück in den Jadegarten brachte, war ihm fast alles recht. Er nahm die schmalen Hände des Fürsten und drückte sie fest auf die Lehnen.
»Sehr gut! Danke.« Mit diesen Worten beugte sich die Schlangenfrau von hinten über die Lehne und schob mit einem Daumen das rechte Augenlid des Fürsten hoch. Geschickt schob sie den langen Dorn zwischen Augapfel und Lid.
»Ihr beide werdet euren Verrat noch bereuen.«
Nodon spürte, wie sich die Muskeln des Fürsten spannten. Solaiyns rechtes Auge tränte. Er hatte es ganz nach oben verdreht, sodass die Iris das stählerne Werkzeug berührte.
»Was tust du da?« Nodon war versucht, der Schlangenfrau den Dorn zu entreißen, fürchtete aber zugleich, dabei das Auge des Fürsten zu verletzen.
»Was weißt du über das Gehirn der Elfen?«, fragte die seltsame Heilerin.
»Was hat das hiermit zu tun?«
»Alles! Das Gehirn ist der Sitz unseres Verstandes, aber es steuert auch unsere Gefühle. Und es kann krank werden wie alle anderen Teile des Körpers. Nur ist es am wenigsten erforscht. Wusstest du, dass es in zwei gleiche Hälften unterteilt ist, die durch einen dicken Ast miteinander verbunden sind? Ich erforsche das Gehirn, seit ich es aufgegeben habe, mein Verborgenes Auge zu öffnen und eine Zauberweberin zu werden. Siehst du die Tätowierung auf meiner Stirn? Die Narbe darunter? Das erste Gehirn, das ich zu ändern versuchte, war mein eigenes. Ich hatte Begabung zu zaubern, wollte das aber nicht akzeptieren. Ich habe mit Gewalt mein Verborgenes Auge zu öffnen versucht, habe mir das Fleisch auf meiner Stirn zerschnitten und ein Loch in meinen Schädel gebohrt. Der Bohrer ist versehentlich bis in mein Gehirn gedrungen.« Sie lachte leise. »Das hat alles verändert. Ich konnte die Gabe zu zaubern nicht erwecken, aber durch die Verletzung meines Gehirns verlor ich meine Traurigkeit. Ich fühlte mich nicht länger unvollkommen, weil ich im Gegensatz zu all meinen Schwestern keine Zauberweberin sein konnte.«
Nodon blickte zu der Narbe auf ihrer Stirn. Dann wanderte sein Blick zu der Nadel, die oberhalb des Augapfels tief in der Augenhöhle Solaiyns steckte. Sie mochte ihre Traurigkeit verloren haben, aber sie hatte auch ihren Verstand durchlöchert.
Sie stieß einen leisen, zischenden Laut aus. »Ich weiß, was du jetzt denkst. Aber du irrst. Ich habe mein Leben dem Studium des Gehirns von euch Elfen gewidmet. Ich bin viel gereist, immer auf der Suche nach Elfen, die am Kopf verletzt wurden. Ich versuche, eine Landkarte des Gehirns zu erstellen, so wie Anatomen eine Karte unserer Körper zeichnen.« Sie legte sich eine Hand flach auf die Stirn, während die andere immer noch die dicke Nadel hielt. »Hier vorne liegt der Teil des Gehirns, der für unsere Gefühle verantwortlich ist.«
Mit fließender Bewegung griff sie nach dem kleinen Hammer auf dem Tisch und versetzte dem breiten Nadelkopf einen Schlag.
Entsetzt sah Nodon den Silberstahl gut zwei Zoll tief in der Augenhöhle versinken. Solaiyns Hände, die er immer noch auf die Stuhllehnen presste, krümmten sich vor Schmerz. Zugleich stieß der alte Fürst einen langen Seufzer aus. »Erlöse mich von meinen Qualen, Aloki.«
Die Schlangenfrau begann die Stahlnadel sanft zu drehen. »Wie heißen deine Töchter, Solaiyn?«
»Kyra und Maylin«, kam die Antwort ohne zu zögern.
»Und deine Söhne?«
»Asfahal und Talawain.«
»Wer ist dir der liebste deiner Söhne?«
Fasziniert und zugleich abgestoßen beobachtete Nodon, was die beiden taten.
»Ich habe nur noch einen Sohn. Talawain wurde von den Menschenkindern getötet. Ich werde sie dafür büßen lassen …« Die Stimme Solaiyns hatte sich verändert. Er sprach ohne Emotion. »Wenn dieser Feldzug im Eis vorüber ist, dann sollen fünftausend Menschenkinder für ihn gestorben sein. Und das ist erst der Anfang. Ich werde sie erfahren lassen, dass ich gekommen bin, seinen Tod zu rächen, auf dass sie für immerdar uns Elfen fürchten lernen, denn einer von uns ist mehr wert als hundert von ihnen. Sie müssen erst im Staub liegen und unseren Fuß in ihrem Nacken spüren, um schätzen zu lernen, welch kostbares Geschenk es ist, in Frieden mit uns leben zu dürfen.«
»Erzähle mir auch von Asfahal«, bat Aloki sanft.
»Über ihn gibt es nichts zu sagen. Er lebt, aber zugleich ist er auch tot für mich.« Wieder sprach Solaiyn bar jeder Emotion, was seine Worte nur noch endgültiger klingen ließ. Nodon hatte viel Schlechtes über den gefallenen Schüler der Weißen Halle gehört, doch solch ein Urteil aus dem Mund von Asfahals Vater zu vernehmen war schockierend. Wie konnte es so weit kommen, dass man seinen eigenen Sohn hasste?
»Wie war Asfahal als Kind?« Auch wenn Aloki keine Zauberweberin war, lag in ihrer Stimme etwas, das es unmöglich machte, ihr nicht zu antworten.
»Er war … neugierig. Von meinen vier Kindern war er der am wenigsten Furchtsame. Er hatte vor gar nichts Angst. Er liebte es, wenn unser Segelboot bei den Reisen nach Tanthalia nur so über die Wellen sprang, wenn schweres Wetter aufkam. Er stand dann immer am Bug und schrie dem Sturm voller Übermut seine Herausforderungen entgegen. Er hatte auch …« Der Fürst blinzelte. »Lisandelle war so voller Zärtlichkeit und Verständnis. Als sie starb, wusste ich, dass ich nie wieder eine Gemahlin wie sie finden würde. Seit ihrem Tod warte ich. Ich hoffe darauf, dass sie wiedergeboren wird. Sie ist …«
Aloki zog die Nadel über dem Augapfel hinweg und bedeutete Nodon, die Hände des Fürsten loszulassen. »Wie geht es dir?«, fragte sie dann sanft.
Solaiyn blinzelte. Er wirkte desorientiert, als hätte er die Frage nicht richtig verstanden. »Ich bin müde«, sagte er schließlich nach einer Weile.
»Dein Herz findet Ruhe. Soll ich weitermachen? Oder möchtest du schlafen?«
Er rieb sich über die Stirn, über die der breite Lederriemen lief, der ihn an die Stuhllehne fesselte. Dann verdrehte er die Augen und blickte zu Nodon hinab. »Erzähle nicht, was du hier gesehen hast. Es würde dir ohnehin niemand glauben.«
Der Dunkle wird mir glauben, dachte der Drachenelf, schwieg aber. Sobald er zurück war, musste er dafür sorgen, dass Solaiyn als Heerführer abberufen wurde. Was hatte den Goldenen nur dazu veranlasst, einem Irren, der sich willentlich das Gehirn zerstören ließ, das Leben Tausender Albenkinder anzuvertrauen?