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Die Elfe entließ den Schmetterling aus den Schatten des Waldes und lenkte seinen Flug hin zu den Bienenkörben am Rand der Lichtung. Dann erhob sie sich und trat hinter einen Kiefernstamm.

Bald hörte sie, wie das Lied des Mädchens im gelben Kleid verstummte.

Lyvianne wartete ein wenig, dann befahl sie den Schmetterling in Gedanken zurück in den Wald. Wie erwartet, folgte das Mädchen dem strahlenden Trugbild.

Lyvianne ließ den Falter aus Licht auf dem gestürzten Baumstamm landen, auf dem sie eben noch gesessen hatte.

»Endlich wartest du auf mich«, erklang die helle Stimme. »Einen so schönen Schmetterling habe ich noch nie gesehen. Woher kommst du nur?«

Bevor die Kleine den Schmetterling erreichte, ließ Lyvianne ihn erneut auffliegen. Dann trat sie hinter dem Kiefernstamm hervor. »Hier bist du, du Ausreißer?«

Erschrocken blieb das Mädchen stehen und sah sie mit weiten Augen an.

Lyvianne streckte die rechte Hand vor und ließ den Schmetterling anmutig auf ihrem Handrücken landen. »Wer bist denn du? Hat mein Ausreißer eine kleine Freundin gefunden?«

Statt zu antworten, schluckte das Mädchen nur.

Lyvianne ging in die Knie, sodass sie einander auf Augenhöhe begegneten. »Habe ich dich erschreckt? Bitte entschuldige.«

»Bist du … eine Zauberin?«

»Ja, das bin ich«, entgegnete sie freundlich. »Dieser kleine Schmetterling ist aus Magie und meinen Träumen gewoben.«

»Darf ich ihn auch einmal auf der Hand halten?«

Lyvianne lächelte. »Natürlich. Streck deine Hand vor.« Sie ließ den Schmetterling zu dem Mädchen fliegen und flocht einen weiteren Zauber ein, der die Glücksgefühle der Kleinen noch verstärkte, als die Lichtgestalt sie berührte.

»Er ist so schön! Wie machst du das?« Sie blickte aus hellen, himmelblauen Augen zu ihr auf. Ihr schmales Gesicht glühte vor Begeisterung. Die Scheu des ersten Augenblicks war vergessen. Lyvianne betrachtete das Mädchen durch ihr Verborgenes Auge. Die Kleine hatte die Gabe. Sie war nicht sonderlich ausgeprägt, aber sie würde eine Zauberweberin werden können, wenn jemand ihr Talent förderte.

»Es kostet viel Zeit und Geduld, wenn du die Zauberkunst erlernen willst.«

»So wie beim Lesen- und Schreibenlernen?«

Lyvianne musste lachen. »Ich fürchte, noch mehr. Aber ich bin mir sicher, du könntest es schaffen. Ich spüre deine Begabung.«

»Würdest du meine Lehrerin sein?«, platzte es aus ihr heraus.

Es war so leicht, dachte die Drachenelfe beklommen. »Würdest du mit mir kommen? Wie heißt du eigentlich?«

»Myrella.« Die kleine Elfe sah zurück zur Lichtung. Es war nun fast dunkel. Nur die beiden erleuchteten Fenster waren noch deutlich zu erkennen. »Es ist spät. Meine Mutter wird sich Sorgen machen …«

»Um eine Zauberweberin zu werden, muss man schon ein wenig mutig sein, Myrella. Du musst deine eigenen Entscheidungen treffen. Ich habe einen Saal voller Schmetterlinge aus Licht. Wenn viele von ihnen gemeinsam fliegen, erklingt eine Melodie, die dir das Herz aufgehen lässt. Wie sie das machen, habe ich nie ergründen können. Aber vielleicht würden wir dieses Geheimnis ja gemeinsam enträtseln können.«

»Du hast ein ganzes Zimmer voller Schmetterlinge?«

»Kein Zimmer. Es ist ein Saal, größer als die Hütte deiner Mutter.«

»So groß! Wie die Paläste auf den Klippen von Mylal? Ich war schon drei Mal in der Stadt. Meine Mutter muss manchmal dorthin, wenn sie ihren Honig verkauft.«

»Und dein Vater?« Jetzt sah auch Lyvianne zur Lichtung. Sie sollte sich beeilen!

Myrella schluckte. »Er ist … Mein Vater ist tot. Ertrunken. Er war Kapitän auf einem der Schiffe, die von Mylal bis zur fernen Lotussee reisen. Von seiner letzten Fahrt kehrte er nicht zurück.« Sie schluchzte leise. »Drei Jahre ist das her. Und ich beginne zu vergessen, wie er ausgesehen hat. Sein Bild verwischt in meiner Erinnerung.« Jetzt rannen Tränen über ihre Wangen. »Dabei habe ich nicht aufgehört, ihn zu lieben.«

Lyvianne legte dem Mädchen sanft die Hand auf die Schulter. »Ich kann dir helfen. Ich kenne einen Zauber, der Bilder unauslöschlich in unsere Erinnerung brennt.«

»Wirklich?«

»Dafür brauchen wir einen Kristall aus meinem Palast. Er verstärkt deine Erinnerungen. Du sagtest ja, dass du bereits begonnen hast zu vergessen.«

Myrella begann hemmungslos zu schluchzen. »Ja … Ich bin schuld an seinem Unglück. Und jetzt beginne ich ihn auch noch zu vergessen! Ich hab das alles nicht gewollt!«

Lyvianne tupfte ihr mit einem Zipfel des Leinensacks die Tränen fort. »Komm.« Voller Sorge sah sie zur Lichtung. Sicherlich würde bald Myrellas Mutter nach draußen kommen und nach ihrer Tochter suchen.

»Wo ist denn dein Palast?«

»Nicht weit von hier, im Herzen des Waldes.« Die Drachenelfe erhob sich. »Komm, gehen wir hin.«

Die Kleine blieb stehen und runzelte die Stirn. »Ich kenne den ganzen Wald. Hier gibt es keinen Palast.«

Lyvianne lachte leise. »Du Dummerchen. Glaubst du wirklich, den Palast einer Zauberweberin könnte man einfach so sehen? Du musst an der richtigen Stelle stehen und das geheime Wort nennen, dann wird er sichtbar, und du kannst ihn betreten.«

»Natürlich …« Ein Schluchzer begleitete das Wort. Jetzt kam sie zu ihr und ergriff voller Vertrauen ihre Hand. Myrellas Finger waren eiskalt. »Kannst du meinen Vater zurückbringen? Wenn du einen ganzen Palast verschwinden lassen kannst, dann kannst du doch auch sicher einen verschwundenen Vater wieder zurückholen! Er muss wieder zurückkommen! Ich muss ihm sagen, wie leid es mir tut …«

»Ich will dich nicht belügen. Tote zurückzuholen übersteigt meine Fähigkeiten. Aber ich verspreche dir, dass wir das Bild deines Vaters in deiner Erinnerung wieder lebendig werden lassen.«

Myrella begann wieder leise zu schluchzen.

Lyvianne strich ihr durch die goldenen Locken.

»Ich hätte ihn küssen müssen …«, stieß sie zwischen Schluchzern hervor. »Er hat es sich so sehr gewünscht. Meine Küsse seien sein Talisman, hat er gesagt. Sie brächten ihm Glück. Aber ich habe ihn nicht geküsst, weil ich so wütend auf ihn war, dass er wieder zu einer langen Reise aufbrechen wollte. Ich bin schuld, dass sein Schiff in den Sturm geraten ist. Ich habe ihm sein Glück gestohlen. Ein glückloser Seemann darf sich nicht auf das Meer hinauswagen, weißt du. Er lockt die Stürme an.«

Was für Unsinn, dachte Lyvianne und war doch zugleich auch berührt von der Verzweiflung des Mädchens. »Wenn du durch einen verweigerten Kuss einen Sturm heraufbeschwören könntest, dann wärst du schon jetzt eine größere Zauberweberin als ich und ich müsste bei dir in die Lehre gehen.«

Myrella sah zu ihr auf. »Wirklich?«

»Es war ein Unglück, dass das Schiff in den Sturm geraten ist. Es war nicht nett von dir, deinen Vater ohne Kuss gehen zu lassen. Doch das ist die ganze Geschichte. Du hast bestimmt keine Schuld an seinem Schicksal.«

»Aber ich hab ihm doch sein Glück gestohlen«, sagte sie leise.

»Hast du denn je aufgehört, ihn zu lieben?«, fragte Lyvianne streng.

»Nein! Niemals …« Die Kleine brach wieder in Tränen aus.

Lyvianne drückte ihre Hand und zog sie näher an sich heran. »Ich verrate dir jetzt ein Geheimnis. Erwachsene spüren tief in ihrem Herzen, ob sie geliebt werden. Ein Herz hat keine Augen und keine Ohren. Nichts kann es täuschen. Es kennt immer die Wahrheit, deshalb solltest du im Zweifel immer auf dein Herz hören. Und es gibt noch ein Geheimnis. Väter verzeihen ihren Töchtern fast alles. Er wird gewusst haben, dass du ihm den Kuss verweigert hast, weil du ihn so sehr liebtest, dass du nicht wolltest, dass er geht. Wie könnte man darüber böse sein.«