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»Du weißt so viel«, sagte Myrella nach einer Weile. »Kommt das, weil du eine Zauberweberin bist?« Die kleine Elfe hatte aufgehört zu weinen.

»Mein Leben währt schon sehr lange, und wer wachen Sinnes ist, hört niemals auf zu lernen.«

»Meine Mutter will nicht, dass ich über Vater mit ihr rede … Ich darf nicht einmal mehr seinen Namen sagen. Und wenn ich mich nicht daran halte, fängt sie sofort an zu schimpfen. Oder sie wird ganz still und weint … Das ist noch schlimmer als ihr Schimpfen.«

Während sie redeten und gingen, war die Sonne untergegangen. Tiefe Dunkelheit hatte sich über den Wald gelegt. Vor ihnen erklang das Quaken von Kröten. Bald hätten sie jenen Ort erreicht, an dem der Wald am finstersten war. Eine sumpfige Senke, in der die Bäume in fauligem Wasser wurzelten. Fast wie in den Mangroven, in denen sie ihren Sohn ertränkt hatte, dachte Lyvianne.

»Sind wir hier richtig? Liegt dein Palast etwa im Sumpf. Das ist ein böser Ort. Meine Mutter hat mir verboten, dorthin zu gehen.«

»Mach dir keine Sorgen. Wir gehen an einen Ort, an dem alles Leid endet. Fürchtest du dich etwa?«

Myrella sah zu ihr auf. Das goldene Licht des Schmetterlings, der mit ihnen flog, strahlte über ihr lächelndes Gesicht. »Nein, ich habe keine Angst. Mein Herz sagt mir, dass ich dir vertrauen kann. Und ich habe entschieden, von nun an immer auf mein Herz zu hören.«

Meine zierlichen Füsse

Shaya taumelte vor Müdigkeit. Sie waren wieder an das Ende der Marschkolonne zurückgefallen. Oder noch weiter? Sie wusste es nicht. Ihr Heer begann sich immer schneller aufzulösen. Am Morgen hatte sie einen erfrorenen Jaguarmann gesehen. Einen Jaguarmann! Sie hatte diese unheimlichen Kreaturen für fast unsterblich gehalten. Doch der Winter machte keine Unterschiede. Sie hätten niemals hierherkommen dürfen.

»Ich kann nicht mehr«, stöhnte Ninwe. Ihre Freundin hatte den Arm um ihre Schultern gelegt und stützte sich schwer auf sie.

»Ein bisschen noch«, stieß Shaya gequält hervor. »Wir müssen weitergehen, solange es noch hell ist. Wir dürfen nicht den Anschluss verlieren.«

Sie erreichten die Kuppe eines flachen Hügels. So weit das Auge reichte, reihte sich ein Hügel an den anderen. Ihr Weg war durch zerstampften Schnee markiert und durch die Gestalten in zerlumpter Kleidung entlang der Marschroute. Hundertfach führten sie Shaya vor Augen, was geschah, wenn man sich einen Moment lang setzte, um neue Kraft zu schöpfen. Wenn man es zuließ, dass einem die Augen zufielen. Nur einen Moment lang …

»Komm!«, sagte Shaya. »Heute Morgen habe ich gehört, dass es nur noch fünfzig Meilen sind. Das schaffen wir sogar im Hüpfen.«

Ninwe war zu erschöpft, um zu antworten. Ihr Gesicht war gerötet vom Frost. Die Nasenspitze dunkel verfärbt. Sie starrte geradeaus, ohne die geringste Emotion zu zeigen.

»Siehst du die Berge am Horizont?« Shaya deutete auf die schmale Linie aus Schatten, die sich am Horizont über das endlose Weiß erhob. »Dahinter liegt das Weltentor. Dort sind wir in Sicherheit. Wir sind über zweihundert Meilen marschiert. Ich verbiete dir, auf dem letzten Stückchen schlappzumachen.«

Ninwes Mundwinkel zuckten. Shaya nahm das als Andeutung eines Lächelns. Die Kriegerin erlaubte sich einen Moment lang, im Stehen die Augen zu schließen. Sie träumte von einem Feuer in der Mitte einer Jurte und davon, wie sie, in Decken eingehüllt, dem singenden Wind lauschte, so wie sie es als Kind während der endlosen Winter in der Steppe so oft getan hatte. Was würde sie nicht für einen Becher warmer Yakmilch geben!

Mit einem Seufzer öffnete sie die Augen. Sie durfte sich nicht gehen lassen. Was sie gerade getan hatte, war dumm und gefährlich.

»Lass mich zurück«, flüsterte Ninwe. Es war das erste Mal seit Stunden, dass ihre Freundin sprach.

»Red keinen Unsinn!«

»Ohne mich kannst du es schaffen.«

Shaya ignorierte sie und stapfte los. Sie zog Ninwe mit sich, die keine Kraft mehr hatte, noch weiter zu sprechen. Immer schwerer lastete der Arm ihrer Freundin auf ihren Schultern. Ninwe hatte recht. Ihr Gewicht würde sie beide zu Boden drücken.

Die Steppenreiterin biss die Zähne zusammen. Sie würde nicht aufgeben! Außer ihrer Freundin gab es fast nichts mehr zu tragen. Die Beutel und Taschen, die sie mit allerlei Pülverchen und getrockneten Kräutern gefüllt gehabt hatte, waren leer. Die meisten hatte sie inzwischen fortgeworfen. Ein Mittel gegen Durchfall und etwas gegen Schlaflosigkeit, das war alles, was sie noch hatte. Sie sollte auch diesen nutzlosen Plunder fortwerfen.

Ein Stück voraus regte sich etwas. Drei Gestalten mit schneegepuderten Decken erhoben sich am Rand des Weges. Shaya blickte in die harten, ausgemergelten Gesichter dreier Steppenreiter. Blutunterlaufene Augen sahen sie und Ninwe gierig an. Die Ischkuzaia waren lange Winter gewöhnt. Auch wenn ihre Pferde längst alle tot waren, so hatten die Reiter diesen Marsch der Qualen doch besser überstanden als die meisten anderen Krieger.

»Gib uns deinen Mantel, Dickerchen. Du brauchst ihn ohnehin nicht mehr!« Der Wortführer deutete mit seinem Speer auf Ninwe.

Er hatte sie in seiner Muttersprache angesprochen. Ganz sicher hatte Ninwe kein Wort verstanden. Aber wie er mit dem Speer auf sie deutete, war unmissverständlich.

»Lass sie!«, sagte Shaya ruhig. »Du machst deinen Ahnen Schande, Bruder.«

Der Wortführer ließ den Speer sinken und sah sie überrascht an. »Trenn dich von ihr, Schwester. Sieh sie dir an. Sie wird ohnehin nicht überleben. Ihr Mantel wird mir besser nutzen. Ich habe noch die Kraft, bis zum Weltentor zu gehen, wenn ich mich nur vor der Kälte schützen kann.«

»Du wirst nicht Hand an sie legen, Bruder.«

Die drei sahen sich an und lächelten. »Wer sollte das verhindern, Schwester? Der Weiße Wolf? Er ist nicht hier. Er will, dass wir uns selbst helfen. Und sogar dir werde ich helfen, indem ich dich von dieser Last befreie. Vielleicht schaffst du es dann auch noch.«

»Setz dich bitte in den Schnee, Ninwe«, sagte Shaya ruhig.

Ihre Freundin sah sie erschrocken an, als sie ihren Arm von den Schultern streifte. »Du …« Ninwe standen Tränen in den Augen. »Nach alldem …«

Shaya wandte sich von ihr ab. Sie streckte sich und bewegte den Kopf, um ihren Nacken zu entspannen. »Kehre auf den Pfad des Kriegers zurück, Bruder. Dies ist die letzte Gelegenheit.«

»Oder was?« Der Wortführer der Ischkuzaia deutete nun mit seinem Speer auf sie. »Ich will dir nichts antun, Schwester, aber du wirst uns nicht aufhalten.« Er nickte den beiden anderen zu. Der Krieger rechts von ihm zog eine Dornaxt aus seinem Gürtel, der andere ein kurzes Bronzeschwert. »Geh einfach weiter, Schwester. Lass sie im Schnee sitzen.«

»Das kann ich nicht.« Shaya hob beide Hände und streifte die Kapuze ihres Umhangs zurück. Der Elf, der sie aus dem Kloster in Luwien befreit hatte und an ihrer Stelle gestorben war, hatte ihr Gesicht verändert. Nicht einmal die Männer aus der Leibwache ihres Vaters würden sie jetzt noch wiedererkennen.

Sie griff mit beiden Händen in ihr Haar und strich es nach hinten. Die Geste beruhigte den Krieger. Sie sah, wie sich sein Gesicht entspannte. Selbst, als sie einen Schritt nach vorne trat, ahnte er nicht, was kommen würde. Sie hatte in der Vergangenheit stets an der Spitze ihrer Männer gekämpft. Sie war eine Kriegerin gewesen und hatte es geliebt.

Pfeilschnell schossen ihre Hände nach vorn und entrissen dem Wortführer den Speer. Sie rammte das stumpfe Ende dem Krieger mit der Dornaxt in den Bauch, riss die Waffe zurück und versenkte die Speerspitze in der Brust des Wortführers, der sich ihr halb zugewandt hatte.

Ohne sich umzudrehen, duckte sie sich. Ein Schwertstreich verfehlte sie nur um wenige Zoll, als sie die Dornaxt aufhob, die in den Schnee gefallen war. In der Hocke wirbelte sie herum. Die Axt traf den dritten Angreifer im Knie.

Mit einem gellenden Schrei versuchte er, vor ihr zurückzuweichen, strauchelte und stürzte nach hinten, während das Blut in pulsierenden Stößen aus seiner Wunde spritzte.