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Beklommen sah er nach oben. Immer noch schwangen die Eiszapfen an den Seilen. Manche von ihnen waren so lang wie sein Arm. Sie würden ihn mit der Wucht von Wurfspeeren treffen, wenn sie abbrachen.

Ein Blick nach unten zeigte ihm, dass er schon etwa zehn Schritt über dem Hauptdeck war. Wie weit musste er steigen, bis er einen Fangarm fand, in dem noch Leben war? Still stand er auf der Strickleiter und betrachtete die immer noch schwingenden Taue und Eiszapfen, in denen der Wind ihm sein Totenlied sang. Die Kälte durchdrang seine Kleider, fraß sich in sein Fleisch bis tief in seine Knochen. Er sah wieder nach oben, erforschte das Knäuel aus Seilen, gebrochenen Masten, Tentakeln und zerfetztem Segeltuch. »Wo ist noch Leben in dir?«, fragte er beschwörend. »Ich will dich nicht verletzen. Ich werde dich retten. Gib mir ein Zeichen, Wind vor regenschwerem Horizont!«

Links, etwa drei Schritt über ihm, hing ein gesplitterter Mastbaum. Zwei mächtige Tentakel wanden sich über das eisglitzernde Holz. Das zerfetzte Segel hing wie der Bart eines Riesen davon herab. Dort, dachte Kolja, wenn er dort kein Leben fand, dann müsste er bis ganz hinauf zum ausgemergelten Leib des Wolkensammlers klettern.

Er kletterte weiter die Strickleiter hinauf, vom Klirren der Eiszapfen begleitet. Dann streckte er sich. Doch sosehr er sich bemühte, es fehlten einige Zoll bis zum Ende des Mastbaums. Die Leiter hing zu weit entfernt.

Leise sirrend fielen die ersten Eiszapfen aus dem Gespinst um ihr totes Schiff. Mit hellem Klang streiften sie das Eis an den Seilen und zerbarsten tief unter ihm auf dem Deck. Kolja sprang, hing einen bangen Moment in der Luft und prallte dann auf das zersplitterte Mastende. Seine Hand krallte sich in ein Knäuel gefrorener Taue. Unter dem Aufprall seines Leibes begann der Mast zu schwingen wie ein Rammbock, der das Tor einer feindlichen Stadt aufsprengen sollte. Koljas Beine krampften sich um das rissige Holz. Mit beiden Armen umschlang er es. Immer mehr Eiszapfen lösten sich über ihm. Einige trafen seinen Rücken. Noch hatte er Glück, denn es waren nur kleinere. Er drehte sich, bis er mit dem Leib unter dem Mastbaum hing. So wartete er, bis das Schwingen aufhörte. Wenig später endete auch der Hagel aus Eiskeilen.

Behutsam drehte er sich zurück auf den Mast. Ganz langsam, Zoll um Zoll kroch er den beiden großen Fangarmen entgegen, die sich um die Mitte des Mastes wanden. Auch sie waren von Raureif überzogen und schienen tot zu sein wie alles, was sich in diesem Netz aus Eis und Hanf verfangen hatte.

Kolja zog erneut sein Messer und schnitt den vorderen der beiden Tentakel auf. Endlich floss Blut! Tief unter der Kruste aus Eis war noch Leben. Er verlängerte den Schnitt und zog einen der Kristalle aus seiner Tasche. Vorsichtig wickelte er den Lumpen ab. Das Traumeis war so dick wie zwei seiner Finger und länger als seine Hand. Schillernd brach sich das Mondlicht in den Facetten des grünen Kristalls. Hoffentlich irrte er nicht! Er hob den Kristall an seine Lippen und hauchte einen Kuss darauf. Dann rammte er ihn tief in die klaffende Wunde.

Der Tentakel zuckte auf. Knirschend zerbrach sein Eispanzer, als sich die Windungen vom Mastbaum abrollten. Das Rundholz geriet aus der Balance und kippte nach unten. Kolja packte ein Seil, aber seine Finger fanden auf dem Eispanzer keinen Halt. Er rutschte ab und stürzte in das Netz der gefrorenen Takelage. Verzweifelt griff er um sich. Immer wieder glitt er ab, stürzte ein Stück, wurde von Seilen in seinem Fall gebremst, griff ins Leere und stürzte noch tiefer.

Über ihm peitschte der verwundete Tentakel durch die Takelage, zerriss dicke Taue, als wären es nur Wollfäden, und löste einen Sturm stürzender Eiszapfen aus. Kolja riss seinen verstümmelten Arm zum Schutz über seine Augen, als Dutzende Eiszapfen ihn trafen. Dann prallte er mit dem Rücken auf das schräg stehende Hauptdeck. Er keuchte auf vor Schmerz und rutschte auf dem abschüssigen Deck dem Abgrund entgegen. Verzweifelt zerrte er die Dornaxt aus seinem Gürtel, um ihre Spitze ins Holz zu schlagen. Doch das Ende kam zu schnell.

Als Kolja ausholte, ging sein Hieb ins Leere. Seine Rutschpartie war beendet. Ungebremst schoss er über den Rand des zersplitterten Decks hinweg in die Tiefe.

Nur ein Schatten

Kolja ließ sie los. Die Dornaxt, die ihm nicht mehr helfen würde. Jede Hoffnung, doch noch irgendwie dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, war dahin. So viele Kämpfe hatte er überlebt. Er hatte mehr Glück in seinem Leben gehabt, als einem einzelnen Menschen von den Göttern zugestanden wurde. Nun war sein Glück aufgebraucht. Er weitete die Arme und lachte. Ob er auf der Brust Nangogs zerschmettert werden würde? Einem Busen wie ein Gebirge. Eigentlich kein schlechtes Ende, auch wenn er deutlich lieber im Bett der Seidenen gestorben wäre. Aber die lag nun sicher in Tarkons Bett, in …

Ein harter Ruck beendete den Sturz. Brennender Schmerz durchfuhr ihn. Er hatte das Gefühl, sein rechtes Bein würde ihm ausgerissen. Und dann stürzte er erneut. Doch diesmal nach oben, dem Rand des Kraters entgegen.

Wild mit den Armen um sich schlagend, bäumte er sich auf und sah nach oben. Ein dünner Fangarm hatte seinen Knöchel umschlungen. Wind vor regenschwerem Horizont lebte! Und der Wolkensammler war sich bewusst, was um ihn herum geschah. Er hob Kolja aus dem Abgrund und bettete ihn sanft auf eine Schneewehe nahe dem Kraterrand. Der Drusnier spürte die Gedanken des Wolkensammlers. Da war keine Stimme in seinem Inneren, sondern einfach nur Bewusstsein. Wind vor regenschwerem Horizont hatte erkannt, dass Kolja ihn nicht mutwillig verletzen, sondern ihm hatte helfen wollen. Und er war dankbar dafür. Zumindest glaubte Kolja es. Ohne Worte blieb alles vage.

Ich kann auch zu dir sprechen, obwohl deine Sprache nicht tiefgründig genug ist, um wirklich ausdrücken zu können, wie ich denke und empfinde.

»Äh, was?« Kolja rieb sein schmerzendes Bein. Dieses Gerede hier war ihm nun eindeutig zu hoch.

Stell dir vor, wir beide sitzen in einer Höhle und du blickst auf eine glatte Felswand vor dir. Ich sitze hinter dir. Und hinter mir brennt ein Feuer. Die Flammen werfen unser beider Schatten auf die Felswand. Ich bin ein Fremder für dich. Ich habe nach dir die Höhle betreten, und ein Bannzauber verhindert, dass du dich zu mir umdrehen kannst. Alles, was du von mir kennst, ist mein Schatten. So ist es mit deiner Sprache für mich. Von dem, was ich dir sagen möchte, bleibt nur noch ein Schatten, wenn ich es in Worte für dich kleide. Geteilte Gefühle sind viel unmittelbarer.

»Mir ist es aber lieber so«, entschied Kolja. »Gefühle sind nicht so greifbar wie Worte.« Er spürte, dass seine Antwort Wind vor regenschwerem Horizont traurig stimmte. »Werden wir sterben?«

Ja, das ist unser Schicksal. Es ist der Tod, der dem Geschenk des Lebens seinen Wert gibt. Doch, ob wir hier sterben, weiß ich nicht. Der Tod ist uns sehr nahe. Ebenso wie die Große Göttin. Doch ich spüre sie nicht. Sie ist nicht in meinen Gedanken. Ich glaube, sie nimmt keinen Anteil an unserem Schicksal. Vielleicht weiß sie nicht einmal, dass wir hier sind und ihre gefrorenen Träume stehlen.

»Aber kommen wir von hier weg?«

Ich weiß es nicht. Ich kann nicht in die Zukunft sehen.

Kolja blickte zu dem riesigen, geschundenen Wolkensammler auf, der von der Felsnadel hing. Es war schwer zu akzeptieren, dass so ein gewaltiges Geschöpf genauso hilflos war wie er.