Der gestohlene Leib
Der Goldene mochte einfach nicht glauben, was er sah. Hielten die Menschenkinder seinen Heerführer tatsächlich für so dumm? Es war eine Beleidigung, diese seltsamen Adlermänner auf dem Berghang tief unter sich zu sehen.
Der Drache sah durch die Augen Solaiyns. Wieder einmal hatte er sich im Geist des Heerführers eingenistet, um durch ihn zu erleben, was auf Nangog geschah. Mit jedem Mal, dass er sich des Elfen bemächtigte, wurden seine Sinne schärfer und die Beherrschung von Solaiyns Körper umfassender. Es war absolut erstaunlich, dass der Fürst nicht wie all die anderen vor ihm Gehirnblutungen bekam. Er schien in ihm das vollkommene Werkzeug gefunden zu haben. Gegen Solaiyns Willen hatte er den Fürsten gezwungen, auf den Rücken eines der großen Adler zu steigen. Der Elf war ihm machtlos ausgeliefert, und der Goldene wollte sehen, wie es mit dem Heer der Menschenkinder zu Ende ging.
All seine Brüder – außer dem Dunklen – lagen in einem verborgenen Tal hoch im Norden Albenmarks und lauschten den Worten, die er wie im Schlafe sprach, während er sich des Körpers des Fürsten bemächtigt hatte.
Seine Nestbrüder waren genauso erzürnt über die plumpe Falle der Menschenkinder.
»Vertreiben wir sie vom Pass!«, schrie der Goldene über den Wind hinweg Nodon zu, der an seiner Seite flog, und lenkte dann seinen Adler in die Tiefe. Es war ein wundersames Gefühl, auf fremden Flügeln zu fliegen.
Elf andere Adler folgten ihnen. Die dummen Menschenkinder! Sie beobachteten angespannt die Passwege, dabei hatte nicht ein einziger Krieger des Elfenfürsten den leichengesäumten Pfad über die Berge betreten. War ihnen immer noch nicht klar, dass ihre Falle allein ihnen zum Verhängnis werden sollte!
Erst im allerletzten Augenblick sah einer der Adlermänner zum Himmel auf und sah das Verhängnis, das ihnen mit vorgereckten Fängen entgegenstürzte. Adlerkrallen bohrten sich tief in die Brust des Menschensohns, noch bevor er flüchten konnte. Einige seiner Gefährten stürzten sich in die Tiefe und glitten zur Überraschung des Goldenen dicht über dem Hang hinab zur Ebene, gefolgt von wirklichen Adlern, die sie erbarmungslos jagten. Die meisten der Adlermänner ereilte jedoch auf dem Felskamm über der Passhöhe ihr Schicksal.
Der Goldene hieß seinen Raubvogel landen. Zufrieden schwang er sich vom Rücken des Adlers und stieg über einen der Toten. Was ging in den Köpfen dieser Menschenkinder vor sich, sich wie Vögel zu verkleiden?
Interessiert beobachtete der Goldene die Jagd am Hang. Zwei der Menschenadler schafften es tatsächlich zu entkommen. In die Nachzügler, die erschöpft auf der südlichen Bergflanke gekauert hatten, um die Schlacht in der Ebene zu beobachten, kam ebenfalls Bewegung. Ahnten sie, was es bedeutete, die Höhe verloren zu haben, oder waren es allein die großen Adler, die ihnen Furcht einflößten? Es würde keinen Kampf um den Pass geben. Sie hatten im Handstreich alle Verteidiger vertrieben. Die Nachzügler waren ihnen wehrlos ausgeliefert. Genussvoll verfolgte er, wie Männer ihre Kameraden, die nicht mehr aus eigener Kraft gehen konnten, im Stich ließen. Ja, manche nutzten die vermeintliche Gunst des Augenblicks noch zu einer letzten Schandtat. Dicht unter der Bergkuppe wurde ein langhaariger Krieger niedergeknüppelt und seines Pelzmantels beraubt. Andere Plünderer entrissen gestrauchelten Gefährten ihre letzten Vorräte. Sie waren so wunderbar skrupellos, diese Menschenkinder.
Schließlich wandte sich der Goldene den Felsbrocken zu, die vorbereitet worden waren, um in den nördlichen Passweg gestürzt zu werden und eine Lawine zu entfesseln. Stümperhaft! Die Anführer der Menschenkinder mussten doch um die Adler Albenmarks gewusst haben. Immer wieder hatten die großen Greifvögel in die Kämpfe eingegriffen. Wie hatten sie glauben können, dass einem Feind, der den Himmel beherrschte, diese Falle entgehen würde?
Er bückte sich nach einem knotigen Wanderstab, der zwischen den toten Adlerkriegern am Boden lag. Er war sich bewusst, dass Nodon ihn misstrauisch beobachtete. Dem Drachenelfen aus dem Gefolge des Erstgeschlüpften war nicht entgangen, wie sehr sich sein Heerführer an diesem Morgen wieder einmal verändert hatte.
Der Drache wog den knotigen Holzstab in der Hand, dann flüsterte er ein Wort der Macht, so alt und dunkel, dass es Nodon respektvoll Abstand nehmen ließ.
Entschlossen rammte der Goldene den Holzstab auf den eisverkrusteten Felsboden zu seinen Füßen. Es war, als hätte er auf die Mitte eines straff gespannten Trommelfells geschlagen. Er spürte, wie der Boden unter seinen Füßen vibrierte und sich dieses Vibrieren durch den Fels fortsetzte. Weit über den Bergkamm und auch über die Hänge hinab. Felsen gerieten ins Rutschen, Schneebänke lösten sich von den Hängen.
Auf beiden Seiten des Passes versank die Welt in weißes Chaos. Lawinen donnerten den engen Passweg hinab und frästen sich über die felsigen Hänge. Der Lärm, der sich erhob, löschte jedes andere Geräusch aus. Das machtvolle Donnern der stürzenden Schnee- und Felsmassen verschlang die Schreie der Sterbenden. Schnee stob in dichten Wolken auf und nahm die Sicht auf das Schlachtfeld auf der Ebene.
Die Adler ringsherum flogen erschrocken auf. Auch das Tier, auf dem der Goldene geritten war. So saß er auf dem Bergkamm über dem Passweg fest, als der letzte Akt des Dramas begann, das er so minutiös geplant hatte. Der alte Drache spürte, wie sich der Albenstern in der Ebene öffnete, doch konnte er nicht mehr sehen, wer über die Goldenen Pfade trat.
Letzter Widerstand
Als Aaron den silbernen Löwen fallen sah, zerbrachen all seine Hoffnungen. Es war der letzte Löwe gewesen, der ihr geschlagenes Heer begleitet hatte. Der Löwe, der das Weltentor hätte öffnen sollen! Nun gab es kein Entkommen mehr aus der Eiswüste. Allein die silbernen Löwen und die Devanthar vermochten die Tore zu den Goldenen Pfaden zu öffnen. Der Angriff, der ihren Rückzugsweg hatte sichern sollen, hatte alle Hoffnungen zunichtegemacht.
»Was tun wir jetzt?«, fragte Ormu, der an seiner Seite gegangen war und ihn mit einem Schild gegen den Beschuss mit den schweren, kurzen Pfeilen, die ihre Feinde verwendeten, beschirmt hatte. Es war einer der letzten Schilde in der ganzen Armee. Die großen, unhandlichen Schilde hatten zu den ersten Ausrüstungsgegenständen gehört, die ihre Truppen auf dem mühseligen Rückzug fortgeworfen hatten.
»Wir rücken weiter vor!«, entschied Aaron. »Sollen sie sehen, dass wir keine Feiglinge sind.« Er hob sein Schwert und deutete auf die schweren Schlitten, die ihnen nun entgegenfuhren. »Vorwärts, Männer! Stürmt die Wagen und lasst die verfluchten Daimonen euren Stahl schmecken!«
Die lockere Schlachtlinie setzte sich wieder in Bewegung. Langsamer jetzt. Der Tod des Löwen hatte ihnen allen Mut genommen. Jeder einzelne Krieger wusste, dass es nun keinen Weg zurück mehr gab.
»Schnappen wir uns die Wagen und machen wir ein hübsches Feuerchen daraus!«, rief Aaron einer plötzlichen Eingebung folgend. Und tatsächlich, es wirkte. Die Krieger schritten ein wenig entschlossener voran. Seit fast zwei Wochen hatte es keine Feuer mehr gegeben. Ihnen allen war die Kälte tief in die Knochen gezogen. Für die Aussicht, sich allein die Hände wärmen zu können, würden die meisten der Männer alles tun.
Die Schlitten mit den seltsamen gehörnten Zugtieren hatten sich zu einer Linie formiert, die sich langsam auf sie zubewegte. Als ihnen erste Pfeile entgegenzischten, lösten sich die Jaguarmänner ohne Befehl aus der löchrigen Schlachtreihe. Todesmutig stürmten sie den Wagen entgegen und schlugen dabei Haken wie Hasen auf der Flucht.
Ein Sturm von Pfeilen schlug ihnen entgegen, doch kein einziger von ihnen stürzte. Aaron erinnerte sich, wie die Jaguarmänner auf der Hochebene von Kush ganz alleine die Streitwagen Muwattas aufgehalten und das Heer Arams vor der sicheren Vernichtung bewahrt hatten. Sie waren wahrlich schreckliche Gegner! Und nun brachten sie den Daimonen das Fürchten bei. Sie griffen nicht die Wagen, sondern die Zugtiere an.