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Sie rutschte vom eisverkrusteten Fels und stürzte in den Schnee. Sie hatte nicht mehr den Willen aufzustehen. Hoch über ihr stand die Nachmittagssonne am wolkenlosen Himmel. Shaya stellte sich vor, es sei ein Sommertag wie in ihrer Kindheit. Ein Tag, an dem sie ihrem Kindermädchen entflohen war und mit unter dem Nacken verkreuzten Armen auf einem Hügel im hohen Gras der Steppe lag. Die Sonne kitzelte ihre Nase und wärmte ihr Gesicht. Es war ein vollkommener Nachmittag, dachte sie und schloss die Augen.

Acoatl

»Shaya?« Blinzelnd sah Aaron sich um. Er lag in einer Höhle, konnte sich aber nicht erinnern, wie er hierhergekommen war.

Eben noch war Shaya bei ihm gewesen. Sie hatte in seinen Armen gelegen und ihn zärtlich geküsst. Doch nun war er allein. Aaron hatte das Gefühl, dass sogar noch ihr Duft in der Luft hing. Es musste wohl ein Traum gewesen sein. Er erinnerte sich, Fieber gehabt zu haben. Seine Männer hatten ihn getragen …

Der Rückzug! Wo war er jetzt?

»Ormu!« Aarons Stimme war schwach. Er ärgerte sich über seine Unzulänglichkeit, setzte sich auf und wollte zu der schweren Decke am Eingang der Höhle gehen, als diese zurückgezogen wurde. Das rotbärtige Gesicht des hageren Jägers aus Garagum erschien.

»Unsterblicher?«

»Ich muss hier raus. Hilf mir!«

»Nein.«

Aaron war völlig perplex. Dass sich jemand einem direkten Befehl von ihm widersetzte, hatte es lange nicht mehr gegeben.

Das liegt an deiner laschen Art, meldeten sich die Stimmen in seinem Kopf. Dieser ungewaschene Hinterwäldler hat keinen Respekt vor dir. Du solltest ihn auspeitschen lassen. Gleich jetzt!

Aaron stöhnte und ignorierte die Stimmen. Er hatte so sehr gehofft, dieser Plage endlich entkommen zu sein.

Ormu rief einen Befehl über seine Schulter, den Aaron nicht klar verstand. Dann drehte sein Hauptmann sich kurz um, nur um sofort wieder in der Höhle zu erscheinen. Er hielt einen kleinen Bronzepokal in Händen und kniete vor ihm nieder.

»Trinkt!«

Merkst du das? Kein Respekt, sage ich dir!

»Was ist das?« Aaron hatte kaum die Kraft zu sprechen. Dabei hatte er sich eben, als er erwacht war, doch noch erholt gefühlt.

»Eine Brühe aus Trockenfleisch. Schmeckt entsetzlich, aber sie gibt Kraft.«

Aaron erlaubte, dass Ormu ihm den Pokal an die Lippen setzte. Er fürchtete, er könne ihm entgleiten, wenn er selbst versuchte, ihn zu halten. Die Brühe schmeckte wirklich übel. Aber sie war warm. Und das tat gut.

»Ist das wirklich Trockenfleisch, oder hast du deine Schuhsohlen für mich ausgekocht?«

Der Jäger lächelte. »Schön, dass es dir besser geht, Unsterblicher. Wir dachten …« Er stockte und sah zu Boden.

»Es geht mir gut. Ich fühle mich, als könnte ich Bäume ausreißen.« Er grinste. »Sagen wir, ein paar junge Setzlinge. Wer war bei mir? Wer hat mich gepflegt.«

Ormu hielt den Blick starr auf die Wolldecken am Boden gerichtet. Er schien eine Laus zu beobachten, die aus einer der Falten kletterte. »Die Kushiten, Unsterblicher. Sie waren immer bei dir. In der Nacht haben wir dich im Schnee eingegraben, um dein Fieber zu senken. Wir hatten Angst, dass du diesen Morgen nicht mehr erleben wirst … Es war eine schwere Nacht.«

»Wer war in der Höhle bei mir und hat mich gepflegt?«

»Du hast dich alleine wieder erholt, Unsterblicher.«

Ormu antwortete zu hastig. Es klang nach einer Lüge. Aber Aaron verstand: Was auch immer in dieser Nacht geschehen war, er würde es nicht aus dem Hauptmann herausbekommen. Aaron wünschte sich, er wäre nicht erwacht und würde immer noch in Shayas Armen liegen. Aber jetzt war nicht die Zeit für selbstsüchtige Tagträume. Er leerte den Pokal bis zur Neige und kaute auf den Fleischstückchen, die im warmen Wasser geschwommen hatten.

»Hilf mir, mich anzukleiden«, entschied er.

Ormu fühlte sich sichtlich unwohl dabei, den Kammerdiener zu geben, aber er gehorchte. Als es vollbracht war, trat Aaron auf den Hauptmann gestützt aus der Höhle, wo ihn die übrigen Kushiten freudig begrüßten. Er war gerührt von der Treue und Hingabe der Männer, die wie auf einem Paradeplatz vor ihm salutierten, als gäbe es weder Not noch Verzweiflung.

Aaron erwiderte ihren Gruß und tauschte ein paar Worte mit den Kriegern. Dann wandte er sich wieder an Ormu. »Ruf die anderen Unsterblichen herbei. Ich muss mich mit ihnen beraten.«

»Ich … ähm … Ich fürchte, sie werden nicht kommen.«

Er verstand. Er war zu lange bettlägerig gewesen. Selbst ein geschlagenes Heer wie das ihre durfte nicht ohne Führung bleiben. »Wer hat den Oberbefehl?«

»Acoatl, der Herr der Himmel und all dessen, was unter ihnen liegt.«

Aaron seufzte. Ausgerechnet der Zapote! »Ich werde also zu ihm gehen. Wo finde ich ihn?«

»Er ist bereits oben auf dem Pass. Wir sind jetzt die Nachhut. Es befinden sich noch Hunderte Nachzügler auf dem Aufstieg. Und keiner weiß, wie viele unten am Fuß der Berge lagern.«

»Wie viele meiner Kushiten sind noch kräftig genug, um sich auf den Beinen zu halten?«

»Mit mir sind es noch zweiunddreißig, Unsterblicher.«

»Dann stelle einen Mann ab, der mich den Pass hinaufbringt, und versuche, mit den restlichen Kriegern so viele von den Nachzüglern zu retten wie möglich. Wir müssen nur noch über diesen Berg! Das werden wir schaffen.«

Ormu bedachte ihn mit einem schmerzlichen Lächeln. »Wenn ich deinen Befehl ausführe, Unsterblicher, dann werde ich nicht wiederkehren und meine Männer auch nicht. Wir haben kaum den halben Aufstieg geschafft und sind erschöpft. Wenn wir zurückgehen, um anderen Schwachen zu helfen, dann … Alle sind am Ende ihrer Kräfte, Unsterblicher.«

Aaron ballte in hilfloser Wut die Fäuste. »Wir können doch nicht einfach die Schwachen zurücklassen. Nicht jetzt, wo wir so nahe vor dem Weltentor sind!«

»Wir tun das schon seit Tagen, Unsterblicher. Du lagst im Fieber. Du konntest das Elend nicht sehen. Wer nicht mehr weitergehen kann, der ist des Todes. Alle wissen das.«

»Bring mich zu Acoatl!«, entschied Aaron.

»Wir sollten alle gehen«, empfahl Ormu leise. »Acoatl ist mit den anderen Herrschern oben am Pass. Es wird deine Männer beflügeln, wenn du in ihrer Mitte bist, Unsterblicher. Sie werden das brauchen, um den Weg zu schaffen.«

Aaron blickte in die ausgemergelten Gesichter. Haare und Bärte waren von Frost gesprenkelt, die Kleider abgerissen, doch alle trugen noch ihre Waffen.

»Ersteigen wir den Pass!«, rief er den Kushiten zu. »Gehen wir zurück nach Hause!« Die verzweifelte Hoffnung in den Gesichtern der Männer schnitt ihm ins Herz. Er war es ihnen schuldig, sie zurückzubringen. Ormu hatte recht. Sie konnten sich nicht mehr um jene kümmern, die zurückgefallen waren.

So begann Aaron an der Spitze seiner Männer den Aufstieg.

Der Weg überstieg bald seine Kräfte. Abwechselnd stützten Ormu und die anderen ihn. Es war demütigend, so schwach auf den Beinen zu stehen wie ein neugeborenes Fohlen. Noch bevor die Hälfte des Weges geschafft war, musste Aaron sich tragen lassen.

Als sie die Passhöhe fast erreicht hatten, hieß Ormu die Männer, ihn wieder abzusetzen. Der Hauptmann der Kushiten schlang ihm einen Arm um die Hüften und stützte ihn.

Auch seine Wachen vermochten kaum noch zu gehen. Keuchend stützten sie sich auf ihre Speere, als sie die letzten Schritt des Weges erklommen.

»Aaron!«, erklang plötzlich eine vertraute Stimme. Augenblicke später stand Volodi vor ihm.

»Aaron, Dank ist sich den Göttern!«

Die Augen des Drusniers waren eingefallen, sein blonder Bart ungepflegt und voller Läuse. Und doch strahlte der Unsterbliche eine Kraft aus, um die Aaron ihn beneidete.

»Tut es sich gut, dich wieder zu sehen auf den Beinen, mein Freund.«

»Es waren nicht meine Beine, die mich hierhergebracht haben«, bekannte Aaron.