Behutsam zog Shaya die goldene Nadel. Der tätowierte Krieger erwachte nicht. Immer noch ging sein Atem regelmäßig. »Schlaf wohl«, sagte sie leise und schob die Nadel wieder in das rote Seidentuch. Dann rollte sie es zusammen und verstaute es sorgsam in einem Lederbeutel. »Wie ist dein Name, Jaguarmann.«
»Necahual.«
»Ich werde ihn in mein Schlaflied aufnehmen, wenn deine Stunde gekommen ist, Necahual.« Sie wog den fremden Namen auf der Zunge. Er passte gut zu dem Mann mit dem harten Gesicht, der vor ihr stand.
»Nun kommt!« Er sagte es ohne Hast und ohne unfreundlich zu klingen, aber doch auf eine Art, die keinen Widerspruch duldete. Er war dazu geboren, Befehle zu geben. Er hatte es sein ganzes Leben lang getan. Es war seine Art geworden. Seine Selbstsicherheit hatte etwas Beruhigendes.
»Du siehst ausgezehrt aus. Hast du genug zu essen?«
Shaya schüttelte den Kopf. Ein ganzer Tag war vergangen, seit sie einen Kanten trockenen Brots als Mahl gehabt hatte. Necahual schob die Krallen zurück, die über seine Hand hinausragten, und fasste durch eine seitliche Öffnung im Fell, das seine Brust umschloss. Er zog einen Streifen Trockenfleisch hervor und reichte ihn ihr. Er war noch warm von seinem Körper. Dankbar nahm Shaya das Geschenk an.
Ein schriller Schrei ließ die Heilerin erschrocken auffahren. Ninwe kam ihnen entgegengelaufen. Ihr offenes, rotes Haar wehte wie eine Fahne hinter ihr her. Voller Panik, immer wieder hinter sich blickend, stürmte sie den Hang eines flachen Hügels hinab und hüpfte dabei seltsam. Shaya war schon seit zwei Tagen aufgefallen, dass es ihrer Freundin schwerfiel zu gehen. Ninwe hatte es überspielt und machte Witze über ihre kleinen, zarten Füße. »Sie sind da! Vor uns!«, schrie sie nun und geriet ins Straucheln. Mit den Armen rudernd, stürzte sie in den Schnee und rollte ein Stück den Hang hinab.
Shaya eilte zu ihr. »Alles in Ordnung?«
Ninwe schüttelte sich. Dann klopfte sie den Schnee aus ihrem kostbaren Pelzmantel. »Die Geister! Sie … Sie sind vor uns. Wir sind verloren. Sie …« Ihre Stimme brach. Sie brachte nur noch Schluchzer hervor.
Necahual schickte mit einer Handbewegung einen seiner Jaguarkrieger den Hang hinauf. Der Mann schlich bis zum Hügelkamm, verharrte kurz und kam dann eilig zu ihnen zurück. Ruhig erstattete er seinem Anführer Bericht.
»Im Windschatten des Hügels lagern über hundert Erschöpfte. Die Windgeister sind über sie hergefallen. Sie speisen … Wir müssen schnell weiter.«
Shaya betrachtete das zerklüftete Gelände abseits des Weges. Es war von Felsabbrüchen durchsetzt.
»Mach dir keine Sorgen, Trösterin. Wir werden entlang des Hügelkamms gehen. Wir meiden die Senke dahinter.«
»Aber wenn wir auf dem Kamm die Senke umrunden, werden die Geister uns sehen.«
Necahual lächelte selbstsicher. »Sie sind wie Raubtiere. Solange sie fressen, ist ihnen andere Beute egal. Wir dürfen sie nur nicht bei ihrem Mahl stören. Komm!«
Mit einem unguten Gefühl sah Shaya zum Hügel hinauf. Sie erinnerte sich an Wolfsjagden in ihrer Jugend. Fressende Wölfe waren zwar darauf bedacht, ihre Beute zu sichern, aber nicht wirklich angriffslustig, wenn man sie in Ruhe ließ. Aber hier ging es nicht um Wölfe.
Ninwe war leicht schwankend wieder auf die Beine gekommen. Ihr Hinken war nicht mehr zu übersehen. Ob sie sich beim Sturz noch zusätzlich verletzt hatte? Sie trug gute, hohe Stiefel, mit einer breiten Pelzstulpe um die Knie.
»Wir werden sie zurücklassen müssen. Sie ist zu langsam. Mit ihr zusammen werden wir die Nachhut nicht einholen, bevor die Geister ihr Mahl beendet haben.«
»Sie ist meine Freundin. Ich werde sie nicht im Stich lassen. Wenn sie zurückbleibt, dann werde auch ich die Nachhut nicht erreichen.« Shaya nahm Ninwe in die Arme und hörte, wie Necahual leise in seiner Muttersprache fluchte.
»Sie sind …«, begann Ninwe wieder. Sie zitterte am ganzen Körper, und ihr Atem ging schwer.
»Ssshh.« Shaya legte ihr eine Hand auf die Lippen. »Sie werden uns nichts tun. Die Jaguarmänner werden uns beschützen.«
»Die finde ich fast genauso unheimlich wie die Geister«, flüsterte die dicke Hure. »Warum flucht der Kerl?«
»Weil er mich nicht ins Bett bekommen wird«, entgegnete Shaya lachend.
»Wenn er uns in Sicherheit bringt, darf er bei mir mal umsonst.« Ninwe sagte das so niedergeschlagen, als hätte sie nicht den geringsten Zweifel daran, dass die Geister sie alle töten würden.
Shaya hakte sich bei ihr unter. »Na, dann werde ich heute Abend wohl zwei Decken für euch besorgen müssen.«
Ihre Freundin antwortete nicht darauf, sondern sah sie einfach nur traurig an.
Gemeinsam stiegen sie den Hang hinauf, als Necahual sie mit seinen vier Kriegern einholte.
»Wir tragen das Rothaupt!«, sagte er entschieden. »Aber nur bis wir zur Nachhut aufgeschlossen haben.« Zwei seiner Männer hielten einen Speer zwischen sich und machten Ninwe Zeichen, sich auf den Schaft zu setzen. Mit je einer Hand hielten sie die Waffe, mit der anderen stützten sie die Hure, als sie Platz nahm. Dann eilten sie zügig dem Hügelkamm entgegen.
Ninwe jauchzte vor Freude, schlang ihren beiden Trägern die Arme um den Nacken und gab dem Rechten einen schmatzenden Kuss auf seinen Jaguarhelm.
»Sei still, Weib!«, schimpfte Necahual. »Wir wollen die Geister nicht unnötig auf uns aufmerksam machen!« Dann wandte er sich an Shaya. »Ich tue das für dich, nicht für sie. Wir dürfen dich nicht verlieren. Du bist der größte Schatz all derer, die keine Hoffnung mehr haben, Trösterin. Nun komm und lass uns zu den Göttern beten, dass die Geister ihren Schmaus noch nicht beendet haben.«
Als sie den Kamm erreichten, bot sich ihnen ein Bild des Schreckens. Zwei-, vielleicht sogar dreihundert Flüchtlinge hatten in der lang gezogenen Senke, die Schutz vor dem eisigen Nordwind bot, Zuflucht gesucht. Am Grund der Senke gab es eine heiße Quelle, über der Nebel wogte. Dort war der Schnee geschmolzen, und die Sterbenden drängten sich dicht an dicht, wie Heringe in einem Fass. Einige waren gar in das warme Wasser gestiegen. Ihre Körper trieben nun reglos, die Gesichter nach unten gewandt.
Im Wasser standen zwei der riesigen Gestalten, wie Shaya sie auch schon bei der Brücke gesehen hatte. Sie waren fast vier Schritt groß und völlig nackt. Sah man über die fahlgrüne Haut hinweg, erinnerten ihre Körper an sehr schlanke Menschen. Nur die Köpfe waren ganz anders. Haarlos, nach hinten gekrümmt und von Knochenspiralen umgeben, waren sie mit nichts zu vergleichen, was die Kriegerprinzessin je gesehen hatte. Aufmerksam verfolgten die beiden Kreaturen aus riesigen, schwarzen Augen jede ihrer Bewegungen auf dem Hügelkamm.
Wie gebannt starrte Shaya auf den grünen Rauch, der durch den Nebel über der Quelle wogte. Er verhielt sich widernatürlich, bildete Tentakel, die ans Ufer nach den Erschöpften griffen. Ja, es sah so aus, als würden sie etwas aus den Menschen herauszerren. Einen zähen, leuchtenden Honig, der den Sterbenden aus Mund und Nase troff, während sie auf herzzerreißende Weise stöhnten. Dabei wurde der Rauch immer dichter, bis sich daraus schließlich weitere Körper wie die der beiden Kreaturen formten.
»Nicht hinsehen«, drängte Necahual. »Deine Seele wird Schaden nehmen, wenn du zu genau siehst, was dort vor sich geht.«
»Aber wir müssen doch …« Shaya brach ab. Nein, was sie fordern wollte, war blanker Unsinn. Sie konnten denen dort unten nicht helfen.
Niedergeschlagen ging sie zwischen den Jaguarmännern, die lautlos über den Hügelkamm huschten. Necahual hatte recht. Sie würde nie mehr vergessen, was sie da unten gesehen hatte. Allerdings gab es ihr auch die Gewissheit, dass sie das Richtige tat, wenn sie ihre goldenen Nadeln benutzte, um die Unrettbaren in den Tod hineinschlafen zu lassen.
Ein dampfender Kessel
Necahual hatte Wort gehalten und sie und Ninwe zur Nachhut gebracht. Shaya war von vielen bereits erwartet worden. Es gab für sie einen Platz am einzigen Feuer, das sie entdecken konnte. So wie an den Abenden zuvor kochte sie einen Sud aus ihren Kräutern, der jenen, deren Atem rasselnd ging, ein wenig Erleichterung verschaffte. Mehr und mehr Männer drängten zu dem Feuer. Es reichte bei Weitem nicht für alle, und Shaya musste ihre Kräuter einteilen. Für mehr als zwei Tage würden sie ohnehin nicht mehr reichen.