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Doch zunächst erprobte Wind vor regenschwerem Horizont seine Schwingen nicht. Er ließ sich mit dem Wind treiben. Nur sein mächtiger Schwanz peitschte unruhig, als erprobte er, welchen Nutzen er bringen könne.

Langsam glitt er über den roten Abendhimmel davon nach Westen. Er war schon fast eine Meile entfernt, als er die riesigen Schwingen auf und nieder bewegte. Dann drehte er nach Süden ab und flog davon. Ohne sie!

Der Sündenbock

»Das warst du!«, brach es aus Kolja heraus. »Du hast ihn beleidigt! Als du unsere alten Götter angerufen hast!«

»Aber …« Nabor hob abwehrend die Hände. »Nein, ich …«

»Du bist schuld, dass er uns verlassen hat. Du warst von Anfang an ohne Glauben.« Kolja war sich bei all diesen Vorwürfen keineswegs sicher, aber er brauchte einen Sündenbock. Noch waren die überlebenden Wolkenschiffer wie gelähmt vor Entsetzen, aber das würde nicht lange anhalten, und dann brauchten sie jemanden, an dem sie ihre Wut auslassen konnten. Und Kolja war entschlossen, dass nicht er ihr Opfer werden würde. Er könnte sich zwar wehren, aber er müsste vermutlich ein paar von ihnen umbringen, und jetzt, gestrandet im Eis, würde er jeden Mann brauchen. Vielleicht müssten sie ja doch noch diesen verdammten Eissegler bauen.

»Wind vor regenschwerem Horizont ist nicht so«, beteuerte Nabor. »Er ist nicht so empfindlich. Er hätte gewusst, dass ich mich versprochen habe. Dass ich es nicht so meinte …«

»Was erinnert an diesem Geschöpf noch an Wind vor regenschwerem Horizont?«, fragte Kolja mit schneidender Stimme. »Alles hat sich verändert! Er ist ein Geschöpf Nangogs! Und du sprichst in der Stunde seiner Geburt von unseren Göttern, du einfältiger Tropf.«

»Es war ein Versprecher. Ich habe es nicht gewollt …«, beteuerte Nabor händeringend.

»Ich glaube dir nicht!« Kolja wandte sich an die Wolkenschiffer. »Wer hat dagegengesprochen, hierherzukommen? Wer hat mit seinem Affen einen der Geister an Bord geholt? Wer hat immer wieder gesagt, Wind vor regenschwerem Horizont sei tot? Nabor! Tief im Herzen hat er den alten Göttern niemals abgeschworen, und deshalb tut er alles dafür, dass unsere Mission scheitert.« Kolja las in den grimmigen Gesichtern der Wolkenschiffer, dass er sie überzeugt hatte.

»Er ist es«, zischte ein Segelmacher mit erfrorener Nase. »Er ist unser Unglück.«

»Nein, Korba! Wir kennen uns so lange!«, wandte sich Nabor verzweifelt an den Mann. »Nein! Du weißt, dass ich so nicht bin. Es stimmt nicht, was Kolja sagt.«

»Ich habe ein paarmal gesehen, wie er das Zeichen des schützenden Horns geschlagen hat«, erklärte nun Marco, der Staumeister, ein bulliger Kerl mit dichtem schwarzen Bart und buschigen, ein wenig herabhängenden Augenbrauen, die ihn stets melancholisch aussehen ließen. »Dieses Zeichen beleidigt die Große Mutter. Ich habe ihn auch nie inbrünstig zu ihr beten sehen.«

Es lief genau so, wie Kolja es erwartet hatte. Er hatte in seinem Leben schon mehr als einen Sündenbock erschaffen. »Wir müssen die Große Mutter mit uns versöhnen«, erklärte er ernst. »Wir können einen wie Nabor nicht länger in unserer Mitte dulden.«

Der Lotse sah ihn mit angstweiten Augen an. »Nein! Das könnt ihr nicht machen! Ihr dürft mich nicht einfach aussetzen! Ich bin euer Lotse. Ohne mich seid ihr verloren!«

»Der Lotse von was?«, schrie Korba aufgebracht und deutete auf den leeren Hautsack und das zerschellte Schiff. »Das ist dein Werk, Nabor. Du hast uns alle umgebracht durch deinen Unglauben, und jetzt erwartest du Gnade?«

»Packt ihn!«, befahl Kolja.

Nabor leistete kaum Widerstand. Er hatte ihn zerbrochen. Kolja konnte es in den Augen des alten Mannes sehen. Von denen verleumdet zu werden, die er sein halbes Leben lang durch die Himmel Nangogs geführt hatte, war mehr, als er verkraftete.

Marco und Korba ergriffen ihn bei den Armen. »Was sollen wir mit ihm tun?«, fragte Marco.

Kolja wandte sich um und ging zum Krater. »Folgt mir!«

Nur das Knirschen ihrer Schritte im Schnee begleitete sie. Selbst der Wind war verstummt. Es herrschte beklemmende Stille, als sie im letzten Abendrot an den gewaltigen Schlund traten, der bis zum Herzen der Welt hinabführte. Dorthin, wo Nangog fast seit dem Anbeginn der Zeit schlief.

»Bringen wir der Göttin ein Opfer. Schenken wir ihr den Zweifler, auf dass sie ihn läutern möge.«

»Das kannst du nicht tun«, begehrte Nabor verzweifelt auf und sah Kolja flehend an. »Du weißt, dass all diese Vorwürfe nicht stimmen. Ich habe mich nie gegen die Göttin gestellt. Ich liebe sie. Ich bewundere ihre Schöpfung seit dem ersten Tag, an dem ich ihre Welt betreten habe.«

»Wenn das so ist, dann hast du ja nichts zu befürchten.« Er wandte sich an Marco und Korba. »Packt ihn bei Armen und Beinen und schmeißt ihn mit Schwung in die Tiefe. Er hat es in seinem Leben geliebt zu fliegen. Er soll nicht auf einen Felsvorsprung aufschlagen. Er soll einen letzten, langen Flug haben.«

»Ihr irrt euch!«, beteuerte Nabor. Jetzt hatte seine Stimme wieder einen weinerlichen Ton. »Ihr werdet mich brauchen. Ich bin euer Lotse. Ohne mich werdet ihr niemals den Weg zurück finden.«

»Uns führt die Große Göttin!« Der Drusnier sah sich um. »Gibt es hier einen, der für Nabor sprechen möchte? Nur einen? Wenn einer für ihn bürgt, dann soll er diese Nacht überleben und morgen ein Gottesurteil überstehen.« Er sah alle Wolkenschiffer der Reihe nach an. Warum war ihm das nicht früher eingefallen? Vielleicht würden sie den Lotsen wirklich noch brauchen? »Und? Spricht keiner für ihn?«

»Wozu?«, schnarrte Marco, und seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen, bis sie fast eine durchgehende Linie bildeten. »Wir sind uns einig. Er ist ein Verräter an unserer Sache!«

Kolja war sich bewusst, dass es kein Zurück mehr gab. »Dann hinab mit ihm!«

Marco bückte sich und packte die Beine des alten Lotsen, der Korba, ohne weiteren Widerstand zu leisten, die Arme hinstreckte.

»Ich bete für euch«, sagte Nabor, und seine Stimme zitterte vor Angst, auch wenn er sich bemühte tapfer zu sein. »Möge die Göttin euch verzeihen und sicher nach Hause führen.«

Marco und Korba hoben den Lotsen hoch und begannen, ihn mit weit ausholenden Bewegungen hin und her zu schwingen.

»Jetzt!«, befahl Kolja.

In weitem Bogen flog der Lotse in den Krater. Er breitete die Arme aus, als wollte er sie aus der Tiefe hinaus umarmen. »Ich bete für euch!«, schrie er mit sich überschlagender Stimme. Dann verschwand er in der Finsternis des bodenlosen Abgrunds. »Ich bete für euch!«, erklang es nun schon aus weiter Ferne. Ein drittes Mal hörten sie ihn noch rufen. Dann senkte sich Stille über die Gruppe.

Kolja sah den beklommenen Gesichtern der Wolkenschiffer an, dass der Abgang des Lotsen Eindruck auf sie gemacht hatte. »Möge Nangog ihm gnädig sein!«, sagte er mit fester Stimme. »Gehen wir zurück zum Floß! Morgen früh entscheiden wir, was wir als Nächstes tun.«

Verwundert sah der Drusnier, wie Marco seine dicke Wollmütze abnahm und verlegen zwischen den Händen drehte. Die Lippen des Staumeisters bewegten sich lautlos, als betete er stumm. Ausgerechnet er, der mitgeholfen hatte.

Kolja blickte ein letztes Mal in den Abgrund, dann wandte er sich ab. Die anderen Männer folgten ihm wie Gänse, die ihrem Ganter nachlaufen. Ihm war bewusst, dass die Stimmung morgen gegen ihn schlagen konnte, wenn er nicht mit einem guten Plan aufwartete. Er seufzte. Kurz bevor sie das Floß erreichten, zog am südlichen Horizont eine Wolke auf, die das Licht der Sterne verdunkelte und bald den kleineren der beiden Zwillingsmonde verdeckte. Sie bewegte sich in ihre Richtung, obwohl kein Wind wehte. Bald gewann sie an Konturen.

Wind vor regenschwerem Horizont war zurückgekehrt.

»Die Große Göttin hat unser Opfer angenommen!«, rief Kolja und deutete zum Himmel. »Er kommt zurück, um uns zu retten.«