Seine Augen wurden schmal. »Ich weiß nicht, was du mit Shanadeen gemacht hast, aber mich schüchterst du nicht ein, kleine Herrin. Du wirst …«
Bidayn wirbelte herum und versetzte ihm einen Tritt seitlich neben die Kniescheibe, dass sein Gelenk krachte. Er stöhnte auf, brach nieder, wollte nach ihr greifen und packte doch nur ins Leere. Ein zweiter Tritt von ihr traf ihn unter das Kinn. Er wurde nach hinten gerissen. Speichelfäden wirbelten von seinem fleischigen Stiermaul, während er hintenüber in den Staub stürzte. Sein Kamerad sah mit aufgerissenen Augen zu. Graumur zu Boden zu schicken hatte weniger als drei Herzschläge gedauert.
Bidayn trat neben ihn und stellte ihm einen Fuß auf die Kehle, ohne jedoch Druck auszuüben. »Nenne mich in Anwesenheit von Fremden nie wieder kleine Herrin. Habe ich meinen Wunsch deutlich genug formuliert oder muss ich ihm noch mehr Nachdruck verleihen.«
Graumur sagte nichts. Er starrte sie nur an. Es lag kein Zorn in seinem Blick. Nur Unglaube. Offensichtlich vermochte er sich nicht zu erklären, wie eine zierliche Elfe, die nicht einmal ein Fünftel seines Gewichtes hatte, ihn binnen Augenblicken zu Boden geschickt hatte.
»Du hast mich überrascht«, sagte er schließlich benommen.
Bidayn nickte. »Wahrscheinlich habe ich dich nur auf dem falschen Fuß erwischt.« Sie nahm ihren Fuß von seiner Kehle und trat ein Stück zurück. »Wenn du und dein Kamerad so freundlich sein könntet, die Plane außen an der Mauer zum Hof einzuhaken, wäre ich euch sehr dankbar.«
Der zweite Minotaur duckte sich ohne ein weiteres Wort durch das kleine Tor. Graumur rappelte sich auf. »Du hattest Glück«, murmelte er mürrisch und rieb sich sein Kinn.
»Ich habe immer Glück.«
Das schien der Minotaur begriffen zu haben. Er wirkte alarmiert. Schweigend duckte auch er sich durch die Tür. Von der Gasse her bedachte er sie noch einmal mit einem langen Blick. Dann schloss er die Tür.
Bidayn hörte, wie die beiden auf der anderen Seite der Mauer das Sonnensegel festzurrten und dabei tuschelten. Sie murmelte ein Wort der Macht, und nichts, was gesprochen wurde, entging ihr. Graumurs Gefährte war noch mehr beeindruckt als der alte Kämpe. Bidayn war sich bewusst, dass sie vorschnell gehandelt hatte. Die beiden würden einen trinken gehen und reden. Und auch wenn Graumur seinen Part darin hasste, die Geschichte würde die Runde machen und ihren Weg zum Fürsten Sekander finden, der, wie es schien, Geschichten über sie sammelte. Sie lächelte selbstsicher. Was machte es, wenn sich ein Kentaur den Kopf über sie zerbrach. Sie konnte ihm unendlich viel gefährlicher werden als er ihr. Wenn er klug war, würde er das sehr bald begreifen.
Bidayn ging zur Mitte des Hofs und setzte sich in den warmen Sand. Bald würden sie kommen. Sie hatte sie alle für den heutigen Morgen einbestellt. Lange hatte sie darüber gegrübelt, wo sie zusammenkommen sollten. Halbe Tage war sie durch das Umland Uttikas gestreift und hatte nach einem geeigneten Ort gesucht. Nicht zu weit entfernt und doch so einsam, dass kein zufälliger Beobachter etwas sehen konnte, was nicht für die Augen einfacher Albenkinder bestimmt war.
Zuletzt war sie auf den Hof des Stadtpalastes verfallen. Sie hatte alle Türen und Fensterläden so verändern lassen, dass man sie vom Hof her verschließen konnte und sie dann nicht mehr von innen zu öffnen waren. Kein Spalt war geblieben, durch den man sie hätte beobachten können. Das Sonnensegel aus geteertem Stoff war der krönende Abschluss. Sie war sich bewusst, dass es viel Gerede geben würde. Aber selbst die verrücktesten Geschichten würden der Wahrheit nicht einmal annähernd nahekommen.
Das Gerede vor der Hofmauer verstummte. Bidayn hörte, wie sich die schweren Schritte der Minotauren entfernten. Sie sprachen über eine Schankstube am Hafen. Dort also würden die wilden Geschichten ihren Anfang nehmen. Sie schmunzelte. Sie hatte sich selbst schon überlegt, auf welche Weise sie Gerüchte in Umlauf bringen könnte. Es war besser, den Tratsch zu beherrschen, statt sich ihm auszuliefern.
Die Tür, die von der Gasse zum Hof führte, öffnete sich. Eine Gestalt, die einen breitkrempigen Strohhut trug, von dem ein halb durchscheinender Schleier bis hinab auf den Boden reichte, trat ein. Sie stützte sich auf einen Bambusstock. Es war die Tracht der blinden Märchenerzähler von Tanthalia. Sie waren auf ganz Albenmark berühmt und geachtet.
Anmutig nahm die verschleierte Gestalt ein Stück von Bidayn entfernt Platz. Durch den dünnen Stoff war nur vage eine Frauengestalt in einem weißen Kleid zu erkennen. Kyra. Auch wenn sie mühelos jedes beliebige Publikum mit ihren Geschichten eine ganze Nacht lang in ihren Bann zu schlagen vermochte, war sie noch viel mehr als nur eine Märchenerzählerin. Eine Drachenelfe, eine Zauberweberin und eine Meuchlerin. Eine der Letzten, die zur Meisterin erwählt wurde, bevor die Weiße Halle aufhörte zu existieren.
Als Nächstes kam Valarielle durch das kleine Tor zur Gasse. Bidayn kannte sie seit ihren Tagen beim Schwebenden Meister. Sie war in den ersten Wochen, die Bidayn in der offenen Höhle hoch in den Bergen verbracht hatte, noch unter den Schülern des weißen Drachen gewesen. Schon damals war Valarielle eine düstere Erscheinung gewesen. Daran hatte sich in den Jahren nichts geändert. Doch die Drachenelfe war auch eine der besten Zauberweberinnen, denen Bidayn je begegnet war. Und sie hatte sich stets für die dunkleren Spielarten der Magie interessiert.
Die Elfe, die eine schwarze Stute am Zügel auf den Hof führte, war schmal und hochgewachsen. Ihr Gesicht blieb im Schatten einer weiten Kapuze verborgen. Sie trug ganz gegen die Gepflogenheiten der Meisterinnen der Weißen Halle kein weißes Kleid, sondern einen eng anliegenden Lederkürass, der jede Wölbung ihres Leibes nachmodellierte. Darunter eine schwarze Bluse mit hohem, steifem Kragen. Ganz unfeminin hatte sie eine enge schwarze Hose und hohe schwarze Stiefel als Beinkleider gewählt. Bidayn hatte immer gern Röcke und Kleider getragen, aber sie ahnte, dass für das, was kommen würde, Valarielles Gewandung wesentlich zweckmäßiger wäre. Ein fast bodenlanger Kapuzenumhang aus schwarzer Seide rundete das düstere Erscheinungsbild der Elfe ab. Das einzig Glänzende an ihr waren die schwere Silberkette auf ihrer Brust, die den Umhang zusammenhielt, und der silberne Schwertknauf in Form eines Drachenkopfes, der über ihrer rechten Schulter aufragte.
Valarielle sah Bidayn finster an. »Ich gratuliere dir zu deinem überraschenden Erfolg beim Goldenen, Schwertschwester.«
»Es wird unser aller Erfolg sein, wenn wir gemeinsam streiten und uns nicht mit Eifersüchteleien aufhalten«, entgegnete Bidayn ruhig. Sie hatte Valarielle nicht ausgewählt, weil sie sie mochte. Sie brauchte sie. Deshalb würde sie freundlich bleiben, auch wenn es ihr im Grunde ihres Herzens widerstrebte und sie sich fast sicher war, dass ihre Schwertschwester Freundlichkeit als Schwäche missverstehen würde.
Valarielle schlug die Kapuze des Umhangs zurück. Ihr blasses Gesicht, gerahmt von langem, rabenschwarzem Haar, wurde von einem Paar großer, grüner Augen beherrscht. Sie nickte Kyra kurz zu und wandte sich dann sofort wieder an Bidayn. »Wozu brauchst du uns? Wir Drachenelfen sind dazu ausgebildet, allein zu kämpfen.« Sie lächelte spöttisch. »Und ich habe bislang auch noch nie Hilfe gebraucht. Aber auf dich scheint das ja nicht zuzutreffen, nach allem, was man so hört.«
»Vielleicht mangelt es dir ja an kühnen Visionen!« Sie hätte das nicht sagen sollen! Bidayn bedauerte die Worte, kaum dass sie über ihre Lippen gekommen waren.
»Kühne Visionen oder verrückte Fieberträume. Ich bin gespannt …«
Eine kleine Gestalt betrat den Hof. »Ihr seid also schon in kriegerischer Stimmung, bevor wir mit dem Blutvergießen begonnen haben. Sehr schön!«
Für Lemuel, den Maurawan, waren das erstaunlich viele Worte zur Begrüßung. Er war fast einen Kopf kleiner als Bidayn, die selbst nicht besonders hochgewachsen war. Sein mittelbraunes Haar war kurz geschnitten und doch zerzaust. In seinem Blick lag Misstrauen. Er war stets auf der Hut. Durch seine moosgrünen Augen blickte eine verletzte Seele. Die Seele eines Mannes, der stets als Erstes Spott über seine geringe Körpergröße erntete. In der Weißen Halle hatte er zu den Außenseitern gehört. Er kam besser mit Tieren als mit Albenkindern zurecht. Für Nandalees Eskapaden um ihren Bogen hatte er stets Verständnis gehabt. Bidayn war überzeugt, dass auch er sich heimlich im Umgang mit der von den Drachenelfen verachteten Waffe geübt hatte.