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Shaya zog ihren Dolch und schnitt dem Krieger, dem sie das stumpfe Speerende in den Magen gerammt hatte, die Kehle durch. Dann sah sie nach den beiden anderen. Sie waren zu schwer verletzt, um noch eine Gefahr zu sein.

»Ich lasse euch für die Grünen Geister zurück. Sollen sie eure Seelen nehmen. Ihr seid es nicht würdig, zu euren Ahnen zu gehen.«

»Wer … wer bist du?«, stammelte der Wortführer.

»Das wirst du nie erfahren.« Shaya wandte sich müde ab und half Ninwe auf die Beine. Ihre Freundin war dicht zu einem der Sterbenden herangekrochen. Jetzt sah sie voller Angst zu ihr auf. Von dem, was gesprochen worden war, konnte sie nichts verstanden haben. Sie beherrschte die Sprache der Steppe nicht, da war sich Shaya ganz sicher.

»Wer bist du?«, fragte nun auch sie, während Shaya ihr den Schnee aus dem Pelzmantel klopfte.

»Jetzt bin ich wieder die Heilerin, die du kennst.«

Die beiden Krieger hinter ihnen vergeudeten ihre letzte Kraft damit, sie zu verfluchen. Shaya schlang sich Ninwes Arm um die Schultern und führte sie weiter den Hang hinab. Nie zuvor hatte das Gewicht ihrer Freundin so schwer auf ihr gelastet.

»Weißt du, vom ersten Tag an haben alle Mädchen über dich geredet. Du warst immer anders. Keine Hure … und auch keine Wäscherin oder Köchin.« Ninwe musste um jedes der Worte kämpfen. Ihr Atem ging stoßweise.

»Kira hat dich einmal nackt gesehen. Deine Narben … Sie glaubte, du seist eine Sklavin gewesen. Sie hat sich geirrt, nicht wahr? Du warst eine Kriegerin. Du kommst aus der Steppe. Die drei haben dich erkannt. Du bist eine von ihnen.«

»Das stimmt, und jetzt solltest du besser deinen Atem sparen. Gleich geht es wieder bergan.«

»Sie haben dir bestimmt gesagt, dass du mich zurücklassen sollst.«

»Wenn du nicht aufhörst zu reden, könnte ich auf die Idee kommen, es zu tun.«

»Das wäre klug«, sagte Ninwe ernst. »Und du solltest meinen Mantel nehmen. Er wird dir das Leben retten.«

»Ich will davon nichts hören. Wir beide schaffen das und wenn ich dich dazu auf meinen Schultern tragen müsste.«

Ihre Freundin lachte leise. »Ich traue dir zu, dass du es versuchen würdest … Du würdest sogar …« Die Abstände zwischen den Worten wurden immer länger. Dann endlich war sie still. Schwere, keuchende Atemzüge, das war alles, was sie noch von sich gab, und Shaya dankte still den Göttern dafür, dass endlich Ruhe war.

Schritt um Schritt kämpften sie sich den nächsten Hang hinauf. Immer entlang der von Toten gesäumten Straße. Als sie die nächste Hügelkuppe erreichten, war auch Shaya nah am Ende ihrer Kräfte. Sie half Ninwe, sich auf einen schneebedeckten Stein zu setzen, und kämpfte gegen die Verlockung an, erneut die Augen zu schließen. Nur kurz … Ein paar Herzschläge. Sie senkte den Blick. Nicht nachgeben! Da bemerkte sie die blutgetränkten Nähte von Ninwes Stiefeln. Das starke, weiße Garn, mit dem die Sohle vernäht war, war dunkelrot verfärbt.

»Was ist mit deinen Füßen? Du hinkst schon seit Tagen! Hast du dich verletzt.«

»Alles in Ordnung«, kam die Antwort zwischen schweren Atemzügen.

»Ich muss mir deine Füße ansehen«, beharrte Shaya.

»Ich kann meine Stiefel nicht ausziehen«, begehrte Ninwe mit überraschender Kraft auf. »Meine Füße sind geschwollen. Ich würde die Stiefel nie wieder anziehen können. Du willst mich doch nicht barfuß durch den Schnee laufen lassen.«

Shaya hob die Hände. »Schon gut. Du hast recht. Das war eine dumme Idee.« Sie richtete sich auf. »Ich hab solchen Durst.«

»Ich auch«, stöhnte Ninwe.

Shaya stellte sich hinter sie und strich über das volle, rote Haar ihrer Freundin. »Wenn wir es geschafft haben, werde ich einen ganzen Tag in einem heißen Bad liegen.«

Ninwe seufzte. »Schön. Nimmst du mich mit?«

»Ich sagte doch, du wirst bei mir sein. Selbst wenn ich dich dafür auf dem Rücken tragen muss.« Sie drückte auf den Nervenpunkt hinter dem Ohr und spürte augenblicklich ihre Gefährtin in sich zusammensinken.

»Schlaf«, sagte sie leise, ließ Ninwe von dem Felsen gleiten und lehnte sie mit dem Rücken gegen den Stein. Dann zog sie ihr Messer und trennte die Nähte des linken Stiefels auf.

Behutsam zog sie den zerschnittenen Stiefel vom Bein. Ninwe hatte sich Stoffstreifen um die Füße gewickelt. Dadurch war der Stiefel so eng geworden, dass er ihren Fuß gequetscht haben musste. Wahrscheinlich hatte ihre Freundin deshalb seit Tagen gehinkt. Sie hätte diese Stiefel gar nicht erst tragen dürfen!

Voller Sorge wickelte Shaya die Stoffstreifen ab. Sie knisterten und waren steif gefroren. Fassungslos sah sie auf den nackten Fuß, als sie ihr Werk vollendet hatte. Die Zehen waren schwarzblau verfärbt. An den Gelenken der Zehen hatten sich dicke Beulen gebildet. Der übrige Fuß war dicht mit dunkelroten Flecken übersät.

Shaya betastete das erfrorene Fleisch. Sie wusste, dass der Fuß nicht mehr zu retten war. Nur Blut gab es keins. Ninwe musste mit dem Stiefel in eine Blutlache getreten sein. So eng, wie sie ihren Fuß eingewickelt hatte, konnten weder das Stiefelleder noch die Stoffstreifen wärmen. Wahrscheinlich war auch Feuchtigkeit in den Stiefel gedrungen. Es war ein Wunder, dass sie mit den erfrorenen Zehen überhaupt so weit gekommen war.

Shaya schnitt den zweiten Stiefel auf und zuckte zurück. Ninwes rechter Fuß sah noch schlimmer aus! Er war bis über die Mitte des Spanns hinauf schwarz geworden. Shaya hatte Dutzende erfrorene Füße in den letzten Tagen gesehen. Und immer war sie machtlos gewesen. Die erfrorenen Glieder zu massieren mochte dazu führen, dass kaltes Blut aus Armen und Beinen in den Körperkern zurückfloss und den Tod beschleunigte.

Bei manchen der Erfrierungsopfer hörte einfach das Herz auf zu schlagen. Tränen hilfloser Wut stiegen Shaya in die Augen. Wenn es einen warmen Ort gäbe, an den sie Ninwe bringen könnte, würde sie ihr die Füße amputieren. Dort gäbe es Hoffnung. Aber hier draußen im Eis …

Vernünftig wäre es, ihre Freundin einfach schlafen zu lassen. Ninwe würde wahrscheinlich nicht mehr erwachen. Aber das konnte sie nicht. Auch waren da noch die Grünen Geister. Vielleicht würden sie kommen und ihr das Lebenslicht stehlen? Und das Letzte, was ihre Freundin, verlassen von allen, sehen würde, wäre eine dieser grässlichen Kreaturen.

Shaya seufzte und kauerte sich neben Ninwe in den Schnee. Sie rieb sich die eiskalten Hände, die der Atem des Winters ganz rot hatte werden lassen. Ein prickelnder Schmerz stach in ihre Finger.

»Du hast es also doch getan«, schreckte die müde Stimme ihrer Freundin sie aus den Gedanken.

Schuldbewusst sah Shaya zu den zerschnittenen Stiefeln, die neben ihr im Schnee lagen. »Ich musste …«, sagte sie gepresst. »Ich hatte gehofft … Wie kommt es, dass du wieder wach bist? Du solltest stundenlang schlafen.«

»Hatte einen blöden Traum. Von ’nem Freier, der mir die Nase eingeschlagen und mich um mein Kupferstück geprellt hat. Er war einer der ersten Kerle gewesen, mit denen ich es für Geld getan habe. Er verfolgt mich immer noch in meinen Träumen. Ich werde dann immer schweißgebadet wach.« Sie seufzte. »Wäre schön, jetzt schweißgebadet zu sein.«

»Du hättest die Stiefel längst ausziehen müssen. Ich hätte dir helfen können!«

Ninwe sah sie traurig an. »Ich hätte sie nie wieder anbekommen. Und dann … Hätte ich barfuß durch den Schnee laufen sollen? Wären meine Füße dann nicht erfroren? Nein, es war gut so.« Sie betrachtete ihre schwarzen Zehen mit den unförmigen Beulen darauf. »Ich wünschte, ich hätte das nie gesehen. Meine Füße waren das Einzige an mir, das klein und zierlich war. Ich hab sie immer geliebt.«

Shaya wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie schämte sich dafür, Ninwes Stiefel aufgeschnitten zu haben, doch als Heilerin hatte sie nicht anders handeln können. »Du hast wunderbares Haar«, sagte sie schließlich. »Ich habe dich immer um deine rote Mähne beneidet. Alle Männer lieben sie.«