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Das Licht schien den Geist zu beunruhigen. Er verließ den Weg, verharrte noch kurze Zeit lauernd und zog sich dann ganz zurück. Zwei Männer kamen den Weg hinunter. Immer wieder hielten sie an, beugten sich zu den Kauernden und Schlafenden hinab, leuchteten ihnen in die Gesichter und schienen etwas zu fragen.

Der Wind hatte aufgefrischt. Er trieb Schlieren aus Schnee dicht über dem Boden dahin. Shaya zog ihre Kapuze tiefer ins Gesicht. Der Schreck mit dem Grünen Geist hatte ihre Kräfte geweckt. Sie war entschlossen, dies zu nutzen, um ein wenig weiter dem Pass und dem Weltentor entgegenzugehen.

Als sie die Männer erreichte, leuchteten sie auch ihr ins Gesicht. »Hast du die Trösterin gesehen?«

»Warum?« Shaya blinzelte. Geblendet konnte sie die beiden nicht deutlich erkennen. Beide trugen gute Mäntel aus Schaffell und sprachen mit einem Dialekt, der auf die Provinz Garagum hinwies, um die die Großreiche Aram und Luwien vor Kurzem noch Krieg geführt hatten.

»Hast du sie gesehen?«, beharrte der Lampenträger, ein hagerer Mann mit rotem Bart. »Bitte hilf uns. Der Unsterbliche Aaron braucht sie. Es steht verzweifelt schlecht um ihn, und es gibt keinen Heiler mehr. Niemanden, der ihm noch helfen könnte. Die Trösterin ist unsere letzte Hoffnung. Wenn du uns sagen kannst, wo sie ist, dann bitte hilf uns.«

Ihr Herz machte einen Satz, als sie Aarons Namen hörte. Er hatte sich also nicht erholt! »Ich bin die, die ihr sucht.«

»Du?«

Shaya schob die Kapuze des Pelzmantels zurück, sodass ihr Gesicht besser zu sehen war. »Was glaubst du, wie viele Frauen aus dem Tross noch leben? Bringt mich zu ihm!«

»Du!«, kam es erneut vom Rotbart, doch jetzt in gänzlich anderem Tonfall. »Du … Kirum?« Er nahm die Öllampe zurück, sodass jetzt auch sein Gesicht deutlich zu erkennen war. Es war Ormu, der Hauptmann der Kushiten, Befehlshaber der Leibwache des Unsterblichen Aaron. Er hatte sie hundert Mal und öfter im Palast von Akšu gesehen. Wie alle anderen im Palast kannte er sie nur als das Küchenmädchen, das rätselhafterweise die Gunst des Unsterblichen gewonnen hatte und dessen Geliebte geworden war.

»Ich hatte befürchtet, du seist ermordet worden, so plötzlich und spurlos, wie du aus dem Palast verschwunden bist.«

»Wie du siehst, lebe ich noch«, entgegnete sie brüsk. »Nun bring mich zu Aaron!«

»Du bist wirklich die Trösterin?« Ormu musterte sie misstrauisch und tauschte dann einen kurzen Blick mit dem Krieger an seiner Seite.

»Glaubst du, ich würde Aaron schaden?«

»Nein«, sagte er leise. »Ganz gleich, ob du mich belügst oder nicht. Dich wiederzusehen wird ihm guttun. Wenn er dich denn noch erkennt … Komm!« Ormu wandte sich um. Mit langen Schritten eilte er den Passweg hinauf und legte ein Tempo vor, mit dem Shaya nicht mithalten konnte, obwohl die Angst um Aaron ihre Schritte beflügelte.

Endlich wurde Ormu langsamer, doch blieb ihm seine Ungeduld anzumerken. Er vermittelte den Eindruck, als käme es auf jeden Augenblick an. Sein Gefährte, der sichtlich entkräfteter war, schloss wieder zu ihnen auf.

»Was ist mit Aaron?«, fragte Shaya außer Atem.

»Hast du gesehen, wie er und Madyas sich ganz allein dem Heer der Daimonen gestellt haben? Sie sind ihnen auf einem fliegenden Löwen entgegengeritten, haben gegen Riesen, gewaltige Adler und einen tödlichen roten Daimonenfürsten gekämpft. Sie haben uns mit ihrem Opfer Zeit erkauft. Da glaubten wir alle noch, wir könnten durch das Weltentor nahe dem dampfenden Fluss entfliehen. Aaron wurde dabei schwer verwundet. Der Daimonenfürst führte eine Waffe, gegen die nicht einmal der Maskenhelm aus den Schmieden der Götter schützte.« Bewunderung und Schmerz lagen in den Worten des Hauptmanns. Er berichtete davon, wie er dabei gewesen war, als man Aaron den Helm abgenommen hatte. Von einem tiefen Schnitt quer über das Gesicht, von gebrochenen Rippen und dem zerschundenen Leib des Herrschers.

»Wir haben alles für ihn getan. Erst sah es so aus, als würde er sich erholen. Aber dann, vor fünf Tagen, hat ein Fieber ihn gepackt. Es brennt seine letzten Kräfte hinweg. Nichts, was wir versucht haben, hat geholfen. Du bist seine letzte Hoffnung, Kirum. Er liebt dich … Heute hat er den ganzen Tag phantasiert. Er sorgt sich immer noch um seine Männer. Aber er ist nicht mehr klar bei Verstand …« Ormus Stimme brach. »Ich würde mein Leben geben, wenn ihn das retten könnte«, sagte er schließlich niedergeschlagen.

»Ich auch!«, entgegnete Shaya und versuchte, ihre Verzweiflung zu überspielen. Sie hatte nichts mehr, womit sie Aaron hätte helfen können. Alle Kräuter, aus denen sie einen fiebersenkenden Sud hätte brauen können, waren längst aufgebraucht.

»Wenn er nur einen Moment lang zu Sinnen käme«, murmelte Ormu. »Wenn er dich erkennt. Das könnte das Wunder sein, auf das wir alle hoffen. Als du gegangen bist, ist etwas in ihm zerbrochen. Er war nicht mehr der Mann, den ich kannte. Er ist härter und gnadenloser geworden. Er braucht deine Liebe, um der Herrscher sein zu können, der er zu sein wünscht.«

Die Worte schnitten Shaya ins Herz. Sie würde alles für Aaron tun. Aber sie wusste, sie könnte nicht bleiben. Wenn er sich erholte, dann würde sie wieder gehen müssen. Es war unmöglich, dass der mächtigste Herrscher der Welt ein Küchenmädchen zur Frau nahm. Und sie konnte auch nicht verraten, wer sie wirklich war, denn dann würden Išta und vielleicht sogar der Weiße Wolf ihren Tod fordern. Es gab Shaya nicht mehr. Der Daimon, der sie im Bergkloster aufgesucht hatte, war an ihrer Stelle gestorben. Er hatte sie gerettet und ihr zugleich alle Hoffnung gestohlen. So waren sie, die Daimonen! Ihre Geschenke hatten stets eine dunkle Seite.

»Was ist aus dem Unsterblichen Madyas geworden?«

Im flackernden Licht der Laterne war nicht zu übersehen, wie befremdlich Ormu diese Frage fand, war doch all sein Denken nur auf Aaron ausgerichtet. »Tot«, antwortete er knapp. »Seine Männer tragen seinen Leichnam. Sein Sohn hält jede Nacht mit gezogenem Schwert Wacht an der Bahre seines Vaters, damit weder Daimonen noch Geister den Herrscher berühren können.«

Das passte zu Subai, dachte sie zornig. Große Posen! Darin war er ebenso gut wie im Dreschen leerer Phrasen. Seit er und seine Leibwache in Wanu einen großen Drachen getötet hatten, sprach man im ganzen Heer über Subai. Shaya konnte sich immer noch nicht vorstellen, dass ihr Bruder sich einem Drachen entgegengestellt hatte. Nicht einmal mit hundert Männern an seiner Seite. Sie hatte die tote Bestie in Wanu gesehen, und dieser Drache war eindeutig größer als der Mut ihres Bruders gewesen. Doch diese Heldentat und die Tatsache, dass er den Leichnam seines Vaters zurück zur Wandernden Stadt brachte, würden ihm wahrscheinlich die Gunst des Weißen Wolfes einbringen. Er würde der neue Unsterbliche werden. Ein Blender und Lügner. Ein grausamer Tyrann. Und auch dagegen würde sie nichts unternehmen können. Aus denselben Gründen, aus denen sie nicht Aarons Gemahlin werden konnte. Es gab Prinzessin Shaya nicht mehr. Würde sie beweisen, wer sie war, würde sie zwei Devanthar brüskieren, und sie würde gestehen müssen, dass sie die Hilfe eines Daimons angenommen hatte, um ihrem Tod zu entkommen.

Vor allen Dingen das würde man ihr in einer Zeit, in der die Völker der Welt gegen die Daimonen um ihr Überleben kämpften, niemals verzeihen. Sie war dazu verdammt, im Schatten zu bleiben, ganz gleich, was geschah.

»Hier.« Ormu verließ den Passweg und stieg in die verschneiten Felsen. Halb im Schnee verborgen bemerkte Shaya Krieger mit schweren, weißen Wollumhängen. Kushiten aus der Leibwache des Unsterblichen. Sie standen im Windschatten der Felsen auf ihre Speere gestützt oder kauerten am Boden, blanke Schwerter auf den Knien, bereit, Aaron bis zum letzten Atemzug zu verteidigen. Im Licht der Öllampe erschienen ihre Gesichter eingefallen. Einige trugen blutige Verbände, doch all dies änderte nichts an ihrer zur Schau getragenen Entschlossenheit. Sie waren genauso erschöpft wie alle anderen im Heer, aber Aaron schaffte es, in ihnen eine Flamme lodern zu lassen. Etwas, das sie über alle anderen erhob, das sie dazu brachte durchzuhalten, bis sie tot zusammenbrachen.