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Nichts als hohle Worte, dachte Lyvianne zunehmend verärgert. Nichts davon war überprüfbar. Matha Naht konnte sich das einfach ausdenken, ohne Sorge haben zu müssen, dass ihr Schwindel auffliegen könnte. Jedenfalls nicht bevor Lyvianne das nächste Mal auf den Ebermann traf. Er hatte Iyali gekannt.

Etwas mehr Vertrauen wäre schön. Ich strenge mich an. Ich versuche nach dem Geist einer Menschentochter zu greifen, die vor vielen Jahrhunderten starb und um keinen Preis zurückgezerrt werden wollte. Ich glaube nicht, dass du dir auch nur im Entferntesten vorstellen kannst, um was du mich gebeten hast.

Wie könnte ich dir vertrauen, dachte Lyvianne. Dafür kenne ich dich viel zu gut. »Wirst du sie rufen können?«

Nicht jetzt. Dem Ring haftet ein Hauch von Erinnerung an seine frühere Trägerin an. Alles, was ich bisher gesagt habe, hat er mir verraten. Er ist von einem machtvollen Zauber umwoben, der die Trägerin langsamer altern ließ. Eine unschätzbare Gabe in der Welt der Menschenkinder, die aufblühen und vergehen wie Sommerblumen. Nicht wie ihr Elfen, die ihr ein Leben haben könnt, das nach Jahrhunderten zählt.

Lyvianne ging darauf nicht ein. Sie wartete. Doch von Matha Naht kam nichts mehr. Ein bleicher Fleck im Nebel zeugte vom Mond, der hoch den Himmel hinaufgestiegen war. Stunden vergingen. So war es schon früher gewesen. Matha Naht mochte es, die Geduld ihrer Schüler auf die Probe zu stellen.

Schließlich rollte Lyvianne ihren Umhang zusammen und setzte sich darauf. Den Kopf auf die angezogenen Knie gestützt, döste sie, bis die Stimme ihrer Meisterin sie aus dem Halbschlaf riss.

Ich bin zu schwach. Ich brauche ein Opfer. Lebend! Ich brauche nicht nur Blut. Ich muss die Angst fühlen, muss spüren, wie sich mein Opfer verzweifelt in meinen Dornenranken aufbäumt.

Argwöhnisch betrachtete sie den Holunder. War er gewachsen? Hatte er ihr Blut genutzt, um seine eigene Macht zu mehren?

»Was ist mit Iyali? Konntest du Verbindung zu ihrem Geist aufnehmen?«

Einen alten Geist, der nicht gefunden werden will, heraufzubeschwören verlangt ein Opfer. Ein junges Leben muss vergehen, damit es gelingen kann. Bring ein Mädchen, das die Tage des Blutes noch nicht kennt. Am besten eine junge Elfe. Du weißt um die Balance der Welt. Eine alte Tote zu rufen verlangt junges Blut. Tierblut wird hier nicht genügen. Bring mir mein Opfer, und ich werde dir deinen Wunsch erfüllen. Wenn du das nicht kannst, dann geh. Dann vermag ich dir nicht zu helfen … Doch ich vertraue auf dich: Du bist Lyvianne. Die Mutter, die ihre eigenen Kinder tötet. Du wirst dich nicht von einem kleinen Hindernis aufhalten lassen, wenn es gilt, ein großes Ziel zu erreichen. Ich wünsche dir eine gute Jagd.

Ein junges Leben

Acht Tage waren vergangen. Lyvianne war heimgekehrt in ihren Palast in Mylal auf Tanthalia, den sie allzu selten noch aufsuchte. Endlich hatte sie die juckenden Kleider der Menschenkinder abgelegt und trug wieder das lange, weiße Gewand einer Meisterin der Weißen Halle. Sie wusste um ihre Wirkung in diesem eng anliegenden Kleid mit dem hohen Kragen und den kostbaren Silberstickereien an den Säumen.

Aus schneeweißem Leinen war auch der leere Sack, der auf ihrer Schulter lag. An den drei vorangegangenen Abenden hatte sie lange Spaziergänge über die Küstenwege gemacht. Sie hatte von ferne die kleinen Fischerdörfer beobachtet, die der Stadt vorgelagert waren. Heute wusste sie, wohin sie wollte. Dennoch ging sie langsam. Der Weg vor ihr war verlassen. Weit draußen auf dem Meer hoben sich weiße Segel deutlich vor dem glühenden Abendrot ab. Es war ein friedlicher Ort. Ein Ort, um sich niederzulassen, hinaus auf das ewige Meer zu blicken und alles hinter sich zu lassen.

In den letzten Tagen hatte Lyvianne viele Stunden lang spielende Elfenkinder beobachtet. Ihr ausgelassenes Treiben am Strand. Gerne hatte sie dem hellen Lachen gelauscht. Wenn sie abends zurück in ihren stillen Palast kam, empfand sie eine Leere in sich, die ihr nie zuvor bewusst gewesen war.

Sie weinte nicht um ihre verlorenen Kinder. Doch hatte sie in den vergangenen Nächten viele Stunden wach gelegen und an all jene zurückgedacht, denen sie den Tod gegeben hatte. Jene Unvollkommenen, denen sie nie die Gelegenheit zugestanden hatte, ihr zu beweisen, dass sie sich vielleicht in ihnen geirrt hatte.

Im Uferwald zu ihrer Linken erklang der Ruf eines Uhus, der sich irgendwo im Geäst der rotstämmigen Fichten verbarg. Ihre Gedanken schweiften zu ihrem letzten Sohn. Plötzlich klang ihr seine zarte Stimme im Ohr. Er hatte gerade begonnen zu sprechen. Mingo war eines seiner ersten Worte gewesen. Er hatte die großen rosa Vögel geliebt, die auf ihren langen Beinen durch die Mangroven gestakst waren. Flamingos. Sosehr er sich bemüht hatte, er hatte ihren Namen nicht ein einziges Mal richtig ausgesprochen. Für ihn waren sie einfach Mingos gewesen. Sie waren das Letzte gewesen, was er gesehen hatte, bevor sie ihn ertränkte.

Wie wäre es gewesen, mit ihm hier am Meer spazieren zu gehen? Hätte er die Segel am Horizont gemocht? Sich so wie sie vorgestellt, wohin die Schiffe reisen mochten?

Sie sollte wieder schwanger werden, dachte Lyvianne. Es war genug Zeit seit dem Abend in den Mangroven vergangen. Der Gedanke war ihr in der letzten schlaflosen Nacht gekommen. Ja, sie hatte auch schon einen Liebhaber für sich auserkoren, doch zum ersten Mal in ihrem langen Leben hegte sie Zweifel, ob sie ihn verführen könnte. Einst hatte er eine Göttin geliebt. Was sollte ihn da eine Elfe reizen?

Und würde sie es ertragen können, wenn er auf ihr lag und sie in das Antlitz eines Ebers sah? Würde sie ihn küssen können? Lyvianne wusste, dass er sich den abstoßenden Kopf erwählt hatte. Er konnte seine Gestalt verwandeln. Wie er wohl ausgesehen hatte, bevor er sich entschieden hatte, der Ebermann zu sein? Warum hatte er beschlossen, ein Ungeheuer zu werden?

Lyvianne strich sich ihre Haare zurück, die sie endlich wieder offen tragen konnte. Sie konnte nicht aufhören, über den Devanthar nachzudenken. Wie würde ein Kind von ihm aussehen? Würde sie interessanter für ihn, wenn sie herausfand, was Iyali über Anatus Tod gewusst hatte? Und war ein Liebesabenteuer mit einem Albenkind für ihn überhaupt denkbar? Wenn sie ein Kind von einem Devanthar empfing, würde es die Welt verändern. Selbst wenn es nur einen Bruchteil seiner Anlagen erbte, wäre es machtvoller als je ein Elf zuvor. Vielleicht wäre auch das ein Weg zum Frieden?

Lyvianne lachte leise. Das war Träumerei. Sie wollte einfach nur ein Kind von ihm. Dass es Frieden stiften könnte zwischen Daia und Albenmark, war ein absurder Gedanke.

Die Elfe bog vom Weg an der Küste in den Wald ab. Die Kiefernstämme glühten im Abendlicht, während in den Kronen der Bäume schon die Schatten der Nacht nisteten. Sie genoss den Duft der Kiefernnadeln und schob ihre ehrgeizigen Träume von sich. Nun galt es, ganz hier zu sein. All ihre Gedanken auf den Grund ihrer Anwesenheit zu richten.

In der Ferne hörte sie das leise Summen der Bienenstöcke. Wenn die Sonne im Meer versunken war, würde es verstummen.

Durch die Bäume sah sie das Licht im Haus der Imkerin. Zwei kleine, goldene Fenster in einem schmucklosen Haus mit tief hinabgezogenem Dach, unter dessen Traufen Holzscheite entlang der Hauswand gestapelt waren. Das Heim der Imkerin lag inmitten einer Lichtung voller Wildblumen. Hier hing noch der Duft des Sommers in der Luft, während in der Snaiwamark schon der Winter aufzog. Lyvianne setzte sich auf einen gestürzten Stamm, verborgen unter tief hängenden Ästen. Deutlich sah sie das Mädchen im gelben Kleid bei den Bienenstöcken. Die Kleine war weniger als dreißig Schritt entfernt. Mit glockenheller Stimme sang sie den Bienen ein Abendlied.

Der Elfe gingen die Verse durch den Kopf, die sie ihren Kindern gesungen hatte: Schattengeber, Träumeweber, wandern durch die Nacht …

Lyvianne schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf den Zauber, mit dem sie ihre Kleinen so oft erfreut hatte. Sie hauchte ein Wort der Macht und stellte sich einen kleinen Punkt aus hellem Licht vor. In Gedanken ließ sie ihn tanzen, honigfarbene Linien durch das Dämmerlicht ziehen. Schneller und schneller, bis die Linien Flächen formten und dann eine Gestalt. Einen Schmetterling, der in gaukelndem Flug vor ihr in der Luft tanzte, als sie die Augen wieder öffnete. Ein Geschöpf aus zartem Licht, ganz und gar ihrem Willen unterworfen.