»Was macht das Traumeis mit uns?«, fragte der Drusnier schließlich nach langem Schweigen.
Es erfüllt uns unseren geheimsten Wunsch, glaube ich. Ich kann spüren, wie ich mich zu verändern beginne. Es ist kein angenehmes Gefühl. Du kennst es ja.
»Das ist doch eine gute Sache. Ich freue mich, wenn mir wirklich mein Arm nachwachsen sollte.«
Ich bin mir nicht so sicher, ob es wirklich gut ist.
»Du hast leicht reden!«, zischte Kolja wütend. »Du hast Hunderte Arme. Du kannst nicht ermessen, wie es ist, wenn man nur zwei hat und einer fehlt.«
Da hast du sicher recht. Aber überlege, Kolja, was unsere geheimsten Wünsche sind. Sind es nicht oft Wünsche, die aus der Freiheit geboren wurden, dass wir genau wissen, dass sie sich niemals erfüllen werden. Wird es nicht am Ende allen schaden, wenn diese Wünsche wahr werden?
»Das ist mir zu hoch.« Insgeheim wünschte Kolja sich, der Wolkensammler wäre immer noch stumm. Mit dem Unsinn, den er von sich gab, konnte er nichts anfangen. Und das verunsicherte ihn. Ein so riesiges Geschöpf, das angeblich sieben Gehirne hatte, konnte doch nicht dumm sein. Das bedeutete im Umkehrschluss, dass er zu dämlich war, um zu begreifen. Der Gedanke gefiel ihm gar nicht! »Was schadet es, wenn meine Narben verschwinden und mir der Arm nachwächst?«
Bist du mit einem Arm ein gefährlicher Krieger? Mit zwei Armen wird es dir noch leichter fallen, andere umzubringen.
Kolja schnaubte. Eine richtige Antwort war ihm das nicht wert.
Es stimmt. Das war sehr flach und oberflächlich. Du wünschst dir, wieder jung zu sein. Der Mann, der vor vielen Jahren mit schlotternden Knien zum ersten Mal in eine Arena getreten ist.
»Mir haben nie die Knie geschlottert!«
Kolja, ich bin in deinen Gedanken. Ich kann all deine Erinnerungen sehen. Du warst ein hübscher Mann. Es ist dir leichtgefallen, Frauen zu betören, und du hast von dieser Gabe reichlich Gebrauch gemacht, ohne einer von ihnen wirklich dein Herz zu schenken.
»Warum sollte ich mich an nur eine hängen, wenn ich fast alle haben kann. Das wäre doch dumm.«
Ja, dumm bist du nicht. Obwohl du sehr jung warst, hast du sehr schnell begriffen, dass die meisten der Frauen nur an einer Nacht mit dem strahlenden Arena-Helden interessiert waren. Sie wollten deine Stärke spüren und deine Leidenschaft. Sie wollten im Glanz deines Ruhmes stehen. Wer du wirklich bist, war ihnen egal. Du hast dein Herz für dich behalten, weil es sich keine von ihnen verdient hatte.
»Sentimentales Geschwafel«, schnaubte Kolja. Dieses Gerede war ihm unangenehm. Er war sich ziemlich sicher, dass er seine Gefühle im Grunde gut verbergen konnte. Und allzu viele Gefühle hatte er zum Glück auch nicht. Gefühle machten nur Kopfschmerzen und ließen einen nachts schlecht schlafen. Und dann kam so eine aufgedunsene Himmelswurst mit Tentakeln und erzählte ihm, wer er war. Das brauchte er nicht!
So, wie du im Augenblick bist, besteht keine Diskrepanz zwischen deinem Inneren und deinem Äußeren.
Kolja schluckte. Das war verständlich und direkt gewesen. »Du findest also, ich sei ein Monster, und so sehe ich auch aus. Es stimmt … Kleine Kinder haben Angst vor mir, wenn sie mich sehen. Und auch die meisten Erwachsenen.«
Du trägst Narben auf deinem Leib wie auf deiner Seele. Der Mann, der du einmal warst, der hübsche, starke Jüngling, der mit zitternden Knien in die Arena trat, den gibt es schon lange nicht mehr.
»Wie auch!«, begehrte er auf. »Hast du eine Ahnung, wie es ist, wenn man dir einen Lederriemen mit Eisennieten darauf in die Fresse haut und das Publikum vor Begeisterung grölt, wenn du vor Schmerz schreist und Blut spuckst.«
Nein. Die Stimme in Koljas Gedanken klang nicht herablassend, sondern ganz und gar aufrichtig und mitfühlend. Man kann dich mögen oder auch nicht, aber du bist auf deine Art aufrichtig. Du machst niemandem etwas vor. Du lebst in einer Welt der Gewalt, und du kommst bestens damit klar, denn du schreckst nicht davor zurück, deine Ziele gewaltsam durchzusetzen. Du bist skrupellos, aber nicht grausam. Du findest keinen Gefallen daran, Gewalt einzusetzen. Du quälst niemanden, um dich an deiner Macht über ihn zu berauschen. Allerdings bist du bereit, deine besten Freunde, wie etwa Volodi, zu verraten, wenn es dir nützlich erscheint. Wirst du wieder ein hübscher Jüngling, dann werden die Menschen, die dich nicht kennen, dir mit Vertrauen und Zuneigung begegnen, statt vom ersten Augenblick an auf der Hut zu sein. Sie ahnen ja nichts von den Narben auf deiner Seele. Versteh mich nicht falsch. Ich urteile nicht über dich, Kolja. Das steht mir nicht zu. Und ich weiß sogar, dass es dir leidgetan hat, Volodi den Zapote auszuliefern. Du hast den Nutzen der Zinnernen über den deines Freundes gestellt. Das ist ja im Grunde ein edles Motiv.
»Ich könnte mich ja ändern«, entgegnete der Drusnier trotzig. Nie hatte jemand so klar mit ihm gesprochen, ihn so tief durchschaut. Nicht einmal Volodi. »Wenn ich wieder ein hübscher, junger Mann bin, werde ich vielleicht auch wieder so freundlich, wie ich einmal war. Es könnte ja einen guten Einfluss auf mich haben, wenn nicht allen Menschen, die mir begegnen, Angst und Abscheu ins Gesicht geschrieben stehen.«
Du wirst dich ganz sicher verändern. Wir alle tun das. Jeden Tag. Nur eins ist Illusion. Es gibt keinen Weg zurück, niemals. Ein Baum wird nicht mehr zum Sprössling, ganz gleich, wie sehr er es sich wünscht. Ein Wolf, der Blut geleckt hat, wird nie wieder der verspielte Welpe sein, der die Milch seiner Mutter trinkt. Horch in dich hinein. Du weißt, dass es so ist. Den netten Jüngling haben sie in den Arenen aus dir herausgeprügelt. Es gibt ihn nicht mehr. Was geblieben ist, ist ein Mann, der immer wieder aufsteht, ganz gleich, wie viel er einstecken muss. Du musst erst deinen letzten Atemzug getan haben, bevor du eine Niederlage akzeptierst.
»Ich bin jedenfalls kein weinerliches Weichei.« Kolja spürte, wie die Worte den Wolkensammler amüsierten.
Weichei … Manchmal ist eure Sprache doch überraschend. Plötzlich wirkte der Wolkensammler beunruhigt. Einige der Tentakel oben am Schiffswrack wanden sich und lösten einen erneuten Hagel von Eiszapfen aus. Es wirkt, das Traumeis. Ich kann es spüren. Überrasche mich, Kolja. Zeige mir, dass Menschen etwas vermögen, was wir nicht können, ihren Charakter verändern! Lasse auch die Narben auf deiner Seele heilen.
Kolja hielt für eher unwahrscheinlich, dass er ein netter Mann würde, wenn er wieder wie früher aussähe. »Wovon träumst du?«
Davon, wovon alle Wolkensammler träumen. Vom Fliegen.
»Aber du fliegst doch schon …«
Wind vor regenschwerem Horizont löste den Tentakel, der die ganze Zeit um Koljas Fußgelenk geschlungen gewesen war, und zog sich zurück. Die Verbindung zwischen ihnen war damit abgerissen. Das Letzte, was Kolja mit fast schmerzhafter Intensität gespürt hatte, war die Angst des Wolkensammlers. Angst vor dem Fliegen!
Er sah zu der riesigen, geschundenen Kreatur auf. Wind vor regenschwerem Horizont hatte ihn ganz und gar durchschaut, aber umgekehrt war ihm der Wolkensammler ein Rätsel geblieben.
Roter Traum
»Du gibst wohl niemals auf?« Der Torwächter vor Amalaswinthas Höhlenpalast stellte sich ihm breitbeinig in den Weg. »Du magst der Bewahrer der Goldenen Axt und der neue Günstling Eikins, des Alten in der Tiefe, sein, doch in der Gunst meiner Herrin stehst du nicht.« Der Krieger grinste ihn frech an. »Man kann eben nicht alles haben.«
»Könnte ich ihr denn vielleicht dies Geschenk überreichen?« Hornbori hob die dunkel gebeizte, mit filigranen Messingbeschlägen geschmückte Kiste hoch, von deren Inhalt er erhoffte, vielleicht doch noch Amalaswinthas kaltes Herz für sich zu erwärmen. Sie sollte sich nicht so anstellen. Schließlich hatten es Galar, Glamir und Nyr dank des Verrats von Bailin geschafft zu fliehen. Er hatte sie also nicht geköpft. Außerdem hatte er der schönen Zwergin ja in aller Deutlichkeit gesagt, dass ihm diese Entscheidung schier das Herz zerrissen habe.