Lyvianne stieg hinab zur Nebelbank, die das Tal vor Blicken verbarg. Hier lebte das einzige Geschöpf, das weit genug auf den Pfaden dunkelster Magie gereist war, um vielleicht einen Zauber weben zu können, der mithilfe des Rings den Geist der Hohepriesterin zurück in die Welt der Lebenden zwingen konnte.
Es roch nach Winter. Bald würde der erste Schnee in der Snaiwamark fallen und für viele Monde nicht mehr weichen. Lyvianne mochte den Norden. Sie dachte daran, wie sie Gonvalon geboren hatte, um ihn dann, als er sie als Kind enttäuschte, zum Fraß für die Wölfe zurückzulassen. Sie hatte sich in ihm getäuscht. Dass er überlebt hatte und zum Meister der Weißen Halle aufgestiegen war, war eine der größten Überraschungen ihres Lebens gewesen.
Sie durchquerte den Nebel. Die Luft wurde stickig und unangenehm schwül. Grund dafür waren die heißen Quellen, von denen es mehrere am Talgrund gab. Geröll knirschte unter ihren Stiefeln. Als sie aus dem Nebel trat, beäugten sie einige Hasen neugierig. Sie zeigten keine Scheu, so als würde niemals ein Jäger hierherkommen. Kiefern standen um eine nahe Quelle, die sich in wirbelndem Nebel verbarg.
Lyvianne sah sich um. Sie hatte den Ort, den sie gesucht hatte, um fast hundert Schritt verfehlt. Den jungen Holunderbusch, der sich in voller Blütenpracht zeigte. Entschlossen wandte sie sich nach rechts und schritt auf ihn zu.
Verwesungsgeruch hing in der Luft. Fliegen umschwirrten die weißen Blütenrispen, die ungewöhnlich groß waren.
Du hättest mich sterben lassen sollen. Die Stimme war wie ein Nadelstich in ihren Gedanken. Du hast mir keinen Gefallen getan, als du mich hierhergebracht hast.
»Du lebst, Matha Naht.«
Nein, ich vegetiere! Was hast du aus mir gemacht! Ich locke Fliegen mit dem Verwesungsgeruch meiner Blütenrispen an und weide mich an ihrer Todesqual, wenn sie auf den klebrigen Blütenstempeln verenden. Und manchmal, wenn ich großes Glück habe, wühlt eine Maus zwischen meinem Wurzelwerk, und ich kann sie langsam erdrosseln. Ich, Matha Naht, Gestalt gewordene Finsternis, bin zur Mäusemeuchlerin verkommen, dank dir, Lyvianne.
»Du wächst«, entgegnete die Elfe ruhig. »Du wirst wieder sein, was du einmal warst. Hab ein wenig Geduld.«
Du bist doch nicht gekommen, um mir kluge Ratschläge zu erteilen. Wo warst du in den vergangenen Jahren? Hättest du mich gehegt, wäre ich viel größer. Meine Wurzeln dürsten nach Blut und meine Seele nach dem Labsal der Angst anderer. Kluge Geschöpfe müssen es sein, die ihr Schicksal voll erfassen. Keine Fliegen!
»Ich könnte dir helfen.«
Bitteres Lachen füllte Lyviannes Gedanken.
Was willst du, Elfe? Ich spüre, eine dunkle Hoffnung hat dich zu mir geführt. Komm näher, ich will dich in meine dunklen Dornenarme nehmen, meine verlorene Schülerin.
Die Elfe wusste nur zu gut, was es hieß, von Matha Naht umarmt zu werden. Nie würde sie vergessen, was der beseelte Holunder Gonvalon angetan hatte. Und auch sie hatte für das Wissen, das Matha Naht ihr in winzigen Bröckchen überlassen hatte, mit ihrem Blut bezahlen müssen.
Der Holunderbusch reichte Lyvianne nur bis zur Hüfte. Der Stamm war kaum dicker als einer ihrer Finger. Schwarze Beeren hingen von blutroten Stängeln. Die dünnen Ästchen schmückten sich mit Hunderten schneeweißen Blüten. Auf den ersten Blick erschien das Bäumchen wie ein ganz gewöhnlicher Schwarzer Holunder. Doch sah man genauer hin, entdeckte man die Dornenranken zwischen den Ästen. Dies Geschöpf, erfüllt von Dunkelheit, war weder harmlos noch gewöhnlich. Trotz ihres Gejammers war ihre Macht auch jetzt schon wieder beträchtlich.
Lyvianne öffnete ihre Hand und zeigte ihrer alten Meisterin den Schlangenring. »Deshalb bin ich hier.«
Er hat eine ungewöhnliche Aura. Der Ring ist nicht aus dieser Welt, nicht wahr?
»Eine Menschentochter hat ihn getragen, bis in den Tod.«
Die Äste des Holunders wogten, als hätte ein Windstoß sie gebeugt, doch kein Lüftchen regte sich im Tal. Eine Menschentochter mag ihn getragen haben, aber er ist nicht Menschenwerk. Gib ihn mir. Ich möchte ihn spüren.
»Nicht Menschenwerk?« Lyvianne ballte die Faust um den Ring.
Hast du ihn dir nie durch dein Verborgenes Auge betrachtet? Ja, sein Schöpfer hat die Magie verborgen, die er hineingab, doch wenn du ihn aufmerksam ansiehst, enthüllt sich das Muster.
Natürlich hatte Lyvianne den Ring untersucht. Doch ihr war nichts aufgefallen. Versuchte Matha Naht sie zu betrügen?
Du bist immer noch eine Schülerin der magischen Künste, wie mir scheint, spottete der Holunderbusch. Nichts hat sich geändert in all den Jahren, seit du zum ersten Mal zu mir gekommen bist.
»Sieh dich an«, entgegnete Lyvianne ruhig. »Sieh, was aus dir geworden ist. Alles hat sich verändert. Hilf mir, und ich sprenkle etwas Hasenblut auf deine Wurzeln.«
Und doch bist du es, die als Bittstellerin vor mir steht. Also buckle schön, wie es sich gehört, wenn man auf eine Gefälligkeit hofft.
»Glaubst du wirklich, du kannst Forderungen stellen? Ich könnte dich mit der Wurzel ausreißen und deinem jämmerlichen Leben endgültig ein Ende setzen.«
Vielleicht würde ich das ja sogar begrüßen?
Lyvianne betrachtete den Holunderbusch nachdenklich. So hatte Matha Naht noch nie gesprochen. Ihre Meisterin verstand sich gut darauf, ihre Gefühle zu verbergen, auch wenn sie sich öffnen musste, um in Lyviannes Gedanken zu sprechen. Sie war nicht mehr wie früher. Die Jahre ohne Macht hatten sie zwar nicht demütig werden lassen, doch vielleicht hing sie wirklich nicht mehr an ihrem Leben. Wie konnte sie Matha Naht verlocken zu tun, was sie wollte.
»Würde es dich kräftigen, von meinem Blut zu trinken?«
Ah, das Buckeln beginnt. Dein Anliegen muss wohl sehr dringend sein, wenn du so schnell einlenkst.
Lyvianne rollte den linken Ärmel ihrer Tunika hoch. Sie trug noch immer die groben Gewänder aus der Menschenwelt. Nur ihre natürliche Gestalt hatte sie wieder angenommen. Mit der Rechten zog sie ihr Schwert. »Du wirst mich loslassen, sobald ich es verlange, sonst hacke ich dir die Äste ab.«
Wir sollten netter miteinander umgehen.
Bei niemandem hätten diese Worte falscher klingen können als bei Matha Naht. Nettigkeit war ein Begriff, den Lyvianne niemals auch nur im Entferntesten mit dem beseelten Holunder in Verbindung gebracht hätte.
Ein einzelner Trieb streckte sich ihr entgegen und wand sich um ihren blassen Arm. Dornen gruben sich in ihr Fleisch. Doch kein Blut trat auf ihre fahle Haut. Die Elfe sah, wie sich der Trieb dunkler färbte. Deutlich spürte sie, wie Matha Naht auflebte.
Nichts geht über diesen Saft, frohlockte der Holunder. Das ist etwas anderes als Mäuse! Wenn du jetzt noch Angst vor mir hättest, wäre der Genuss vollkommen.
Lyvianne sah ihr eine Weile zu, wie sie trank. Dann hob sie das Schwert. Zögerlich wich der Trieb zurück und ließ eine Reihe feiner, roter Bluttropfen auf ihrer Haut zurück.
Köstlich, meine Liebe. Nun steck mir den Ring auf einen meiner Äste. Ich werde sehen, was ich für dich tun kann.
Die Elfe gehorchte. Dann herrschte für eine lange Zeit angespannte Stille. Die Dämmerung trank das fahle Zwielicht unter der Nebelwolke, die das Tal verhüllte.
Dunkelheit schlich sich heran, als Matha Naht endlich in Lyviannes Gedanken sprach.
Der Ring gehörte Iyali, der Hohepriesterin der Anatu. Sie lebte an einem Ort, der Palast aus Mondenlicht genannt wurde.
Ungeduldig lauschte die Elfe. Dies alles konnte Matha Naht auch in ihren Gedanken gelesen haben, als sie von ihrem Blut trank.
Iyali war eine zierliche Menschentochter von kleiner Gestalt mit nachtschwarzem Haar, das ihr bis hinab zu den Hüften reichte. Sie war eine gestrenge Leiterin des Tempels und ihrer Göttin bedingungslos ergeben.