Ihre Freundin schenkte ihr ein wissendes Lächeln. »Weißt du, was ich immer geglaubt habe? Dir sind alle Männer egal, außer einem, von dem ich nie erfahren werde.«
Shaya dachte an den Unsterblichen Aaron. Seit zwei Tagen hatte sie nichts mehr über ihn gehört. »Du kennst dich mit Männern und Frauen aus.« Sie stemmte sich hoch. »Wir müssen weiter!«
»Ohne Stiefel?«
»Du wirst nichts spüren, das verspreche ich dir!«
»Weil meine Füße ohnehin schon tot sind? Ich weiß, was du tun willst, wenn ich es tatsächlich bis zum Weltentor schaffen sollte.« Sie schüttelte den Kopf und schob eine Hand tief in die Seitentasche des Pelzmantels. Plötzlich hatte sie ein Messer in der Hand.
Bevor Shaya etwas unternehmen konnte, hatte Ninwe sich die Klinge über die Innenseite des Oberschenkels gezogen.
»Was tust du da?« Die Heilerin griff nach den Stoffstreifen, die sie von den Füßen ihrer Freundin gewickelt hatte. Sie musste die Wunde abschnüren, sofort.
»Ich rette dein Leben.« Ninwe deutete mit dem Messer auf sie. »Verbinde es nicht. Ich will nicht gerettet werden, nur damit du mir dann die Füße abschneidest. Hier endet mein Weg. Ich schenke dir meinen Mantel. Aber bitte bleib bei mir, bis es vorüber ist. Ich möchte nicht, dass die Geister mein Licht trinken …«
Shaya rang die Hände. Dann ließ sie die Stoffstreifen sinken. Sie konnte Ninwe verstehen.
Dunkles Blut färbte den Schnee. Matt hob die Hure die Schöße des Mantels, damit sie nicht nass wurden. »Wir haben immerzu gerätselt, wer du bist. Es gab zahllose Wetten. An eine Kriegerin hatte niemand gedacht.« Sie lächelte schief. »Frauen sollten nicht … Aber es war eine Freude zu sehen, wie du es den dreien besorgt hast. Es gibt zu viele Mistkerle. Zu viele, die Spaß daran haben, uns wehzutun … Die glauben, sie könnten alles mit uns machen, nur weil sie uns ein Kupferstück in die Hand gedrückt haben.« Ihr Kopf sackte ihr auf die Brust. Mit letzter Kraft stemmte sie ihn noch einmal hoch. »Wer bist du?«
»Ich bin Shaya, die siebenunddreißigste Tochter des Unsterblichen Madyas, Großkönig von Ischkuza, Hüter der Herden, Licht der Sonne, Sohn des Weißen Wolfes. Ich bin eine Kriegerprinzessin aus dem Volk der Steppenreiter und war die Geliebte des Unsterblichen Aaron.«
Ninwes Augen füllten sich mit Tränen. »Eine Prinzessin …« Sie schien nicht den geringsten Zweifel an der Wahrheit der Worte zu haben. »Eine Prinzessin war meine Freundin.« Tränen rannen ihr über die Wangen, doch jetzt lächelte sie. »Schade … dass ich … gehen muss …« Ihr Kopf sackte ihr auf die Brust.
Shaya schob ihr sacht die Hand unter das Kinn, sodass sie Ninwe wieder in die Augen sehen konnte. Sie schien durch sie hindurchzublicken.
»Es ist mir eine Ehre, dass du mich Freundin nennst.«
Ein letztes, schwaches Lächeln spielte um Ninwes Lippen. Dann veränderte sich ihr Blick und wurde starr. Sie sah etwas, das nicht mehr in der Welt der Sterblichen lag.
Fieber
Der Mantel half. Shaya kauerte unter einem Felsvorsprung in den Ausläufern der Berge, die zwischen den letzten Eiskriegern und dem Weltentor lagen. Sie fror nicht mehr so sehr. Vielleicht auch, weil ihr Lebenslicht zu verlöschen begann. Der Nordwind trieb Schnee über sie hinweg. Ihre rechte Hand tastete über den Boden. Mit steifen Fingern schob sie ein wenig Schnee zusammen und formte ein Kügelchen daraus. Sie hatte so entsetzlichen Durst!
Shaya hob die zitternde Hand an ihre Lippen und schob sich die Schneekugel in den Mund. Sie war nicht größer als eine Fingerkuppe. Alles zog sich in ihr zusammen, als der Schnee ihre Zunge berührte. Es fühlte sich an, als würde die letzte Wärme aus ihrem Körper hinauf in den Mund gezogen, um dort zu vergehen. Sie brauchte Wasser, das wusste sie, aber dieser Preis war zu hoch.
Mit bebenden Fingern tastete sie nach der halb zerschmolzenen Kugel und warf sie in den Schnee zurück. Dann schluckte sie das wenige Eiswasser, das sich in ihrem Mund gesammelt hatte. Es fühlte sich an, als schnitte eine kalte Klinge ihre Kehle hinab. Sie würde das nicht wieder tun, ganz gleich, wie sehr der Durst sie auch quälte.
Shaya schlang ihre Arme um den Leib. Den ganzen Tag über hatten ihnen die Daimonen zugesetzt. Sie waren immer in der Nähe. Ebenso wie die schrecklichen Geister. Ihnen gehörten die endlosen Nächte, wenn man das grüne Leuchten besonders deutlich sah.
Auch jetzt war es nicht weit. Es folgte dem Weg, den sie am Tag zurückgelegt hatten, spielte um jene, die erschöpft zusammengesunken waren, aber noch zu viel Lebenswillen besaßen, um in den Tod hineinzuschlafen.
Inzwischen waren es mindestens sieben oder acht der grünen Riesen, die ihrem Heer folgten. Shaya hatte wieder zu den Truppen aufgeschlossen, dennoch hatte sie nur wenig Hoffnung, dass die letzten Überlebenden den Weg über die Berge schaffen würden. Es gab Gerüchte, dass sich der Unsterbliche Ansur mit seinen kräftigsten Männern und dem Silberlöwen davongemacht hatte, um das Weltentor zu öffnen und Hilfe zu holen. Shaya lächelte bitter. Aaron hatte nicht viel von Ansur gehalten, der sein Gold lieber in den Aufbau Selinunts gesteckt hatte, statt sich um sein Volk zu kümmern. Sollte er vorausgeeilt sein, dann ging es ihm gewiss nur um seine eigene Haut und nicht darum, Hilfe zu bringen.
Blassgrünes Licht fiel vor ihr in den Schnee. Ein Geist musste oben auf dem Felsvorsprung sein. Shaya wagte es nicht aufzublicken. Sie drückte sich noch tiefer in den Spalt, in dem sie Zuflucht gesucht hatte. Spürte der Geist, dass sie hier war?
Andere Flüchtlinge begannen leise zu wimmern oder zu ihren Göttern zu beten. Shaya tastete nach dem Messer, das unter ihrem Mantel verborgen war. Es würde vermutlich nicht gegen die Geister helfen, aber sie war entschlossen, nicht kampflos aufzugeben.
Angespannt beobachtete sie das unstete Licht vor sich im Schnee. Nach einer Weile verschwand es. Vielleicht hatte es anderswo leichtere Opfer gefunden.
Die Heilerin kämpfte gegen den Schlaf an. Ihr kalter Magen half ihr. Die Wärme, die die kleine Schneekugel gefressen hatte, war immer noch nicht wieder zurückgekehrt. Hätte es wenigstens Brennholz gegeben! Ohne Feuer so lange durch Schnee und Eis zu marschieren war Menschen nicht möglich. Manchmal sahen sie in der Ferne die Lichtpunkte der Lagerfeuer der Daimonen. Einzelne Männer hatten sich in den vergangenen Nächten dorthin aufgemacht. Angezogen wie Motten in der Nacht durch die Flammen von Öllampen, hatten sie gewiss, genau wie die Motten, ihr Verderben gefunden. Jedenfalls war keiner von ihnen zurückgekehrt.
Nicht einschlafen, ermahnte sie sich stumm und ertappte sich doch nur wenige Augenblicke später dabei, wie ihr die Augen zufielen. Wieder flackerte grünes Licht vor ihr über den Schnee. Als sie den Kopf hob, sah sie, wie einer der Geister der Straße hinauf zum Pass folgte. Er war mitten unter den Kriegern. Beugte sich über Schlafende und trank ihr Lebenslicht, ohne dass irgendjemand etwas unternahm. Shaya rappelte sich auf. Waren sie denn alle zu Vieh verkommen, das auf dem Weg zur Schlachtbank war? Sie war kein Schaf und keine Ziege, die widerstandslos ihrem Tod entgegentrottete. »Heh, Geist!« Ihre Stimme war kaum mehr als ein raues Flüstern, und die Worte schmerzten in ihrem ausgedörrten Hals.
Die Kreatur aus Licht hielt inne. Sie schien in ihre Richtung zu blicken. Ganz sicher war sich Shaya nicht. Der Geist war nur formloser, leuchtender Nebel. Da gab es keine Augen, nicht einmal etwas, das nach einem Kopf aussah. Jetzt setzte sich die Kreatur wieder in Bewegung. Wie eine Schlange wand sie sich zwischen den Männern hindurch. Kam in ihre Richtung. Wunderbar, dachte Shaya. Sie hatte den Geist auf sich aufmerksam gemacht. Wie selten blöd war sie denn! Sie hatte keine Waffe, mit der sie diese Bestie ohne Form bekämpfen könnte. Das Letzte, was sie in ihrem Leben sehen würde, wäre, wie dieses Ungeheuer ihr Lebenslicht trank.
Trotzig hob sie das Messer. Davonlaufen würde sie nicht. Wenn es auf diese Art mit ihr zu Ende gehen sollte, dann war es so.
Hinter dem Geist erschien ein mattgelbes Licht auf dem Passweg. Eine Blendlaterne! Shaya hatte so etwas seit vielen Tagen nicht mehr gesehen. Sie war überzeugt gewesen, dass längst alle Reserven an Lampenöl aufgebraucht waren.