Ohne Eile kam der Hüne auf ihn zu. Wieder sah er abschätzend auf ihn herab. Dann hob er den rechten Fuß und stellte ihn auf die Brust des Unsterblichen. Ansur hörte seine Rippen knacken. Er schnappte verzweifelt nach Luft. Kurz bevor ihm schwarz vor Augen wurde, spritzte ihm etwas Warmes ins Gesicht. Der Druck ließ nach, und er konnte wieder atmen! Er blinzelte. Sah, dass der graue Hüne ein Stück zurückgewichen war und ihm ein Schwert aus dem Bauch ragte. Ein seltsames Licht spielte um die Waffe.
Verwirrt glaubte er zu sehen, wie das Schwert Licht aus dem Hünen herauszog, so wie es die Grünen Geister bei den Sterbenden taten.
Ansur wandte den Kopf. Neben ihm stand König Geisterschwert, Aaron von Aram. Ihn schauderte. Er dachte an all die Geschichten, die man sich über diesen Unsterblichen erzählte, den einzigen, den die Devanthar je in den Gelben Turm eingeladen hatten.
Aaron winkte einem rotbärtigen Krieger und einigen anderen. »Los, befreit den Unsterblichen Ansur!«
Der tote Hengst wurde zur Seite gezogen. Aaron reichte ihm die Hand und half ihm auf die Beine. Genau so hatte es nicht kommen sollen, dachte Ansur beschämt. Er hatte der Held in einem glänzenden Angriff sein wollen. Er sah um sich. Ein Teil seiner Reiter umkreiste die Wagen. Sie hatten es schwer. Sie kamen vom Sattel nicht auf die Pritschen, wurden mit Speeren und Äxten abgewehrt oder auf kürzeste Distanz von den seltsamen Kreuzbögen der Daimonen niedergeschossen. Diese Attacke war der falsche Weg. Er hatte es eigentlich von Anfang an geahnt.
Ansur legte beide Hände an den Mund und rief aus Leibeskräften: »Rückzug!«
Aaron gab einem nahe stehenden Hornbläser ein Zeichen, und dieser gab das kurze, abgehackte Signal, das die Männer zurückbefahl.
»Wir werden sie unter Pfeilen begraben!«, sagte Ansur entschieden. »Ich habe viele Bogenschützen mitgebracht. Sehr viele!«
Aaron lächelte ihm grimmig zu. »Das ist ein guter Plan. Unsere Männer haben genug geblutet. Bringen wir keinen mehr vor die Schwerter der Feinde.«
Ein grosser Sieg
»Ja!« Hornbori stieß triumphierend die Faust gen Himmel. »Sie hauen ab. Wir haben es ihnen gegeben. Verfluchte Menschenkinder! Schaut nur, wie sie rennen können!«
Der Zwerg führte einen kleinen Freudentanz auf der Pritsche seines Schlittens auf, klatschte bei Rafa ab, was den Kobold fast von den Beinen riss. Ihre Rentiere waren alle tot. Diese verdammten Katzenkerle hatten zudem zwei Kutschen angegriffen und die kompletten Besatzungen niedergemetzelt, und dann waren auch noch die Reiter über sie hergefallen. Hornbori hatte sich im Geiste schon verrecken sehen. Aber sie hatten es ihnen gegeben! Sogar die letzten lebenden Katzenmänner huschten eilends davon.
»Wir kommen hier nicht mehr weg«, sagte Rafa dumpf.
Warum musste man in jeder Truppe mindestens einen Griesgram haben, der die Moral untergrub, dachte Hornbori ärgerlich. »Wir müssen hier nicht fort. Jeder unserer Schlitten ist eine Festung für sich. Und sogar die Menschen haben begriffen, dass sie sie nicht einfach stürmen können. Die hauen ab. Die werden durch den Albenstern flüchten, und wir können von hier aus in aller Ruhe zusehen, wie sie sich dünnemachen. Wir haben einen großen Sieg für Albenmark errungen!«
»Einen großen Sieg?« Der Kobold sah zu ihm auf. »Ich würde sagen, wir haben Schwein gehabt, dass sie abgehauen sind.«
Verdammter Miesmacher! »Im Krieg gibt es eine ganz einfache Regel. Der Sieger ist immer der, der noch auf dem Schlachtfeld steht, wenn das Kämpfen vorüber ist. Und das sind ja wohl wir!«
»Und die da hinten?« Rafa musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um gerade eben über die Brüstung des Schlittens sehen zu können. Er fuchtelte mit den Armen, deutete aber eher in den Himmel als auf die Ebene.
Hornbori, der Rafa um mehr als einen Kopf überragte, sah besser, was da vor sich ging. Der verdammte Kobold hatte recht. Die Menschenkinder flüchteten nicht durch den Albenstern. Stattdessen marschierten dort immer noch Krieger heraus. Sie bildeten zwei lange Kolonnen, die über die Ebene hinweg in Richtung der Schlitten marschierten.
Hornbori beobachtete sie mit wachsender Beunruhigung. Die Menschenkinder hatten keine Eile. Sie wussten, dass die Schlitten ihnen nicht mehr entkommen konnten. Gut geordnet, wie auf einem Exerzierplatz, zogen die Kolonnen in einem Abstand von etwa achtzig Schritt rechts und links an den Schlitten vorbei. Dann bogen die Spitzen der Marschkolonnen aufeinander ein.
»Sieger ist, wer das Schlachtfeld behauptet«, redete Hornbori gegen das mulmige Gefühl an, das ihn überkam. »Das da hinten zählt nicht. Gekämpft wurde hier bei den Schlitten. Das ist unser Schlachtfeld.«
»Sie sind in Reichweite der Koboldarmbrüste«, sagte der Geschützmeister des Schlittens. »Sollen wir sie nicht ein wenig beim Marschieren stören?«
»Die haben genug abbekommen«, entgegnete Hornbori entschieden. »Ihr seht doch, dass sie uns in weitem Bogen ausweichen, statt uns noch einmal anzugreifen. Ladet alle Waffen nach und damit lasst es gut sein.« Wie bescheuert musste man sein, einen weit überlegenen Feind, der sich gerade friedlich verhielt, durch Beschuss zu reizen!
»Die kreisen uns ein«, murmelte Rafa leise und spannte gewissenhaft seine Armbrust. »Gleich greifen die uns von allen Seiten an, und dann sind wir tot.«
Hornbori wollte ihn schon abkanzeln, musste sich aber eingestehen, dass nicht einmal er schönreden könnte, was gerade geschah. Die Marschkolonnen trafen sich, und auf ein Hornsignal vollführten alle Krieger eine Vierteldrehung. Erstaunlich diszipliniert, dachte Hornbori. Jetzt blickten sie alle zu den Schlitten. Es mussten mehr als dreitausend Menschenkinder sein, die sie da eingekreist hatten. Und alle hatten sie Bögen dabei. Intuitiv zog er den Kopf zwischen die Schultern. Das würde kein gutes Ende nehmen.
»Erschießt ihre Anführer!«, rief Hornbori. Ihnen einfach beim Aufmarsch zuzusehen war ein Fehler gewesen.
»Woran erkenne ich die Anführer?«, fragte der Geschützmeister mit einem Anflug von Panik in der Stimme.
»Federbüsche auf den Helmen, prächtige Rüstungen …« Hornbori war sich bewusst, dass das keine Hilfe war. Die Hälfte der Menschenkinder hatte sich Federn auf die Helme gesteckt. Jetzt hoben sie alle zugleich die Bögen, und im nächsten Augenblick erfüllte ein Sirren die Luft, als käme ein riesiger Heuschreckenschwarm auf sie zugeflogen.
Hornbori duckte sich hinter die Brüstung des Schlittens, griff nach seiner Armbrust und begann mit verzweifelter Wut die Kurbel zu drehen, mit der die Sehne gespannt wurde.
Mit einem Geräusch, als würde dichter Hagelschlag auf einen Bronzeschild hämmern, prasselten die ersten Pfeile gegen die Schutzwände und auf das Eis. Einige seiner Männer schrien auf, aber soweit er das sah, schienen sie noch ganz glimpflich davongekommen zu sein. Die erste Salve hatte sie keinen Toten und kaum Verwundete gekostet.
Hornbori legte einen Bolzen auf die Armbrust und erhob sich. Er nahm sich nicht die Zeit, irgendeinen bestimmten Menschensohn anzuvisieren, denn die Bogenschützen hoben bereits erneut die Waffen. »Los, schießt! Heizt ihnen ein!« Er zielte einfach auf den Wall aus Menschenleibern und zog den Abschusshebel durch. Dann duckte er sich rasch wieder hinter die Brüstung des Schlittens. Kaum einen Herzschlag später prasselten erneut Hunderte Pfeile auf sie nieder.
Hornbori hörte, wie aufseiten der Menschenkinder irgendwelche Befehle gerufen wurden, während er erneut seine Armbrust spannte. Er wusste, dass er und seine Männer nicht auf Verstärkungen hoffen durften. Die Lawine hatte den Pass blockiert, und der Weg, auf dem sie hierhergekommen waren, war viele Meilen lang. Es war um sie geschehen. Allenfalls die großen Adler könnten ihnen noch helfen.
In einem Anflug irrationaler Hoffnung blickte er zum Himmel auf und sah etwas auf sich zufliegen – ein Pfeil, der fast senkrecht aus dem weiten Blau auf ihn hinabstürzte! Im Reflex riss er seine unverwundbare Hand hoch, doch das Geschoss drängte sich zwischen kleinem Finger und Ringfinger hindurch und traf den Spalt zwischen der Wangenklappe seines Helms und seiner Schläfe.