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Was war das? Auf der Pritsche regte sich etwas. Unter den Toten erhob sich ein Zwerg.

»Tiefer!«, rief er dem Adler zu. Sollte dort unten tatsächlich noch jemand leben! Nie zuvor hatte Nodon gesehen, wie eine so kleine Fläche so wütend beschossen worden war. Unzählige Pfeile ragten aus dem Schnee. Dicht wie Grashalme steckten sie beieinander. Eigentlich konnte dort nichts überlebt haben.

Es war dieser unsympathische Zwerg mit dem geölten, schwarzen Bart, den Solaiyn in sein Zelt befohlen hatte. Der Anführer der Nachschubkolonne. Nodon hatte ihn für einen Maulhelden gehalten. Doch jetzt beugte sich der Zwerg über einen tödlich verwundeten Kobold und erlöste ihn beherzt von seinen Qualen. Und dann packte er die Standarte und stürmte todesmutig den Feinden entgegen.

»Schnapp ihn und trag ihn davon!«, befahl er dem Adler, der die Flügel anwinkelte und in halsbrecherischem Tempo der Ebene entgegenstürzte.

»Los, holt euch die Standarte!«, brüllte der Zwerg aus Leibeskräften und rannte weiter auf die Menschenkinder zu.

So viel Tapferkeit hätte er diesem Hornbori niemals zugetraut.

Die Fänge des Adlers schlugen in die Schultern des Zwerges. Es war, als würde der mächtige Raubvogel aus dem Sturzflug heraus ein Kaninchen fangen. Mit kräftigen Flügelschlägen jagte er dicht über der Ebene dahin und versuchte, wieder an Höhe zu gewinnen.

Nodon rief ein Wort der Macht, das die Luft hinter ihnen verwirbelte, sodass die Pfeile vom Wind abgetrieben wurden. Der Zwerg hing still in den Fängen des Adlers. Hoffentlich hatte ihn nicht zuletzt noch ein verirrtes Geschoss getroffen. Und hoffentlich ließ er nicht diese verdammte Standarte fallen.

Sie flogen dem Felsgrat über dem Pass entgegen, wo Solaiyn sie erwartete. Als der Adler Hornbori vor die Füße des Elfenfürsten stürzen ließ und dann landete, wirkte Solaiyn leicht verwirrt.

Nodon schwang sich vom Rücken des Raubvogels und trat vor seinen Feldherren. Er sah dem Fürsten prüfend in die Augen. Solaiyn schien nicht mehr länger vom Goldenen besessen zu sein.

»Was soll das? Warum muss ich diesen Kerl wiedersehen? Die Standarte zu holen hätte genügt. Er ist dir wohl vor Angst ohnmächtig geworden.«

»Er ist ein Held!«, widersprach Nodon entschieden und erzählte, was er gesehen hatte. »Ich glaube, der wuchtige Schlag der Adlerfänge hat ihm die Besinnung geraubt. So todesverachtend, wie er den Bogenschützen entgegenstürmte, ist er ganz gewiss niemand, der vor Angst ohnmächtig wird. Sieh ihn an, wie er über und über mit dem Blut seiner Feinde bedeckt ist. Er muss wie ein Berserker gekämpft haben.«

Der Elfenfürst beugte sich über Hornbori. Die Augenlider des Zwergs flatterten, als er ihm die Standarte aus den Händen nahm. »Du bist also ein Held … Gut. Wir können einen Helden gebrauchen, nachdem uns in der letzten Stunde des Feldzugs ein paar Menschenkinder zu viel entwischt sind.« Der Fürst sah hinab auf die Eisebene, die rot im Licht der verglühenden Abendsonne erstrahlte. Die Menschenkinder hatten begonnen, sich durch den Albenstern zurückzuziehen.

»Morgen werden auch wir auf diesem Weg nach Albenmark heimkehren«, sagte Solaiyn entschieden. »Endlich! Es wird gut sein, wenn wir dann aus diesem wenig rühmlichen Feldzug einen Helden vorzeigen können.«

Nodon nickte. Seine Gedanken schweiften ab.

»Wohin wirst du gehen?«, fragte ihn der Feldherr in aufgeräumter Stimmung. »Zurück in den Jadegarten? Ailyn hat mir erzählt, dass es dort eine Elfe gibt, die dir wohl einiges bedeutet. Nanga… Namba …« Er schüttelte den Kopf. »Mein Gedächtnis. Ich fürchte, ich habe Aloki ein paarmal zu oft mit ihrer Nadel in meinem Hirn herumstochern lassen. Ich freue mich jedenfalls, zu meinen Statuen und meinen Büchern zurückzukehren. Wir werden nur noch die Siegesfeier überstehen müssen. Trotz dieser kleinen Schlappe zum Schluss war der Feldzug in seiner Gesamtheit ein Triumph für Albenmark.«

Nodon hörte ihm nur noch mit einem Ohr zu. Es gab im Jadegarten eine Elfe, die ihm etwas bedeutete? Warum erinnerte er sich nicht mehr daran? »Nanga…, Namba…« wiederholte er leise, was Solaiyn gesagt hatte und hoffte, seine Zunge würde sich besser erinnern als sein Kopf. »Nada… Nanda …Nandalee!«

Wie ein Blitz traf ihn die Erinnerung. Nandalee! Wie hatte er sie vergessen können? Wie mochte es ihr gehen? Sie müsste längst ihre Kinder geboren haben. Hoffentlich hatte Nachtatem die Säuglinge nicht ermordet.

Jetzt erinnerte sich Nodon auch, wie unwillig er hierhergekommen war. Dass der Erstgeschlüpfte ihn auf diesen Feldzug verbannt hatte, mochte auch daran gelegen haben, dass es keine Zeugen bei der Geburt geben sollte. Er musste zurück! Auch wenn es zu spät war, um die Ränke Nachtatems noch zu durchkreuzen.

Geschlüpft

Kolja hatte alle Überlebenden um sich versammelt. Er wusste, dass dies heute der Tag des Wandels werden würde. Aber er wusste nicht, wann genau es geschehen würde. Die Arme eng um den Leib geschlungen, standen sie vor ihm, ein verfrorenes Häuflein, das alle Hoffnungen aufgegeben hatte.

»Erfahren wir jetzt endlich, was du von uns willst?«, fragte Nabor in vorwurfsvollem Ton.

Sein Verhältnis zum Lotsen war in den letzten Tagen immer angespannter geworden. Kolja wusste, dass Wind vor regenschwerem Horizont seit Tagen nicht mehr zu Nabor gesprochen hatte. Auch für ihn war es immer schwieriger geworden, zu dem Wolkensammler Verbindung aufzunehmen. Die riesige Kreatur schien verwirrt. Die unterschiedlichsten Gedanken und Empfindungen überlagerten sich. Ein Gespräch gab es nicht mehr. Allerdings hatte Kolja ganz deutlich die Angst des Himmelsgiganten gespürt. Er veränderte sich, so wie Kolja sich veränderte.

Der Drusnier strich über seinen verstümmelten Arm. Er hatte sich an den ziehenden Schmerz gewöhnt, der keinen Herzschlag lang aussetzte.

»Die Göttin wünscht, dass wir hier stehen und Zeugen eines ihrer Wunder werden.« Kolja sagte das in so ärgerlichem Tonfall, dass jedem klar sein musste, dass er Widerspruch bestrafen würde, indem er Zweifler in den nahen Krater stürzte.

Eine Zeit lang herrschte betretenes Schweigen, und nur das leise Säuseln des Windes in der zerfetzten Takelage war zu vernehmen. Kolja hatte die Männer in den letzten Tagen eine große, hölzerne Plattform bauen lassen, nicht unähnlich einem Floß, nur dass sie mit einer massiven Reling versehen war. Anfangs hatte er einige der Wolkenschiffer mit Prügel dazu zwingen müssen, weil sie an Nabors Eissegler bauen wollten.

Kolja glaubte nicht an ein Schiff, das auf festem Grund dahingleiten sollte. Es war leichtfertig, seine Kräfte für solchen Unsinn zu vergeuden. In seinen Träumen hatte er immer wieder dieses Floß gesehen, und er war überzeugt, dass Wind vor regenschwerem Horizont und Nangog ihm diese Träume geschickt hatten. Er war ihr Werkzeug, und nachdem er zwei Schiffern die Zähne eingeschlagen hatte, hatten sich schließlich alle gefügt und die Arbeit an Nabors Eissegler abgebrochen. So war die große, hölzerne Plattform entstanden, die nun etwa hundert Schritt vom Krater entfernt auf dem Eis ruhte. Sie war mit Vorräten beladen, mit Brennholz und vor allem dem kostbaren Traumeis. In der Mitte, fest verankert, erhob sich ihr Unterschlupf aus den mit Segeltuch überspannten Landungskörben. Nicht einmal fünf Tage hatten sie benötigt, um seine Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Er hatte sie gnadenlos angetrieben, denn der Tag der Entscheidung war nahe.

Die Männer hatten ihn für die elende Schinderei verflucht, doch Kolja wusste auch ohne den Rat des Wolkensammlers, wie wichtig es war, eine Mannschaft beschäftigt zu halten und ihnen etwas zu geben, das sie alle miteinander verband. Und sei es der Hass auf ihn.

Ein lautstarkes Gurgeln ertönte tief im schlaffen Leib des Wolkensammlers. Ein Geräusch, wie es in Unruhe geratene Gedärme machten, nur um ein Vielfaches lauter. Dieses Gurgeln war schon seit Tagen immer wieder zu hören, und Kolja wusste, was bald folgen würde. Aufmerksam betrachtete er den Leib des Wolkensammlers, der in sich zusammengesunken von der gewaltigen Felszinne hing.