»Ein Drachentöter?«
Eikin lachte. »Nein, ein hervorragender Krieger, der ein Kommando über die besten Truppen verdient hat. Ich möchte doch nicht sein Verderben.«
»Und wenn er als noch größerer Held wiederkehrt? Wird er dann nicht noch gefährlicher?«
Eikin schwang die Beine aus dem Bett, kam zu ihr herüber, nahm ihr die Karaffe aus der Hand und tat selbst einen tiefen Schluck. »Ein Held? Ich glaube, er ist allenfalls ein Maulheld. Weißt du, was richtige Krieger mit so einem machen, wenn er plötzlich das Kommando über sie führt? Sie sorgen dafür, dass er im nächstbesten Gefecht einen Unfall hat. So einer muss seine eigenen Männer mehr fürchten als den Feind.«
Kurz bedauerte Amalaswintha Hornbori. Nicht zu sehr. Eine einzige Zwergenstadt war einfach zu klein für zwei mit so großen Ambitionen. Aber er war ein guter Liebhaber gewesen. Sie würde zu den Alben beten, dass er einen schnellen Tod fand.
Weisser Tod
»Drei oder vier Tage waren wir marschiert, als das große Sterben begann. Es war eine gar schreckliche Einöde, durch die wir zogen. Keinen Baum gab es, keinen Strauch. Nur Eis und Fels. Es gab nichts mehr, um nachts Feuer zu machen. Immer mehr Kameraden setzten sich einfach am Wegesrand nieder und warteten darauf, dass der Tod zu ihnen kam. Doch oft war es nicht der Frost, der ihr Leiden beendete. Jene, die noch mehr Kraft und Willen besaßen, plünderten sie, während sie noch lebten. Stahlen ihr Essen und ihre Kleider. Decken und Mäntel, Felle, die sie sich um die Beine wickelten, und Mützen, die vor dem eisigen Wind schützten. So wurden sie nackt ihrem Schicksal überlassen.
Anfangs geschah das Plündern nur nachts. Aber nach einigen Tagen wurden die Sterbenden auch am helllichten Tag und vor aller Augen beraubt. Und fast niemand scherte sich darum. Kaum einmal erhielten sie Hilfe. Jeder kämpfte nur noch für sich selbst.
Umso mehr stachen die Ausnahmen ins Auge. Gelegenheiten, bei denen sich Selbstlosigkeit und Heldenmut zeigten. So bei den Männern von den Schwimmenden Inseln. Ihnen setzte die Kälte mehr zu als allen anderen, denn in ihrer Heimat kannten sie keinen Winter.
Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sich die Krieger bei jeder Rast und zum Nachtlager um den Unsterblichen Keanu versammelten. Sie drängten sich alle dicht aneinander zu einem großen Kreis und nahmen den Unsterblichen in ihre Mitte, sodass sie einander wärmten und sich vor dem Nordwind schützten, der die bösen Geister brachte.
Denn sie waren das schlimmste Übel! Zu jeder Stunde an jedem Tag setzten sie uns zu. Ihre Berührung brachte den Tod. Und töteten sie nur genug von uns, dann wurden aus den Geistern Gestalten aus Fleisch und Blut.
In Fleisch gekleidet waren sie aber auch verwundbar. So sah ich, wie der Unsterbliche Ansur, Günstling des Lebenden Lichts und Herrscher meiner Heimat, mit dem Schwerte eines dieser Ungeheuer anging und es erschlug. Nie werde ich diesen Heldenmut vergessen, der auch die Herzen der Verzagten höher schlagen ließ.
Den höchsten Ruhm aber erwarb sich nicht ein Krieger, ja, nicht einmal ein Mann. Es war ein Weib, das alle nur die Trösterin nannten. Sie war stets bei den Letzten der Marschkolonne, dort, wo es am gefährlichsten war. Sie kümmerte sich um die Verwundeten, die Kranken und Erschöpften. Ohne Ansehen von Rang und Volk. Alle, mit denen ich gesprochen habe, haben Geschichten über sie gehört. Ihr Ruhm überstrahlte den eines jeden Unsterblichen. Sie war eine Heilige für uns.
Nach meiner Rückkehr habe ich sie gesucht. Auch andere wollten sie aufspüren und ihr danken. Doch die, die so vielen das Leben rettete, vermochte sich zuletzt wohl selbst nicht zu helfen. Ihre Spur verlor sich in den letzten Tagen des Rückzugs. Alles, was blieb, war ihr Name. Die Trösterin. Und ich weiß, dass heute noch Männer auf allen Kontinenten ihren Namen in ihre Gebete einschließen, wenn die Nacht kommt und in der Dunkelheit die Schrecken der Vergangenheit wieder aufleben (…)«
Die Trösterin
Aus den Augenwinkeln sah Shaya die beiden Streitwagen der Daimonen. Sie folgten den Nachzüglern schon den ganzen Vormittag. Hin und wieder kamen sie näher, schossen zwei oder drei Pfeile ab und zogen sich wieder zurück. Jedes ihrer Geschosse fand ein Ziel. Ihre Treffsicherheit war ebenso unheimlich wie die Tatsache, dass weder ihren Pferden noch der Besatzung des Streitwagens die Kälte etwas anzuhaben vermochte.
Shaya beugte sich über einen Krieger von den Schwimmenden Inseln. Es war ein großer, stattlicher Mann, der sicher noch ein langes Leben vor sich gehabt hätte, wäre er nicht seinem Unsterblichen in diese verfluchte Eiswüste gefolgt. Er hatte sich Streifen von zerschnittenen Decken um die Beine und Füße gewickelt und eine Decke, in deren Mitte er ein Loch geschnitten hatte, über den Kopf gezogen und mit einem Seil in Hüfthöhe festgezurrt. Darunter trug er nur eine dünne Tunika. Das war zu wenig, um der schneidenden Kälte zu widerstehen.
Sein Atem ging rasselnd. Er hatte eine Lungenentzündung und hohes Fieber. Würde man ihn in ein geschütztes Lager bringen, würde Shaya ihn ganz sicher retten können. Doch hier draußen … Selbst seine eigenen Kameraden waren an ihm vorübergegangen. Sie waren zu schwach, um ihn zu tragen. Also blieb er zurück.
Sie strich ihm sanft über das tätowierte Gesicht. Es zeigte das Bild eines Fisches mit weit aufgerissenem Maul. Seitlich an den Schläfen waren Augen unter die Haut gestochen. Ein Bild zum Fürchten. Aber dieser Mann hatte nichts Schreckliches mehr an sich. Er war kein Schwächling, aber er würde sterben. Nur würde sein Tod wie sein Leben sein, ein langer Kampf. Sie konnte ihm das Gehen erleichtern.
»Möchtest du schlafen?«
Seine rot entzündeten Augen wandten sich ihr zu. Kein Muskel bewegte sich in seinem Gesicht. Doch in seinem Blick lag Zustimmung.
Sie rollte das Tuch auf, in dem ihre goldenen Nadeln steckten. Ihr kostbarster Besitz. Durch Shen Yi Miao Shou wusste sie um die Geheimnisse der richtig gesetzten Nadeln und ihre Macht. Shaya tastete nach dem Punkt, der drei Fingerbreit hinter seinem rechten Ohr lag. Die Nadel war leicht zu setzen. Der Schädel des Kriegers war kahl geschoren.
Leise summte sie ein Schlaflied aus ihrer Kindheit. Es dauerte keine dreißig Herzschläge, bis die Lider des Kriegers sanken. Er atmete tief und regelmäßig durch den Mund. Es war ein Schlaf, aus dem es in dieser Kälte kein Erwachen für ihn mehr geben würde.
Shaya hatte einmal gehört, dass einen schöne Träume in den Erfrierungstod begleiteten. Hoffentlich stimmte das, dachte sie betrübt. Auch wenn sie sich als Heilerin verstand, so schenkte sie in diesen Tagen doch viel öfter den Tod als das Leben.
Ein Schatten fiel auf sie. Vor ihr stand ein Jaguarmann. Ein schwarzer Umhang war sein einziges Zugeständnis an die Kälte. Shaya hoffte, dass er vernünftig genug war, das schwarze Fell, das er trug, mit Lumpen unterfüttert zu haben.
»Erweist du mir dieselbe Gnade, wenn meine Stunde kommt?«
»Ich hoffe, das wird nicht notwendig sein.«
Ein bitteres Lächeln spielte um seine Lippen. »Das hoffe ich auch. Nun komm … Du bist zu weit hinten. Du wirst den Anschluss an die Nachhut verlieren, wenn du hier weiter verweilst.«
Einige andere Jaguarmänner huschten vorüber. Sie waren wie lebende Schatten. Jedes Mal, wenn Shaya einen von ihnen sah, lief ihr ein Schauder über den Rücken. Sie hatten etwas an sich, das sie von allen anderen Menschenkindern unterschied. Und das war nicht nur ihre Verkleidung …