Und auch Shaya spürte diese Kraft, als Ormu auf eine mit einer Wolldecke verhängte Felsspalte wies.
»Er ist hier«, flüsterte er, als hätte er Angst, den Schlaf seines Herrschers zu stören, dann schlug er die Decke zur Seite. Die kleine Höhle dahinter wurde von zwei Öllampen beleuchtet. Der Felsboden war mit Decken und zerfetzten Umhängen ausgelegt. Darauf lag Aaron. Nackt! Sein Gesicht war von einem grässlichen Schnitt entstellt, sein Körper bedeckt mit Prellungen. Er wand sich unruhig und stöhnte. Offenbar lag er in tiefem Schlaf.
Shaya trat hastig ein. Es war spürbar wärmer hier. Ormu schlug hinter ihr die Wolldecke herunter und kniete sich besorgt neben seinen Herrscher. »Ich habe ihm kalte Wickel auf seine Stirn und die Beine gelegt, aber das Fieber will nicht sinken. Ich weiß nicht, was ich noch tun soll.«
Der Anblick ihres Geliebten zerriss Shaya das Herz. Sie hatte lange kommen sehen, dass es so enden musste. Er wagte einfach zu viel! Auch sie ging neben ihm in die Knie. Shaya ergriff seine Hand. Die Finger waren viel zu warm und trocken. Es stand kaum Schweiß auf seinem Leib, obwohl das Fieber hoch war. Wie alle im Heer schien auch Aaron zu wenig getrunken zu haben. Seine Lippen waren spröde und rissig.
Sie legte ihre Hand auf seine Brust, dort, wo das Herz war. Sie spürte kaum, wie es schlug. Tausend Bilder drängten auf sie ein. Erinnerungen an leidenschaftliche Liebesnächte, in denen er erschöpft auf ihr gelegen und sie sein Herz stark wie eine Trommel hatte schlagen spüren. Jetzt hob und senkte sich sein Brustkorb selbst bei seinen Atemzügen kaum noch.
»Was können wir tun?«, flüsterte Ormu.
»Wie lange ist er schon bewusstlos?« Shaya beugte sich tief hinab und presste ihr Ohr an seine Brust.
»Zwei Tage … Er … Es schien ihm besser zu gehen. Er hatte sich von seinem Lager erhoben und ein wenig Suppe zu sich genommen. Dann hat er sowohl den Unsterblichen Volodi als auch den Unsterblichen Labarna empfangen. Als er sich anschließend mit den überlebenden Hauptleuten besprechen wollte, ist er ohnmächtig geworden.«
Shaya machte ein Zeichen, dass er schweigen sollte. Angestrengt lauschte sie auf Aarons Herzschlag. Er war nur noch ein unregelmäßiges Flattern. Sie wusste, dass hohes Fieber das Blut klebrig werden ließ. Es verstopfte die Adern und tötete. Aaron war davon nicht mehr weit entfernt. Ratlos hob sie den Kopf.
»Und? Was müssen wir tun, um ihn zu heilen?« Er sah sie so voller Erwartung an, als wäre für ihn ausgeschlossen, dass sie keine Hilfe wüsste.
»Das Fieber wird ihn töten, bevor der Morgen kommt.« Sie konnte Ormu nicht in die Augen sehen, als sie das sagte. Sie hielt den Blick fest auf das Antlitz des Mannes gerichtet, den sie liebte. Sie konzentrierte sich ganz auf die neue Narbe in seinem Gesicht. Ihre Ränder waren aufgewölbt und rot. Spuren von getrocknetem Blut nisteten dunkel im heilenden Fleisch. Die Wunde lief quer über seine Stirn, teilte seine rechte Augenbraue, hatte eine Spur hoch auf dem Nasenrücken hinterlassen und setzte sich unterhalb des linken Auges fort.
Vorsichtig tastete Shaya über die Wundränder. Sie waren nicht entzündet. Hier lag nicht der Ursprung des Fiebers. Aaron hatte großes Glück gehabt. Wäre der Hieb noch ein klein wenig stärker ausgeführt worden, dann würde er jetzt nicht hier liegen.
»Er ist ein Unsterblicher!«, begehrte Ormu gegen ihre Worte auf, als Shaya schon gehofft hatte, er würde ihr Urteil schweigend annehmen.
»So wie Madyas von den Ischkuzaia oder Iwar aus Drusna und Muwatta von Luwien?«, fragte Shaya. Jetzt sah sie auf. »Ein neues Zeitalter hat begonnen, Ormu. Ich glaube nicht einmal mehr, dass unsere Götter unsterblich sind. Sonst wären sie hier, um uns zu schützen. Sie fürchten sich vor dem, was sie entfesselt haben, ebenso wie wir.«
»Nein!«, begehrte der Hauptmann auf. »Nicht Aaron! Es kann nicht sein …« Verzweiflung blitzte in seinen Augen. »Nicht Aaron«, sagte er leiser, fast resignierend.
»Ich sehe einen letzten Weg.«
»Ja?« Voller Verzweiflung hing sein Blick an ihren Lippen.
»Sein Herz schlägt unregelmäßig. Die Gefahr, dass das, was wir tun können, ihn umbringt, ist größer als die Hoffnung, ihn zu retten.« Sie strich Aaron zärtlich über die Brust.
»Was kann ich tun, Kirum?«
»Tragt ihn hinaus und grabt ihn in den Schnee ein. Lasst nur sein Gesicht frei.«
»Aber …« Ormu schüttelte den Kopf.
»Ja, ich weiß«, sagte Shaya traurig. »Die Gefahr ist groß, dass wir ihn dadurch umbringen. Aber wenn wir nichts unternehmen, dann töten wir ihn ganz gewiss durch unser Zögern. Die eisige Kälte ist unsere einzige Hoffnung, das Fieber aus seinen Gliedern zu ziehen. Weicht das Fieber hingegen und hört sein Herz durch den Schock der Kälte nicht einfach auf zu schlagen, dann wird er leben. Und nur dann.«
Während Ormu ein Stoßgebet zum Löwenhäuptigen flüsterte, bat Shaya stumm den Weißen Wolf um Hilfe. Dann rief der Hauptmann einige der Krieger, die in den Felsen Wache hielten. Vier Mann waren nötig, um Aaron zu tragen, so ausgezehrt und erschöpft waren die Kämpfer.
Sie betteten den nackten Herrscher in eine Schneewehe. Mit bloßen Händen grub Shaya ihn in den Schnee. Bald waren ihre Finger völlig gefühllos vor Kälte.
Ormu musste die Männer fast mit Gewalt daran hindern, die Trösterin von ihrem Herrscher fortzuziehen. Shaya wusste, dass es für die Krieger so aussehen musste, als wollte sie den Unsterblichen begraben. Und vielleicht tat sie ja genau das? »Du darfst nicht sterben! Du bist die Hoffnung der Welt. Du darfst nicht sterben!«, flüsterte sie immer und immer wieder.
Als nur noch sein Gesicht unbedeckt war, schob Shaya ihre Hand in den Schnee, um seinen Herzschlag zu fühlen. Doch sie spürte nichts mehr. Ihre Finger waren taub vom Frost geworden. Oder hatte Aarons erschöpftes Herz einfach aufgehört zu schlagen?
Dem Licht entgegen
»Du darfst nicht sterben!«
Die Stimme kam aus weiter Ferne, und doch hätte er sie immer erkannt, auch wenn sie nur ein Wispern im Sturm gewesen wäre. Shaya. Sie war gekommen. Er wusste, dass es nur ein Traum war. Wusste, dass er irgendwo im ewigen Eis am Ende der Welt war. Sie konnte nicht hier sein … Außer im Traum. Er hatte sie so sehr vermisst. Mit ihr war die Farbe aus seinem Leben gewichen und das Lachen. Er hatte lang genug seine Pflicht getan. Jetzt würde er den Traum festhalten, der ihn glücklich machte.
Da war ein warmes gelbes Licht. Er musste nur darauf zugehen, und all seine Wünsche würden wahr. Er zögerte kurz. Er war nie selbstsüchtig gewesen, hatte stets zuerst an die anderen gedacht. Wenn eines Tages alle Menschen so handeln würden, dann würde die Welt ein vollkommener Ort. Als Herrscher war es seine Pflicht, ein Vorbild zu sein, doch er vermisste Shaya so sehr. Er wollte noch einmal ihre Stimme hören.
Langsam bewegte er sich auf das Licht zu. Ihm war so kalt. Ganz sicher würde es dort, wo das Licht war, auch wärmer sein.
Etwas berührte sein Herz. Shaya? Sie war ganz nah, das spürte er deutlich. War sie gestorben? Manchmal hatte ihn diese Angst gequält. War sie ermordet worden und ihr Leichnam vom Königshof in Akšu fortgeschafft worden. Der Palast war ein Ort der Intrigen. Liebe konnte dort nicht gedeihen.
Wartete sie bei dem Licht auf ihn? Zögerlich machte er einen weiteren Schritt darauf zu. Ihm wurde ein klein wenig wärmer. Er machte noch einen Schritt, der ihm diesmal schon viel leichter fiel.
Sie war da! Ganz deutlich spürte er sie. Sie war zu ihm gekommen, endlich wieder. Nur ein paar Schritte noch, und er wäre für immer mit ihr vereint. Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn.
Das Licht verschwand. Plötzlich umfing ihn undurchdringliche Finsternis. Die Kälte hielt ihn fest im Griff. Es fühlte sich an, als würde er emporgehoben und getragen. Jemand sprach über ihn. Es ging um seinen Tod. Dann verstummte die Stimme.