Plötzlich ertönte ein zischendes Geräusch, und gelblicher Dampf quoll in etwa sechzig Schritt Höhe aus dem Leib von Wind vor regenschwerem Horizont. Es dauerte nicht lange, und ein Gestank, schlimmer als in den Gassen eines Gerberviertels, trieb zu ihnen herüber.
»Du weißt, was das bedeutet«, sagte Nabor ernst. »Du kennst das, nicht wahr?«
Kolja hob fragend die Brauen, was den Ärger des Wolkenschiffers noch mehr anstachelte.
»Du bist doch auf Dutzenden Schlachtfeldern gewesen, Drusnier. Du musst das kennen!«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Leichen, die zwei oder drei Tage in der Sonne gelegen haben«, zischte Nabor, der ihm völlig zu Recht seine Unwissenheit nicht abnahm. »Ihre Leiber quellen auf, und schließlich beginnen sie zu furzen und zu rülpsen, schlimmer, als sie es als Lebende je vermocht haben.«
»Was willst du mir damit sagen?«, fragte Kolja unschuldig.
»Wind vor regenschwerem Horizont ist tot! Seit Tagen spüre ich ihn nicht mehr, wenn ich seine Fangarme berühre. Es ist kein Leben mehr in ihm. Sein Leib beginnt zu verfaulen, weil sich tief im Innersten noch ein wenig Hitze gehalten hat, so wie bei Misthaufen, die an kalten Herbsttagen dampfen.«
»Du weißt schon, dass er eine empfindsame Seele hat.« Kolja konnte es sich einfach nicht verkneifen, den alten Lotsen weiter zu necken. »Wenn Wind vor regenschwerem Horizont hört, dass du ihn mit einem Misthaufen vergleichst, wird ihn das sehr kränken.«
»Tote kränkt gar nichts mehr, Kolja!«
»Nangog wird heute ein Wunder wirken, alter Mann. Sieh dich vor! Deine Zweifel verärgern die Göttin. Sie will uns helfen, nach Hause zurückzukehren. Du könntest durch deine Worte alles verderben und unser Schicksal besiegeln.«
Nabor lachte auf. »Na wunderbar. Bist du jetzt unser neuer Priester? Mit dieser Rede hast du dich endgültig in alle Richtungen abgesichert. Passiert nichts, bin ich schuld. Geschieht doch ein Wunder, verdanken wir es vermutlich deinem Einwirken. Ich bin ein alter Mann, wie du sagst. Ich habe vieles gesehen, den Meerwanderer im Delta des Sepang, die geflügelten Weiber von Temil oder die verborgenen Städte von Tarkan Eisenzunge. Aber ein Wunder ist mir nie begegnet.«
»Dann reiß jetzt einmal deine Augen auf, Alter.« Kolja öffnete die Verschnürung der Wollstulpe, die er über seinem Stumpf trug, seit die Prothese nicht mehr passen wollte. »Die meisten von euch haben wahrscheinlich die Geschichte schon gehört, wie ich an der Seite der Unsterblichen Aaron und Volodi meinen Arm im Kampf gegen die Grünen Geister verloren habe. Damals war ich verblendet, doch jetzt hat Nangog mir die Augen für die Wahrheit geöffnet. Und sie hat mich belohnt, weil ich, ihr Feind von einst, nun zu ihrem treuen Diener geworden bin.« Mit diesen Worten zog er die Stulpe vom Arm und hob den Stumpf hoch, sodass ihn alle deutlich sehen konnten. Er war über das Handgelenk nachgewachsen. Weiße Knochen ragten aus Sehnen und Muskelfleisch. Es waren die kleinen Knochen der mittleren Hand, die begonnen hatten, sich neu zu formen.
Kolja trat dicht vor die Männer und zeigte ihnen den Arm. »Seht das Wunder der Göttin. Und seht auch in mein Gesicht. Seht, wie sie die wulstigen Narben verschwinden lässt und meine Haut sich glättet und wieder jugendlich aussieht … Wir sind nicht verloren. Ihr Blick ruht auf uns. Wir sind ihre Auserwählten. Jene, die alle Mühsal auf sich nahmen, um ihre gefrorenen Träume in die Welt zu tragen.«
Seine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Ungläubig tasteten seine Männer über den Armstumpf und über sein Gesicht. Dann kniete der Erste nieder und bat in inbrünstigem Gebet Nangog um Verzeihung für seine Zweifel. Selbst Nabor, der eher erschrocken als demütig wirkte, murmelte. »Ich muss gestehen, dies ist ein Wunder.«
Ein reißendes Geräusch ließ Kolja aufblicken. Weit oben an dem schlaffen Sack aus gefrorener Haut und Tentakeln drang weiter gelber Nebel aus dem Inneren der Kreatur. Die Haut wölbte sich, als bewegte sich etwas darunter. Plötzlich drang ein Fangarm hervor. Er war von weißem Schleim überzogen, der in langen Fäden herabtropfte, und endete in einer Kralle groß wie ein Mann.
Weitere Tentakel schoben sich aus dem Inneren und weiteten den Riss in der erfrorenen Haut. Nun drängte etwas Größeres aus dem Inneren des Hautsacks. Immer mehr Fangarme quollen hervor. Mehr als zwanzig Schritt war der Riss nun schon lang, gesäumt von diesem sich windenden Grauen, dessen Haken an den Enden der Arme sich gegen das eigene Fleisch richteten. Ein neuer Körper mit neuen Fangarmen war in dem schlaffen Hautsack herangewachsen. Einige der Tentakel griffen auch nach oben, umschlangen den Felspfeiler, während eine unförmige Masse aus dem Kokon aus toter Haut schlüpfte.
Bahnen aus Schleim troffen entlang der gesplitterten Masten und zerrissenen Taue ihres gestrandeten Wolkenschiffs. Dichte Wolken aus stinkendem, gelbem Nebel wogten zum Eis hinab.
»Zum Floß!«, rief Kolja, gefangen zwischen Staunen und Entsetzen. Er musste die Männer packen und mit sich zerren. Sie alle, selbst der alte Lotse, waren wie erstarrt von der Ungeheuerlichkeit, die sich vor ihren Augen abspielte.
Der unförmige Klumpen begann sich zu entfalten. Streckte riesige, fleischige Schwingen, die Kolja an einen großen Rochen erinnerten, den er einmal in der aegilischen See gesehen hatte. Er erinnerte sich daran, was Wind vor regenschwerem Horizont ihm gesagt hatte und was ihm damals so seltsam und unverständlich erschienen war. Dass er vom Fliegen träumte, obwohl er doch so viele Jahrzehnte schon über den Himmel Nangogs geglitten war.
»Los, los! Beeilt euch! Wer nicht auf unserem Floß ist, der wird zurückbleiben. Für immer gestrandet im ewigen Eis.« Diese Worte brachen endlich den Bann. Bewegung kam in seine Wolkenschiffer.
»Prüft, ob alles gut festgezurrt ist«, rief plötzlich Nabor. »Ich glaube, unser Aufbruch wird rauer werden als der Aufbruch eines Wolkensammlers, der von einem Ankerturm ablegt.«
So versammelten sie sich alle auf ihrem Floß, um von dort der Geburt der Kreatur zuzusehen, zu der sich Wind vor regenschwerem Horizont entwickelt hatte. Der Tag ging in die Dämmerung über, als der Wolkensammler sich von der Felsnadel löste und schwebte. Seine Schwingen waren mehr als zwei Schritt dick. Auch in ihnen schienen große Blasen mit warmer Luft oder Gas eingelagert zu sein, die Wind vor regenschwerem Horizont schon in seiner alten Gestalt Auftrieb gegeben hatten. Sein Leib hatte die Form eines lang gezogenen Dreiecks, aus dem ein dicker, vielleicht vierzig Schritt langer Schwanz wuchs, an dessen Ende eine dreieckige Finne, groß wie ein Turm, aufragte.
Von Flügelspitze zu Flügelspitze maß die Kreatur mehr als hundert Schritt, wobei der Leib ohne den Schwanz etwas weniger als halb so lang war. Von der Mitte der Unterseite hingen die Tentakel, mit denen Wind vor regenschwerem Horizont sich aus seinem Kokon herausgeschnitten hatte. Es waren viel weniger, als ein Wolkensammler besaß, aber sie waren nicht minder kräftig oder lang. Viele der Fangarme endeten in Haken oder Dornen, die aussahen, als wären sie aus Knochen.
Kolja konnte keine Augen bei dem veränderten Wolkensammler entdecken. Die Unterseite von Wind vor regenschwerem Horizont war von einem fahlen Weiß mit leichtem Gelbstich.
»Bei den Göttern«, sagte Nabor, »das wird …« Ihm ging offensichtlich auf, was er für einen Fehler gemacht hatte, jedenfalls fuhr seine Rechte erschrocken zum Mund, fast als hoffte er, er könne die ausgesprochenen Worte wieder in seinen Schlund zurückschieben. »Bei der Göttin, meine ich natürlich«, erklärte er hastig. »Bei der Göttin! Das wird alles verändern. Nun treiben diese Kreaturen nicht länger mit dem Wind. Sie können selbst bestimmen, wohin sie fliegen.«