»Du hast recht, Galar. Es ist ein Kampf ohne Ruhm, in den wir ziehen.« Sie verneigte sich vor ihnen allen. »Ich entschuldige mich bei euch allen, dass ich euch in dieses Gefecht führen muss. Aber wenn es der Wunsch der Himmelsschlangen ist, dann wird es notwendig sein. Sie wissen mehr als wir.«
Ailyn ging und ließ sie sprachlos zurück. Der eisige Wind zerrte an ihrem viel zu dünnen, weißen Kleid. Die Kälte schien ihr ebenso wenig etwas auszumachen wie Vorwürfe.
»Wir werden lange Menschenfleisch fressen«, sagte Groz nachdenklich.
Galar konnte die Gedanken des Trolls nicht nachvollziehen. Der Hüne wirkte seltsam bedrückt bei der Vorstellung, was seine nächsten Mahlzeiten anging.
»Dreckselfen!«, fluchte Che und spuckte aus. »Wenn ich meinen Männern erzähle, was uns blüht, werden die rebellieren. Und ich dachte nach dem Kampf in Wanu, dass sie auf unserer Seite stehen würde.«
»Eine Drachenelfe?«, fragte Galar voller Verachtung. »Die hat sich ganz und gar den Himmelstyrannen verschrieben. Du hast es doch gehört. Sie denkt nicht mal mehr selbst. Auch für sie ist es ein Kampf ohne Ehre, und trotzdem führt sie den Befehl der Tyrannen aus. Was lehrt uns das? Drachenelfen sind keine strahlenden Helden. Wer ohne zu zögern Ehrloses tut, der hat wohl keine Ehre.«
Das Geschenk der Göttin
Ein blasser Silberstreif am Horizont kündigte die Geburt eines neuen Tages an. Unendlich erleichtert ließ Kolja sich gegen einen Stapel von Kisten sinken. Wieder hatte er die ganze Nacht über am Eingang ihrer Zuflucht aus mit Segeltüchern überzogenen Landungskörben gewacht. Sie waren nicht gekommen. Schon die dritte Nacht in Folge. Die Sturmgeister hatten sich zurückgezogen, warum auch immer. Der Drusnier glaubte nicht, dass er und seine jämmerliche Truppe aus Wolkenschiffern die Geister in die Flucht geschlagen hatten. Warum sie verschwunden waren, würde ein Rätsel bleiben. Vielleicht hatten sie anderswo leichtere Beute gefunden?
Nabor kroch zu ihm herüber. »Alles ruhig?« Der alte Lotse hatte dunkle Ränder unter den Augen. Keiner von ihnen schlief gut. Auch wenn die Geister verschwunden waren, blieben ihnen noch genug Sorgen. Wind vor regenschwerem Horizont im Frühlingsmorgenlicht über dem Grünen Meer, ihr Wolkensammler, schien sich aufgegeben zu haben.
»Die Geister sind fort«, sagte Kolja müde und kratzte sich an der Stirn. Sein ganzer Körper juckte zum Erbarmen, dabei hatte er kaum Flöhe in seinen Kleidern finden können. In seinem Armstumpf peinigte ihn ein stechender Schmerz. Seine Prothese, die maßgefertigt worden war, scheuerte jetzt. Vielleicht lag es an der Kälte? Wasser, das gefror, dehnte sich. Womöglich war es mit seinem Leib ja ganz ähnlich. Allerdings schienen die anderen nicht solche Qualen erdulden zu müssen. Jedenfalls kratzten sie sich nicht dauernd.
»Gehen wir raus. Wir müssen reden«, sagte Nabor mürrisch. Der Lotse hatte ihm nicht verziehen, dass er seinen Affen getötet hatte, auch wenn das Mistviech für alle erkennbar von einem der Sturmgeister besessen gewesen war.
»Ich bin müde«, murmelte Kolja verdrossen. »Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan.«
»Ich auch nicht«, entgegnete der Lotse und schob sich an dem Feuer am Eingang vorbei ins Freie. »Und für jemanden, der eine schlaflose Nacht hatte, siehst du ziemlich gut aus. Irgendwie frischer …«
Kolja ignorierte das heuchlerische Kompliment und folgte ihm unwillig. Sie gingen ein paar Schritt hin zum Rand des riesigen Kraters. Der Drusnier blickte hinab in den Schlund, der sich im Dunkel verlor. Schlief dort unten wirklich Nangog? Würde er ihr auf den Bauch fallen, wenn er hinuntersprang? Er trat hastig einen Schritt vom Abgrund zurück. Dieser Schlund weckte in ihm die Lust zu springen. Den Wolkenschiffern war dieses aberwitzige Begehren wohlvertraut. Immer wieder gab es Männer, die sich ohne erkennbaren Grund in die Tiefe stürzten. Kolja war während seiner Reisen über die Himmel Nangogs nie von dieser unerklärlichen Sehnsucht zu springen berührt worden. Doch mit diesem Abgrund hier war es anders. Ihn fürchtete er.
Nabor deutete auf den Wolkensammler, der leblos von der riesigen Säule hing, die sich neben dem Krater erhob. Wie eine Schmetterlingspuppe sah Wind vor regenschwerem Horizont aus. Mit einigen wenigen Tentakeln klammerte er sich um das obere Ende des Monolithen. Etliche hingen einfach nur noch tot und von Eiskristallen bestäubt an seinem Leib hinab. Jene, in denen noch Leben steckte, hatte er eng um seinen Leib geschlungen, der bei Weitem nicht mehr so aufgedunsen war, wie es sonst bei diesen stillen Himmelskreaturen üblich war. »Was ist dein Plan, Kolja? Wie bringst du uns nach Hause? Die Männer sehen in dir ihren Anführer, seit Barnaba tot ist. Was hast du ihnen zu bieten? Noch einen Tag, an dem wir Kristalle ernten, die wir nirgendwo hinbringen werden?«
»Ich könnte zum Beispiel einen alten Nörgler zu Nangog schicken«, grollte Kolja. »Dann würde es hier wesentlich friedlicher.«
»Stimmt, so friedlich wie auf einem Gräberfeld.« Nabor stemmte die Fäuste in die Hüften und sah ihn herausfordernd an. »Solange wir noch bei Kräften sind, sollten wir etwas Sinnvolles tun.«
»Was schlägst du vor? Beten?« Auch Kolja hatte sich in den letzten Tagen den Kopf zerbrochen, wie sie von hier wegkommen konnten. Wind vor regenschwerem Horizont würde nicht mehr in den Himmel aufsteigen. Sich zu Fuß auf den Weg nach Wanu zu machen kam auch nicht infrage.
»Ich schlage vor zu segeln«, entgegnete Nabor bestimmt.
»Segeln? Hier? Weitab von jedem Meer?«
»Es müsste möglich sein. Die Idee kam mir gestern, als ich sah, wie der Wind ein aufrecht stehendes, leeres Fass auf glattem Eis bewegt hat.«
»Ich darf dich darauf hinweisen, dass ein Schiff ein wenig schwerer als ein Fass ist«, höhnte Kolja. »Du bist verrückt.«
»Vielleicht«, gab der Lotse unumwunden zu. »Aber wollen wir nicht lieber etwas Verrücktes wagen, als einfach nur auf den Tod zu warten?«
Der Drusnier nickte zögerlich. »Besser eine winzige Hoffnung als gar keine. Du hast recht. Du bekommst alle Männer, die du brauchst.«
Nabor war sichtlich erleichtert. »Wir geben es auf mit den Kristallen?«
»Ja, wir haben genug. Nun stecken wir all unsere Kraft in den Bau eines Schiffes, das uns über das Eis tragen wird, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie solch ein wundersames Gefährt aussehen könnte.« Kolja griff nach seiner Prothese. Der klopfende Schmerz im Stumpf meldete sich wieder. Was zum Donner war das nur? »Hol dir deine Männer und fang an«, sagte er mit gepresster Stimme. »Ich stoße später zu euch, Nabor.«
»Das war die beste Entscheidung seit Wochen, das verspreche ich dir, Drusnier!«
Als er zurück zu den Landungskörben ging, summte der Lotse leise ein Lied. Das hatte er nicht mehr getan, seit sie die Eiswüste erreicht hatten.
Kolja ließ sich auf einer Kiste nieder, die halb im Schnee versunken war. Überall, rings um die riesige Felssäule, lagen Trümmer ihres Wolkenschiffes. Die Reise war eine einzige Katastrophe. Er hätte auf den Zapote im roten Federmantel hören sollen. Wäre er in Wanu geblieben, um Vogelscheiße zu sammeln, würde es ihm jetzt sicher besser gehen.
Jetzt, da niemand in Hörweite war, erlaubte er es sich zu stöhnen. Der Schmerz im Arm war schlimmer als die Schmerzen, die er damals im Dschungel gelitten hatte, als ihm die Daimonin den Arm abgehackt hatte. Er löste die Lederriemen, die seine Prothese hielten. Den falschen Arm abzunehmen verschaffte ihm ein wenig Erleichterung.
Er zog den Wollsocken ab, den er über den Stumpf gezogen hatte, und zog scharf die Luft ein: Das rote Narbengewebe hatte sich verändert! Eine Wucherung, so breit wie zwei Finger, ragte etwas mehr als einen Zoll aus seinem Stumpf. Ungläubig tastete er darüber. Etwas Hartes verbarg sich unter dem neu gewachsenen rosa Fleisch. Die Berührung schmerzte so sehr, dass ihm Tränen in die Augen traten. Es fühlte sich an, als würden zwei Knochen in dem Fleisch stecken. Etwa so dick wie Schweinerippchen.