»Bist du bereit, mein Gebieter?«
Solaiyn gab einen knurrenden Laut von sich. Immer noch blickte er zu Nodon herab. »Du wirst meine Augen sein. Wenn wir hier fertig sind, dann steigst du auf deinen Rappen und spähst aus, was die Menschenkinder machen.« Er sprach langsam und monoton, mit kurzen Pausen zwischen den Wörtern, als fiele es ihm schwer, sich zu konzentrieren. »Ich schätze, in ihrem Heerlager wird Panik herrschen.«
»Mondschatten ist tot!« Nodon hatte es Solaiyn schon mitgeteilt, aber offensichtlich erinnerte sich der Heerführer nicht mehr.
»Tot«, sagte der Fürst teilnahmslos. »Hat sich also meinen Befehlen entzogen. Dann nimmst du eben einen Adler.«
Das war völlig absurd. Adler waren unzuverlässig. Vereinzelt hatten die großen Raubvögel vom Albenhaupt zwar Elfen gestattet, auf ihrem Rücken zu reisen, aber man konnte sich einfach nicht auf sie verlassen.
Aloki gab ihm ein Zeichen, zu schweigen und erneut die Hände des Fürsten zu halten. Dann hob sie das zweite Augenlid Solaiyns an und führte die breite Haarnadel darüber hinweg bis tief in die Augenhöhle. Allein bei dem Anblick zog sich Nodons Innerstes zusammen.
Der Fürst stieß einen tiefen Seufzer aus, dem etwas Lustvolles anhaftete.
Mit hellem Klang schlug der Hammer auf die Nadel. »Hinter dem Auge ist der Schädelknochen am dünnsten«, erklärte Aloki. »Hier richte ich den geringsten Schaden an, wenn ich den Eingriff vornehme.«
Sie meinte das offensichtlich nicht ironisch, dachte Nodon verblüfft. Mit einer Nadel das Gehirn eines Elfenfürsten durchzurühren empfand sie offensichtlich als Bagatelle. Wieder begann sie mit den kreisenden Bewegungen. Nodon musste wegsehen.
»Warum zürnst du deinem Sohn Asfahal?«, setzte die Schlangenfrau ihre Fragen fort.
»Ich zürne ihm nicht mehr«, kam die monotone Antwort. »Ich habe ihn verbannt. Es gibt ihn nicht mehr für mich. Jemandem, der nicht mehr existiert, kann man nicht zürnen.«
»Aber was hat er dir denn getan?«
»Er versteht Schönheit nicht. Er wendet sich gegen sie und zerstört sie. Er hat der unvergleichlichen Statue des kauernden Kobolds von Salhayn einen Finger abgebrochen. Einfach so, aus Übermut. Wie könnte ich so etwas dulden?«
»Er war ein Kind«, sagte Aloki milde, während sie die lange Nadel drehte. »Er hat es gewiss nicht mit Absicht getan.«
»Das entschuldigt gar nichts«, entgegnete Solaiyn stockend. »Er war … Er hat seine Mutter geküsst, auf dem Totenbett und auch später. Er hat sie geküsst. Eine Tote! Und er hat ihren Sarg geöffnet, als ich ihn in die Gruft sperrte.« Eine einzelne Träne rann über die Wange des Fürsten. Eine Ader im Auge unter der Nadel war geplatzt und färbte das Weiß des Augapfels rot. »Wir müssen unsere Truppen zurückziehen. Wir brauchen nicht mehr viele Krieger, um die Menschenkinder zu Tode zu hetzen. Ein paar Kentauren und Trolle. Vielleicht einen Riesen. Und die Adler. Und die Drachenelfen. Die Übrigen sollen zurück … Will keine unnötigen Verluste. In der Gruft … Ich frage mich, ob er dort ihren Leichnam noch einmal geküsst hat.«
Aloki zog die Nadel aus dem Gehirn zurück.
»Ich musste sie wegschicken«, sagte Solaiyn tonlos. »Was hätte ich mit dem Balg anfangen sollen? Hat behauptet, er hätte es ihr gemacht. Immer wieder habe ich davon gehört, wie er jedem Rock nachgestiegen ist. Vielleicht stimmte es … Ich weiß, dass er ihr Beschäler war. Für eine Zeit. Aber wie viele andere hat sie sich noch geholt? Sie war die Übelste von allen. Die beiden sind zwei Jahre von Fürstenhof zu Fürstenhof gezogen, haben gesungen und um Geld gespielt. Es heißt, sie hätten betrogen. Sie hat die anderen mit ihren Reizen abgelenkt … Hübsch war sie.«
Aloki löste die Lederriemen, mit denen sie Solaiyn an den Stuhl gefesselt hatte. Der Fürst sackte nach vorn, sodass Nodon ihn auffangen musste.
»Mir wollte sie dieses Balg andrehen. Einen blonden Säugling. Hatte ihm einen seltsamen Namen gegeben … Fabrach … Nein, Falrach. Wer hatte je einen solchen Elfennamen gehört. Ich habe die Schlampe von meinen Pferdeknechten verprügeln und davonjagen lassen. Ich brauchte nicht noch einen Knaben, der sich an Statuen und an meiner toten Lisandelle vergeht.« Er hob den Kopf und sah Nodon geradewegs in die Augen. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst deinen gefiederten Gaul holen und das Lager der Menschenkinder auskundschaften.«
»Du solltest jetzt ruhen«, schritt die Schlangenfrau ein, bevor Nodon etwas sagen konnte. Sie half Solaiyn auf die Beine und führte ihn zu seinem Bett, wo er sich von ihr zudecken ließ wie ein Kind von seiner Mutter. »Schlaf, Herr. Du musst dich erholen. Wenn du aufwachst, werden Traurigkeit und Zorn dich verlassen haben.«
Mit einem Lächeln richtete sich Aloki auf und glitt zu Nodon. »Er ist einzigartig.«
»Ich würde eher sagen, verrückt. Ich werde diesen Wahnsinn hier beenden.«
»Du verstehst nicht, was du hier gesehen hast«, gurrte sie mit zuckersüßer Stimme. Ihre Pupillen aber wurden schmal. Nodon musste unwillkürlich an eine Smaragdkobra denken, die sich aufrichtete, um zuzustoßen und ihre Giftzähne in ein Opfer zu schlagen.
»Er ist der bestmögliche Heerführer für den Goldenen. Der Zauber, den der Drachenherrscher wob, um durch Solaiyns Augen zu sehen, schädigt das Gehirn des Fürsten. Jeden anderen würde dieser Eingriff innerhalb kurzer Zeit in einen sabbernden Irren verwandeln. Aber nicht Solaiyn. Ich sagte dir ja, dass er die besondere Gabe hat, sich von Verletzungen wieder zu erholen, die andere umbringen würden. Sein Hirn heilt. Es ist ein Segen und ein Fluch. Für den Goldenen ist er durch diese Eigenschaft von unschätzbarem Wert. Er verliert sein Werkzeug nicht, nachdem er es nur wenige Male benutzt hat. Für Solaiyn aber ist es ein Fluch. Unzählige Male habe ich die Nadeln in sein Gehirn versenkt. Bei jedem anderen genügt es, dies ein einziges Mal zu tun. Danach ist eine übertriebene Empfindsamkeit für immer gelöscht, ganz gleich, in welcher Form sie sich zeigt, ob nun in nicht enden wollender Melancholie, in plötzlichen Zornesausbrüchen oder dem Drang, unflätige Beschimpfungen von sich zu geben, ohne dass es dafür einen Grund gäbe.«
Nodon war sich sicher, wüsste der Dunkle, was hier geschah, würde er Solaiyn umgehend entfernen, und das wäre das einzig Vernünftige. Und diese Nachricht zu überbringen lieferte ihm einen guten Grund, das Heer zu verlassen. Er würde so nicht den Zorn seines Gebieters erwecken, auch wenn es ihm eigentlich darum ging, wieder in Nandalees Nähe zu gelangen.
»Du wirst sehen, morgen ist Solaiyn ein ganz anderer Mann«, erklärte Aloki euphorisch. »Sehr ruhig, sehr sachlich. Sein Verstand nimmt bei diesem Eingriff keinen Schaden. Ich befreie ihn lediglich von seiner übergroßen Empfindsamkeit.«
»Ich habe keinen Zweifel daran, dass er jetzt ein ganz anderer Mann ist«, sagte Nodon ironisch und blickte zum Bett, in dem der Fürst sich mit angewinkelten Beinen zusammengerollt hatte.
Plötzlich verschwamm die Erscheinung der Schlangenfrau zu einem Strahl blasser Farben. Nodon griff nach dem Schwert. Er kannte dieses Phänomen aus Erzählungen von Nandalee. Ihre Freundin Bidayn beherrschte einen Zauber, der es ihr erlaubte, sich so schnell zu bewegen, dass man ihr mit bloßem Auge kaum noch folgen konnte.
Nodon duckte sich in Erwartung eines Angriffs. Sein Schwert war noch nicht einmal zur Hälfte aus der Scheide geglitten, als er einen stechenden Schmerz am Hals spürte. Etwas Kaltes rieselte durch seine Adern. Seine Hand am Schwertgriff erschlaffte. Seine Beine versagten. Zarte Hände griffen unter seine Achseln und zogen ihn zu dem Stuhl mit der hohen Lehne.
»Ich wusste, dass du nicht auf mich hören würdest.« Alokis Stimme klang nach freundlichem Tadel. So wie die Stimme einer Mutter, die ihr Kind beim Honignaschen ertappt und eher amüsiert als verärgert ist. »Ich weiß auch, wie schwer dies alles zu glauben ist. Du musst dich darauf einlassen, um es zu verstehen. Ist dir nicht aufgefallen, wie er sich schon während des Gesprächs verändert hat? Deshalb rede ich mit ihm. Es geht meist um Asfahal. Wenn er über ihn spricht, dann kochen seine Gefühle hoch. Du hast es ja selbst erlebt.«