Trotz der Schmerzen, die es bereitete, tastete er erneut über die Wucherung. Dabei erinnerte er sich an die Worte des Lotsen. Das seltsame Kompliment, als sie ihr Nachtquartier verlassen hatten. Was hatte Nabor gesagt? Er sähe frischer aus? Kolja tastete über sein Gesicht, das in den letzten Tagen immerzu juckte. War seine Haut glatter geworden, oder bildete er sich das ein? Und was war das! Er strich über die Narbenwülste, die alles waren, was von seinen Brauen noch geblieben war. Stoppeln! Seine goldblonden Augenbrauen waren seit mehr als einem Jahrzehnt verschwunden. Kein einziges Haar war mehr aus dem vernarbten Fleisch gesprossen. Das war der Preis für seine Siege in den Arenen von Luwien gewesen. Die Faustkämpfer wickelten sich mit Messing- oder Eisennieten beschlagene Lederbänder um ihre Hände, wenn sie in den Kampf zogen. Gerade im Gesicht, wo die Haut nur dünn über den Knochen lag, hinterließen sie schreckliche Narben. Sein Ehrgeiz, immer noch einen weiteren Triumph zu erlangen, hatte ihn langsam in ein vernarbtes Ungeheuer verwandelt. Zuletzt hatten nur noch Huren, die er fürstlich bezahlte, mit ihm schlafen wollen, so schrecklich war er anzusehen gewesen.
Kolja schob die Hände unter die Wollmütze. Er betastete die kleinen, fleischigen Klümpchen, zu denen seine verletzten Ohren geschrumpft waren. Auch sie fühlten sich anders an. Beschenkte Nangog ihn dafür, dass er die Mission weiterführte und den Platz von Barnaba eingenommen hatte?
Der Drusnier blickte auf den seltsamen Wulst, der aus seinem Arm wucherte. Konnte sie selbst verlorene Glieder nachwachsen lassen? Wer, wenn nicht sie, könnte ein solches Wunder vollbringen. Schließlich hatte sie auch all die seltsamen Tiermenschen erschaffen. Er war ihr Auserwählter! Sie hatte Großes mit ihm vor!
Behutsam zog er den Wollsocken wieder über den Stumpf. Er würde dieses Geheimnis zunächst für sich behalten. Es lagen noch schwere Tage vor ihnen. Ein Wunder würde die Moral der Männer wieder aufrichten, wenn die Stunde der tiefsten Verzweiflung kam. Und die war nahe, wenn all ihre Hoffnung auf der aberwitzigen Idee ruhte, ein Schiff zu bauen, das über Eis segeln konnte.
Nur ein Strohhalm
Wieder konnte Kolja nicht schlafen. Das endlose Jucken machte ihn noch wahnsinnig. Wie in den Nächten zuvor hatte er schließlich die Wache am Eingang abgelöst, um über das Feuer zu wachen. Der Schiffer war dankbar unter seine Decken gekrochen und augenblicklich eingeschlafen.
Wind heulte in der zerfetzten Takelage des Wolkenschiffs. Es war eine wolkenlose Nacht. Die beiden Monde standen tief über der Eisebene, und es war fast taghell. Kolja hatte den Tag über mitgeholfen, Planken und Werkzeug für den Segler zusammenzutragen. Die meiste Zeit war mit fruchtlosen Diskussionen verschwendet worden. Keiner wusste, wie ein Eissegler aussehen sollte. Zuletzt hatte er vorgeschlagen, ihn wie einen großen Schlitten anzulegen – eine Plattform mit Kufen. Mit Schlitten kannte er sich ein wenig aus. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er mit den anderen Jungen und Männern seines Dorfes zum Holzschlagen hinaus in die Wälder gemusst hatte, wenn der Winter länger als erwartet gedauert hatte. Die zersägten Stämme hatten sie auf Schlitten zurückgezogen. Aber ein Schlitten mit einem Segel darauf … Kolja war sich nicht mehr so sicher, ob Nabors Plan wirklich gut war.
Verdrossen kratzte er sich am Fleischknoten, der von seinem linken Ohr geblieben war. Verfluchte Juckerei! Das konnte doch kein Wunder der Großen Göttin sein. Warum quälte sie ihn so sehr? Auch sein verstümmelter Arm peinigte ihn wieder. Er konnte spüren, wie sich der Knochen durch das neu wachsende Fleisch schob.
Wenn dieses Wunder einen anderen Ursprung hatte? Schon früher am Tag hatte er an seinen Kampf unten im Abgrund gedacht, als ihm einer der grünen Kristalle tief in den Rücken gerammt worden war. Kolja schob die Fellweste und die dicke wollene Tunika hoch und tastete über seinen Rücken. Es gab nicht einmal eine Kruste an der Stelle. Die Wunde hätte ihn töten können. Stattdessen war sie binnen kürzester Zeit verheilt. Auch das war ein Wunder. Und der Kristall, der in seinem Fleisch hätte stecken sollen, war spurlos verschwunden.
Der Drusnier drückte und tastete seinen Rücken ab, wie er es schon Dutzende Male in den letzten Tagen getan hatte. Da war nichts! Lag es also an dem Traumeis, dass er sich veränderte? Barnaba hatte nie erzählt, wozu diese seltsamen Kristalle vom Ende der Welt dienen sollten. Ganz gewiss waren sie voller Zaubermacht. Aber was bewirkten sie?
Sie hatten Hunderte der grünen Kristalle geerntet. Sie waren in allen möglichen Fässern, Kistchen und Krügen gelagert. Alle mit Schnee aufgefüllt, damit die Kristalle während des Transports nicht zerbrechen konnten. Wenn es denn je einen Transport geben würde. Ein Schlitten mit einem Segel … Kolja spuckte über die Flammen des Feuers hinweg nach draußen. So etwas hatte es noch nie gegeben. Und er kam aus einem kalten Land! Im Gegensatz zu seiner bunt gemischten Mannschaft, von denen die meisten vor ihrer Reise in den Norden noch nie Schnee gesehen hatten.
Auf diese Männer zu vertrauen wäre dumm.
Kolja weckte einen der Wolkenschiffer, damit dieser die Wache übernahm, dann kroch er durch den niedrigen Eingang ihres Quartiers ins Freie. Der Wind trieb feine Schneekristalle vor sich her, die ihm wie Nadeln ins Gesicht stachen. Nichts deutete darauf hin, dass die Geister zurückgekehrt waren.
Das Mondlicht war so hell, dass er keine Laterne benötigte, um in den Fässern und Kisten, die im Windschatten der Landungskörbe standen, zu finden, was er suchte. Es war besser, wenn Nabor und die anderen nicht sahen, was er tat. Als Wolkenschiffer würden sie es vielleicht nicht gut aufnehmen. Es war nur ein Strohhalm, nach dem er nun greifen würde, aber vielleicht waren die Götter ihnen zuletzt doch noch gnädig gesinnt.
Er nahm fünf besonders große Traumeiskristalle aus ihrem Vorrat, wickelte sie in Stofffetzen ein und legte sie vorsichtig in eine Ledertasche, die er über der Schulter trug. Dann machte er sich auf den Weg zu Wind vor regenschwerem Horizont.
Der Wolkensammler und das Schiffswrack, das von ihm herabhing, waren zu einer grotesken, furchteinflößenden Eisskulptur geworden. In den ersten Tagen nach dem Schiffbruch war der Schnee, der sich auf dem Rücken des Himmelsgiganten sammelte, durch die Körperwärme noch angetaut. So hatte Eis die Tentakel und die Seile überzogen, die vom aufgedunsenen Leib des Wolkensammlers hinabhingen. Und auch der zersplitterte Rumpf und der Schiffsbaum waren in einen Eispanzer gehüllt. Unzählige Eiszapfen hingen vom Wrack und dem sterbenden Wolkensammler.
Der Wind war ein wenig abgeflaut, als Kolja in das Wrack einstieg. Er hatte eine Dornaxt, wie sie die Steppenreiter nutzten, als Kletterhilfe mitgenommen. Das silberne Licht der beiden Monde ließ das zerstörte Schiff wie einen Palast aus Glas erscheinen.
Vorsichtig tastete sich der Drusnier voran. Er mied die abschüssigen Decks des Wracks, die dort, wo der Rumpf zersplittert war, direkt in den Krater mündeten. Wenn er hier ausrutschte, würde er in den bodenlosen Abgrund stürzen, und das Letzte, was er in seinem Leben sähe, wäre die leibhaftige Göttin Nangog, die tief im Inneren der Welt schlummerte.
Kolja fand eine eisverkrustete Strickleiter, die einmal Teil der Wanten gewesen war, und setzte vorsichtig seinen Fuß darauf. Eis splitterte, doch das zähe Hanfseil hielt. Gefrorene Taue und abgestorbene Tentakel säumten seinen Weg nach oben. Über ihm klirrten Eiszapfen. Er spürte, wie das Takelwerk, das durch die Eiskruste zu einer einzigen Masse verbunden war, durch seine Bewegungen zu schwingen begann. Schon lösten sich die ersten Eiszapfen und stürzten in die Tiefe.
Kolja verharrte. Er hatte Zeit. Es würde noch viele Stunden dauern, bis der Morgen anbrach. Er zog das Messer, das neben der Dornaxt in seinem Gürtel steckte. Knapp eine Armeslänge entfernt sah er die weißen Saugnäpfe eines größeren Fangarms. Woher Barnaba wohl diese Klinge gehabt hatte? Nie zuvor hatte Kolja ein Messer gesehen, das so mühelos durch alles hindurchschnitt. »Was für eine Geschichte würdest du wohl erzählen, wenn du reden könntest?«, murmelte er leise, dann rammte er den Stahl tief in den Fangarm. Knirschend versank die Klinge im gefrorenen Fleisch. Nachdem er mit einigen beherzten Schnitten einen tiefen Spalt geschaffen hatte, schob er das Messer zurück in die Scheide am Gürtel, zog den Pelzfäustling von der Hand und streckte sie nach der Öffnung im Fleisch. Seine Finger tasteten in die Wunde. Der Tentakel war durch und durch gefroren. Hier gab es kein Leben mehr. Er brauchte lebendes Gewebe, wenn er ein Traumeiskristall pflanzen wollte.