»Auge! Schießen!«, schrie der Troll und brüllte dann dem Löwen, der keinen einzigen Laut von sich gab, ins Gesicht.
Hornbori griff nach der Armbrust. In verzweifelter Hast drehte er die Kurbel, mit der die Sehne gespannt wurde. Er legte einen Bolzen auf die Führungsschiene und zögerte. Bisher waren alle Geschosse vom silbernen Löwen abgeprallt. Jetzt, da er der Bestie so nahe stand, sah er, dass sie ganz und gar aus Metall erschaffen war. Die Geschosse hatten nur flache Dellen und Schrammen auf dem Silber hinterlassen. Aber vielleicht waren die kleinen, bernsteinfarbenen Augen ja verletzlich.
»Schnell!«, stöhnte der Troll. Der Schnee ringsherum war von Blut durchtränkt, in dem Streifen seines Fleischs lagen, das ihm die messerscharfen Klauen aus dem Leib rissen.
Hornbori hob die Waffe und trat näher. »He, Mistvieh!«
Der Löwe wandte ihm den Kopf zu. Hornbori krümmte den Zeigefinger und zog den Abzugsbügel der Armbrust zurück. Die Sehne schnellte vor. Der Bolzen schoss davon.
Und der Löwe … blinzelte. Mit scharfem, metallischem Kreischen glitt der Armbrustbolzen vom silbernen, mit Goldwimpern versehenen Augenlid ab.
»Scheiße … Noch mal«, stieß der Troll abgehackt aus. Immer tiefer gruben sich die Löwenkrallen in seinen Leib. Die mächtigen Arme, die den Nacken des Ungeheuers umschlossen hielten, zitterten. Und keine hundert Schritt entfernt stürmten die Menschenkinder heran.
Hornbori wollte fortlaufen, doch ihm war mit tödlicher Gewissheit bewusst, dass der Löwe ihn einholen und zerfleischen würde. Fliehen half nicht, er musste jetzt handeln! Er stieß den Fuß in den Bügelschuh der Armbrust, beugte sich vor, griff mit beiden Händen nach der Kurbel über der Führungsschiene der Waffe und begann zu kurbeln. Langsam krümmte sich der Bogen aus Silberstahl. Endlich war die Waffe gespannt. Mit zitternden Händen griff Hornbori nach der Tasche mit den Bolzen.
»Schnell …« Die Stimme des Trolls hatte alle Kraft verloren. Es blieben nur noch Augenblicke, bis dieser ungleiche Kampf vorüber wäre. Hornbori entglitt der Bolzen, den er gezogen hatte. Ohne den Blick vom Löwen zu wenden, tastete er über den Schnee. Die Krallen des Raubtiers hatten ein grässliches Gemetzel angerichtet. Die strampelnden Hinterläufe pressten sich gegen den Leib des Trolls und weideten ihn buchstäblich aus, nachdem sie seine Bauchdecke zerfetzt hatten.
»Jetzt …« Brass löste einen Arm und griff dem Löwen ins Gesicht. Mit dem Daumen drückte er gegen die goldenen Wimpern, sodass der Löwe das Augenlid nicht senken konnte.
Hornbori trat dicht an die Bestie, hob die Waffe und drückte ab. Es gab einen klirrenden Laut. Der Bolzen verschwand im Bernsteinauge. Metall kreischte. Eine schwarze Flüssigkeit troff aus dem zerstörten Auge. Der Löwe bäumte sich nach hinten. Dann erstarrte er.
»Erzähl König Bromgar … von Jagd«, stammelte Brass.
»Das mach ich«, versprach Hornbori und dachte zugleich, dass er niemals zum Königshof des Trollherrschers ziehen würde. Brass war ein Idiot gewesen, sein Leben wegzuwerfen, aber er hatte sich die Lüge redlich verdient. Ohne den Troll wäre er jetzt tot, dessen war Hornbori sich nur zu bewusst.
»Bist guter Anführer …«, stammelte der Troll. »Spüre den Blick des Goldenen …« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Dann wurden seine Augen glasig.
Brass war stolz darauf, auf diese Art verreckt zu sein, dachte Hornbori mit Befremden. Diese Art Tapferkeit war dem Zwerg gänzlich unbegreiflich. Sie beide waren keine Freunde gewesen, und es hatte dem Troll keinerlei Nutzen gebracht, sich zu opfern. Die einzig plausible Erklärung war, dass der Hüne ein Hirn von der Größe einer Walnuss hatte.
Hornbori hob den Blick und sah zu den anmarschierenden Menschen. Der Tod des Löwen hatte ihrem Angriffsmut einen Dämpfer versetzt. Sie marschierten zwar noch voran, waren aber wieder deutlich langsamer geworden.
Hornbori ging rückwärts den Schlitten entgegen, ohne das kleine Heer aus den Augen zu lassen. Neben den Menschen fielen ihm nun noch andere seltsame Kreaturen auf. Geschöpfe, die wie lebendig gewordene Schatten aussahen und vor der Schlachtlinie hin und her huschten.
Der Zwerg winkte den flüchtenden Schlitten zu. »Ich hab den Löwen getötet«, rief er aus Leibeskräften. »Kommt zurück! Wir werden siegen.«
Im Rückwärtsgehen spannte er die Armbrust erneut. Als er zu den Bolzen griff, zitterten seine Hände nicht mehr. Er kniete sich nieder, zielte in aller Ruhe und schoss. Zufrieden sah er, wie der Kerl, den er anvisiert hatte, nach hinten gerissen wurde und nicht mehr aufstand. So hatte er sich diese Schlacht vorgestellt. Maximaler Schaden beim Feind, kein eigenes Risiko.
In Gedanken entwarf er schon die Rede über seinen Sieg, die er in den Ehernen Hallen halten würde. Eikin, der Alte aus der Tiefe, war ihn nicht losgeworden. Hornbori lächelte grimmig. Im Gegenteil, wenn er als Held in die Zwergenstadt zurückkehrte, wäre er mächtiger als je zuvor. Und sicher würde sich ihm Amalaswintha in die Arme werfen. Kriegshelden kamen bei Frauen immer gut an.
Pfeile und Speere huschten über Hornbori hinweg. Die Schlitten hatten gewendet. Peitschen knallten, und die Zwerge auf den Kutschböcken trieben die Rentiere an, sich mit aller Kraft ins Geschirr zu werfen.
Allen voran kam sein Schlitten mit der prächtigen Drachenstandarte. Rafa ließ den Kutscher dicht bei Hornbori halten und streckte dem Zwerg die Hand entgegen. »Bei den Alben, du hast den Löwen erschossen«, rief der Kobold begeistert.
Hornbori setzte eine zerknirschte Miene auf. »Leider konnte ich Brass nicht mehr retten. Die Bestie hat ihn angefallen, als er sich gerade zur Flucht wenden wollte. Ich hatte ihm noch zugerufen, er solle hinter mir Deckung suchen, während ich nachlade, aber dieses Ungeheuer hat ihm einfach Angst gemacht. Du weißt ja, die Trolle haben es nicht so sehr mit Metall. Es verbrennt ihnen die Haut. Dieser Löwe muss ein lebendig gewordener Albtraum für ihn gewesen sein.«
Rafa betrachtete den Troll nachdenklich. Er wirkte plötzlich traurig. Erstaunlich, waren doch Trolle und Kobolde nicht gerade Freunde.
»Zuletzt hat Brass wieder zu seinem Mut zurückgefunden und den Löwen in den Schwitzkasten genommen. So konnte ich einen sicheren Schuss ins Auge setzen«, setzte Hornbori nach und erklomm den Kutschbock.
Die übrigen Schlitten hatten ebenfalls angehalten und erneut eine Reihe gebildet. Alle schossen, was das Zeug hielt, und schnell verließ die Menschenkinder aller Mut. Obwohl einzelne Krieger vor ihrer Schlachtreihe auf und ab liefen und Befehle brüllten, zogen sich immer mehr Männer zurück.
»Vorwärts«, rief Hornbori begeistert. »Vorwärts, wir zermalmen sie!«
Die Schattengestalten, die ihm eben schon aufgefallen waren, waren die Einzigen, die noch den Schlitten entgegenliefen.
Hornbori lud seine Armbrust nach, als eine jener Kreaturen auf die Rentiere sprang, die vor seinen Schlitten geschirrt waren. Nie zuvor hatte er ein solches Geschöpf gesehen – halb Menschenkind, halb Katze, bewegte es sich mit fließender Eleganz und rammte dem vordersten Rentier eine Krallenhand in den Nacken.
Rafa schrie den Kobolden einen Befehl zu. Ein halbes Dutzend Armbrüste sirrten wie wütende Bienen, doch der Katzenmann ließ sich seitlich am Rentier hinabgleiten, wobei seine Krallen tiefe, rote Schnitte im Rücken des Tieres hinterließen.
Hornbori blickte nach rechts und links zu den anderen Schlitten. Es war überall dasselbe Bild. Die Katzenmänner griffen die Leittiere in den Gespannen an. Schon stürzten die ersten Rentiere. Die Menschenkinder, die sie fast zurückgeschlagen hatten, rotteten sich zu kleinen Gruppen zusammen und gingen wieder vor.
Hornbori fluchte und lud seine Armbrust. Es würde doch etwas härter werden, als er erwartet hatte. Aber mithilfe der Trolle würden sie die Attacke schon zurückschlagen.
Plötzlich wuchs hinter den Feinden ein gleißendes Licht aus dem Schnee. Ein Albenstern öffnete sich. Das war die Rettung. Sie bekamen Verstärkung!