Hornbori taumelte nach hinten, strauchelte über etwas, das am Boden des Schlittens lag, und schlug der Länge nach hin.
»Der Hauptmann!«, schrie Rafa auf. »Der Hauptmann, wir müssen ihm helfen.«
Hornbori fühlte sich leicht benommen, aber er schien nicht ernsthaft verwundet zu sein. Der Pfeil hatte nur leicht seine Haut geritzt. Immer noch hielt er die Hand vor das Gesicht.
»Siehst du nicht, dass sie dem durch den Kopf geschossen haben, du Wicht?«, rief der Geschützmeister. »Lad deine Armbrust nach und vergiss den Hauptmann. Der ist hin!«
Hornbori wollte sich aufsetzen und widersprechen, doch dann besann er sich eines Besseren. Dieser Pfeil war ein Geschenk der Alben! Er brauchte jetzt nichts weiter zu tun, als still liegen zu bleiben und abzuwarten, bis alles vorüber war. Es dauerte höchstens noch zwei Stunden bis zum Einbruch der Nacht. Dann könnte er sich in aller Ruhe davonstehlen.
Die Menschenkinder schienen ihre Strategie geändert zu haben. Statt die Schlitten direkt unter Beschuss zu nehmen, zielten sie mit den Bögen nun steil in den Himmel hinauf, sodass die Pfeile in spitzem Winkel aus dem Himmel stürzten. So verloren die Geschosse zwar einiges von ihrer Durchschlagskraft, auf der anderen Seite schützte nun aber die Brüstung des Wagens nicht mehr vor ihnen. Auch schossen jetzt nicht mehr alle Bogenschützen zugleich. Hatte es eben noch Salven mit kurzen Pausen gegeben, so prasselte nun ein ununterbrochener Geschosshagel auf sie nieder.
Hornbori machte sich Sorgen um seine Beine. Sein Oberkörper war durch ein erstklassiges Kettenhemd aus Silberstahl, das sogar bis zu den Oberschenkeln herabreichte, geschützt. Auf seinem Kopf saß ein guter Helm, und vor sein Gesicht hielt er seine unverwundbare Hand. Nur seine Beine steckten in einer groben Tuchhose, und das war es. Sollte er dort getroffen werden, könnte er nicht mehr davonschleichen.
Pfeile prasselten in den Schlitten. Als einer an seinem Knie entlangschrammte, hätte er beinahe aufgeschrien. Dann stürzte ihm etwas in den Schoß. Warme Flüssigkeit tropfte durch sein Kettenhemd. So leicht, wie es war, konnte es nur ein Kobold sein. Vorsichtig schob er den Toten ein wenig hinab. Er spürte, wie etwas in den Leib des kleinen Rebellen schlug. Das hast du dir verdient, dachte sich Hornbori, du verdammter Zwergenmeuchler. Auch wenn er sich freundlich gegeben hatte, gönnte er jedem dieser verdammten Eisbärte einen langsamen, qualvollen Tod.
Noch ein wenig. Hoffentlich sah niemand hin. Vorsichtig schob er den Leichnam Zoll um Zoll tiefer, bis der Dreckskerl von einem Kobold schließlich seine Beine abdeckte. Wenn du wüsstest, dass du im Tod einem Zwerg das Leben rettest, würdest du dich wahrscheinlich im Grab umdrehen, dachte Hornbori zufrieden. Dann lag er ganz still und lauschte.
»Nicht wegducken!«, rief sein Geschützmeister immer wieder. »Nehmt euch Zeit zu zielen, ihr verdammten Hurensöhne. Lasst die Menschenkinder bluten! Fasst euch ein Herz und macht unserem tapferen Hauptmann keine Schande! Steht euren Mann und sterbt, ohne zu jammern wie die Weiber.«
Noch jemand stürzte auf Hornbori, stöhnte trotz der Worte des Geschützmeisters zum Herzerweichen und blutete ihn ebenfalls voll. Er würde noch erfrieren, wenn die ihn alle nass machten, dachte er ärgerlich.
Dann verstummte der Geschützmeister abrupt. Zugleich spürte Hornbori, wie der zweite Kobold, der auf ihm lag, unter mehreren gleichzeitigen Treffern aufzuckte und dann ganz still liegen blieb.
Der Beschuss wurde spärlicher. Dann hörte er ganz auf.
Es war totenstill. Kein Stöhnen, kein Atmen, kein Geräusch war mehr zu hören.
Hornbori wagte es, die Hand zur Seite zu nehmen, mit der er sein Gesicht abgeschirmt hatte. Vorsichtig öffnete er die Augen einen Spalt weit. Jede Handbreit im Inneren des Schlittens war mit Pfeilen gespickt. Es mussten Hunderte sein. Die Toten lagen kreuz und quer übereinander, mit offenen Mündern und Augen, in denen das Entsetzen gefroren war.
Vorsichtig lugte Hornbori über den Rand der Brüstung. Die Katzenkerle lösten sich aus den Reihen der Bogenschützen. Es waren nur noch fünf. Sie kamen von Süden aus auf die Schlitten zu. Ganz gewiss würden sie jedem, den sie noch lebend vorfanden, die Kehle durchschneiden. Die sahen nicht aus, als würden sie sich darum scheren, dass er ein äußerst kostbarer Gefangener sein könnte.
»Du lebst!«, zischte eine leise Stimme hinter ihm.
Hornbori drehte sich um. Da stand Rafa. Ein Pfeil durch die Brust hatte ihn auf die Innenseite der Brüstung genagelt. Seine Schaffellweste war von Blut getränkt, aber seine Augen funkelten noch äußerst lebendig.
»Du … du Feigling. Sie sind für dich gestorben.«
»Ich habe sie nicht darum gebeten«, entgegnete Hornbori ärgerlich und sah nach der Drachenstandarte. Der Seidenschlauch war von Pfeilen zerfetzt und hing schlaff im Wind herab.
»Du …«, geiferte Rafa, obwohl ihm kaum Luft zum Atmen blieb. »Du hast dich die ganze Zeit tot gestellt, verdammter Feigling. Ich melde dich bei Solaiyn. Der wird dich Spießruten laufen lassen, bis dir das Fleisch in Fetzen vom Rücken hängt.«
Das mochte durchaus sein, dachte Hornbori erschrocken und sah sich Rafa näher an. So viel wie dieser giftige, kleine Wicht noch redete, schien seine Lunge nicht verletzt zu sein. Vielleicht würde er es überstehen … Und dann würde er ganz gewiss zu Solaiyn gehen. Rafa war eine Rotmütze, die ließen keine Gelegenheit aus, Zwergenblut zu vergießen. Er hob ein kurzes Schwert auf, das zwischen den Toten am Boden lag. »Komm, ich schneide dich los und bring dich in Sicherheit. Die Alben waren uns gnädig, wir müssen hier nicht sterben.«
»Glaubst du, dann würde ich über deine Feigheit schweigen?«, zischte Rafa. »Verrecken sollst du Hasenfuß, du verdammter Schisser …«
Schisser! Da war es wieder, dieses verfluchte Schimpfwort, das Hornbori Hunderte Male aus Galars Mund vernommen hatte. Er beugte sich vor und zog dem Kobold ohne zu zögern die Klinge über die Kehle. »Jetzt wirst du ganz sicher schweigen, Trottel.« Er hätte Rafa auch den Katzenkerlen überlassen können, aber es war besser, ganz sicher zu sein, dass er tot war.
Jetzt würde er sich den Bogenschützen ergeben. Die Katzenmänner hatten den ersten Schlitten fast erreicht. Hornbori riss die Standarte mit dem goldenen Drachenhaupt von der Rückseite des Schlittenbocks und sprang über die von den Katzenkerlen abgewandte Seite der Pritsche.
Wild die Standarte schwenkend, lief er den Bogenschützen entgegen. Hoffentlich hoben die Trottel nicht noch ein letztes Mal die Waffen. Er hielt immer noch das blutige Schwert in der Hand. In übertriebener Geste hob er es über den Kopf, um es von sich zu schleudern, sodass die Menschenkinder es gut sehen konnten. Wenn er die Waffe von sich warf, würden sie verstehen, dass er sich ergeben wollte.
Wenn die ersten Kämpfer sich aus der Schlachtlinie lösten, um die Drachenstandarte zu erbeuten, dann würden sie den Bogenschützen die Schusslinien blockieren. Wieder schwenkte Hornbori das schwere Feldzeichen. »Los, holt euch die Standarte!«, rief er aus Leibeskräften, als ihn ein mörderischer Schlag in die Schultern traf.
Der letzte Held
Solaiyn hatte ihn losgeschickt, damit er das Feldzeichen rettete. Die Menschenkinder sollten nicht in der letzten Stunde ihres verheerenden Feldzugs ein Zeichen des Sieges in die Finger bekommen. Nodon hielt nicht viel von diesem selbstmörderischen Auftrag. Unten auf der Ebene wimmelte es nur so von Bogenschützen. Wenn sie ihn bemerkten, dann würde er niemals lebend entkommen.
Sein Adler müsste im Sturzflug dicht am Schlitten vorbeisausen, damit er Gelegenheit bekam, die Standarte an sich zu reißen. Wenn er das Feldzeichen nicht beim ersten Versuch zu packen bekam, würde er gewiss in ein mörderisches Kreuzfeuer geraten, wenn er sich ein zweites Mal in die Nähe des Schlittens wagte.
Noch schwebte der Adler in großer Höhe. Es galt, den richtigen Augenblick abzupassen. Nodon hasste es, für eine Standarte, die den Goldenen zeigte, sein Leben wagen zu müssen. Für ein vergoldetes Stück Blech.