Nicht einmal die Stimmen der früheren Aarons quälten ihn. Stille und Finsternis umfingen ihn. Sah so das Ende aus? Gab es keinen wunderschönen Garten, den die Götter für die freundlichen Seelen erschaffen hatten? War es ihre Aufgabe, diesen Garten zu Lebzeiten auf der Welt Wirklichkeit werden zu lassen, weil es nach dem Leben nichts mehr gab?
Plötzlich flammte das warme Licht wieder auf. Er hörte Shayas Stimme, spürte ihre Hände auf seinem Leib. Sie flüsterte von ihrer Liebe, von lang verstrichenen, glücklichen Stunden. Nur sehen konnte er sie nicht. Ihr nackter Leib schmiegte sich an ihn und schenkte ihm Wärme. Er ließ sich fallen. Gab sich ganz dem Wohlgefühl hin.
Aaron hatte keine Kraft mehr zu kämpfen. Sollten andere nun das Schwert aufnehmen. Seine Zeit war vorüber. Das Licht so nah. Er wollte nicht mehr zurück. Er tat den letzten Schritt.
Von Schwerenötern und Aufschneidern
Galar rieb sich die Nase. Sie fühlte sich taub an.
»Der Winter hat dich nicht hübscher gemacht, Zwerg.« Che grinste ihn frech an. »Ich wette, deine Nasenspitze ist erfroren. Wenn du zu sehr daran reibst, wird sie noch abfallen.«
»So wie die Spitze deines kleinen Fingers gestern?«
Der Kobold seufzte. »Wer braucht schon kleine Finger. Hauptsache, mein Gesicht ist in Ordnung. Die Frauen finden meinen Charme unwiderstehlich. Aber mit halber Nase würde es deutlich schwerer werden, jede Nacht eine ins Bett zu bekommen.«
»Träum weiter …«, murrte Galar. Er mochte diesen Zwergenmörder. Der kleine Scheißkerl hatte wirklich Charme. Er sollte sich vor ihm hüten.
»Falls es dir nicht aufgefallen ist, sogar Ailyn macht mir schöne Augen. Ich könnte sie jederzeit um meinen kleinen … Hmmm … Tja, um meinen kleinen Finger wickele ich sie nicht mehr.«
»Wirklich?«, fragte Nyr ungläubig. »Du meinst, diese eiskalte Drachenelfe ist in dich verliebt?«
Galar traute seinen Ohren nicht. Nyr war wirklich zu gutgläubig! Der Schmied richtete sich auf und machte ein paar Schritte hinauf zur Hügelkuppe. Über ihm spannte sich ein weiter, wolkenloser Himmel. Es wäre ein schöner Tag, wenn es nicht so elend kalt wäre. Gestern war ihnen das Brennholz ausgegangen. Es gab keine Lagerfeuer mehr und keine Möglichkeit, sich etwas Warmes zuzubereiten. Er blickte den Weg entlang, der auf die Berge zuführte. Er wurde von kleinen, schneebedeckten Hügelchen gesäumt, aus denen manchmal ein Arm oder ein Bein herausragte. Die Menschenkinder waren zu Hunderten auf dem Rückzug gestorben. Bei ihnen brannten seit mindestens einer Woche keine Feuer mehr. Ein Wunder, dass überhaupt noch welche von ihnen lebten. Galar verstand nicht, warum ihr Feldherr Solaiyn sie hatte halten lassen. Höchstens drei Wegstunden trennten sie von den Menschenkindern. Sie könnten sie einfach überrennen. Die waren gewiss nicht mehr in der Lage, Widerstand zu leisten. Sie sollten diesen Feldzug endlich zu Ende bringen und nicht länger im Schnee hocken.
Er rieb sich wieder die Nase und ließ den Blick über die weite Hügellandschaft schweifen. Verdammte Kälte! Über den Bergen kreisten die Adler. Nodon war ständig unterwegs. Dieser Elf war Galar noch unheimlicher als Ailyn. Auch wenn sie über ihre Anführerin scherzten, hatte sie sich doch für sie eingesetzt. Und hätte Ailyn nicht den Abstieg zum Kellergewölbe in Wanu verteidigt, wären sie alle längst tot. Nodon war anders. Unnahbar. Seine schwarzen Augen ließen Galar stets erschauern, wenn sie auf ihm ruhten. Und diese Attitüde, immer Rot zu tragen …
Im Norden zwischen den Hügeln bewegte sich etwas. Der Zwerg kniff die Augen zusammen. Schlitten! Endlich kamen die lange versprochenen Schlitten. Sie hätten schon vor Tagen eintreffen sollen. Wer immer den Nachschubtross befehligte, hatte es nicht eilig gehabt, zu ihnen vorzustoßen. Bestimmt so ein Listenkritzler, der stets wusste, wo sich auch die letzte Bohne aus seinen Vorräten befand, und der peinlich darauf achtete, dass die Rentiere ja keinen Schritt zu viel machten, um sich nicht zu verausgaben.
Galar stieg den Hügel hinab zu seinen Kameraden, wo Che immer noch großspurig von seinen Liebesabenteuern erzählte. Neben den Zwergen und Kobolden kauerten die letzten drei Trolle im Schnee. Groß und grau, sahen sie wie Felsen aus, wenn man nicht genau hinsah. Und nach wie vor trugen sie nichts als einen Lendenschurz.
»Wird euch nie kalt, Groz?«, fragte Galar eifersüchtig.
Der Troll wandte langsam das Haupt und sah auf ihn herab. »Ist ein wenig frisch«, sagte er behäbig. »Mich stört die Sonne. Verbrennt die Haut. Wolken oder ein Schneesturm sind besser.«
»Stimmt, genau das fehlt uns.«
»Finde ich auch.« Groz nickte.
Galar hatte vergessen, dass Trolle mit Sarkasmus nicht sonderlich viel anfangen konnten. Sich einen Schneesturm wünschen! Also wirklich! »Die Schlitten kommen endlich.«
»Ein Rentier wäre schön …« Die Stimme des Hünen hatte einen träumerischen Ton angenommen. »Hatte genug gefrorenes Menschenfleisch.«
Die Trolle waren die Einzigen, die in den letzten Tagen keinen Hunger gelitten hatten. Voller Abscheu dachte Galar daran, wie er am Morgen Groz und seine Kumpanen beim Fressen gestört hatte. Sie hatten eine erfrorene Frau gefunden und eifrig darüber getratscht, ob es einen geschmacklichen Unterschied zwischen Männern und Weibern gab. Galar war ganz übel geworden, als er gesehen hatte, wie Groz sich ein erfrorenes Bein in seinen Vorratssack gestopft hatte. Mit Trollen würde er niemals warm werden, dachte er ernüchtert. Ganz gleich, wie viele Gefahren sie gemeinsam überstanden.
Galar schlug sich mit den Händen auf die Arme, um wieder Gefühl in seine kältetauben Finger zu bekommen, und wandte sich wieder Che zu, der immer noch von seinen Liebesabenteuern erzählte.
»Und, hast du Ailyn herumbekommen, Herzensbrecher?«, unterbrach Galar ihn brüsk.
»Sie hat mir ziemlich eindeutige Angebote gemacht.«
»Und wie war sie so? Ich meine …« Galar blieb das Wort im Hals stecken. Hinter Che war die Drachenelfe erschienen. Wie stets bewegte sie sich völlig lautlos. Galar hob die Brauen und versuchte den Kobold auf sie aufmerksam zu machen, doch der verstand nicht.
»Zu groß und zu dürr!«, entgegnete Che ruhig und mit einem anzüglichen Grinsen. »Einfach nicht mein Geschmack, die Gute. Auch wenn sie sich nach mir verzehrt.«
»Gut zu wissen, dass ich Gefahr laufe, hier an gebrochenem Herzen zu sterben«, sagte Ailyn. Sie stand jetzt unmittelbar hinter Che.
Der Kobold drehte sich um. »Bei den Alben, meine Liebe. Du siehst heute wieder hinreißend aus! Wenn ich dich so anschaue, sollte ich vielleicht meine Vorurteile gegen Elfendamen fahren lassen. Hast du am Abend schon etwas vor?«
Galar verschlug so viel Frechheit schier die Sprache.
»Ich habe gerade von unserem Feldherrn mitgeteilt bekommen, dass ich euch nicht länger anführen werde.« Sie beugte sich zu Che hinab. »Ich habe also durchaus Zeit. Hast du keine Angst, dass deine empfindlichsten Teile bei dem Frost Schaden nehmen werden?«
»Ich bin sicher, das gute Stück wird sehr schnell an einem warmen Ort Unterschlupf finden.«
Galar sah im Geiste den Kopf des tolldreisten Kobolds in den Schnee rollen, doch nichts geschah. Ailyn lächelte nur. »Dann komm ich dich in der Nacht holen«, sagte sie doppeldeutig.
»Wer ist der neue Anführer?«, platzte es aus Nyr heraus.
Die Elfe zuckte mit den Schultern. »Irgendein legendärer Zwergenheld. Solaiyn hat den Namen genannt, aber ich konnte ihn mir nicht merken. Irgendetwas mit Horn.«
Galar traute seinen Ohren nicht. »Hornbori? Hat er so geheißen?«
Ailyn nickte. »Stimmt, das war der Name.« Nun lag unüberhörbar eine Spur von Ärger in ihrer Stimme.
»Sie können dir doch nicht einfach das Kommando wegnehmen«, empörte sich Nyr. »Du hast mit uns gekämpft und geblutet. Das geht doch nicht …«
»Übertreib nicht. Geblutet habe ich nicht. Das wart ihr Anfänger.«
Die Trolle brachen in tiefes, kehliges Lachen aus. »Stimmt!«, erklärte Groz.