Ein unwillkommener Rat
Vorsichtig bettete Ormu die Heilerin auf sein Lager. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, sie die letzten Schritte zu tragen, so wie er sie im ersten Morgengrauen vom Pass hinabgetragen hatte. Kirum erschien ihm selbst jetzt, wo er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, so leicht wie eine Feder.
»Bringt mir warmes Wasser!«, befahl er den beiden Kameraden, die er ins Vertrauen gezogen hatte. Sie war in Decken gehüllt in den Palast gebracht worden. Niemand hatte ihr Gesicht gesehen. Niemand wusste, dass die Frau, nach der der Unsterbliche Aaron sich so verzehrte, in dieser Nacht unter seinem Dach schlief. Von Ormus Quartier bis zum Schlafgemach des Unsterblichen waren es weniger als fünfzig Schritt.
»Beeilt euch!« Ormu zog sein Messer und setzte es dicht unterhalb der Kehle Kirums an. Er trennte die Naht des schäbigen Kleides auf. Überall darunter krochen Läuse wie bei den meisten, die den Schreckensmarsch überlebt hatten.
Er schnitt ihr die Lumpen vom Leib und schleuderte sie zur Seite. Ihre Haut war überall zerstochen und an etlichen Stellen rot entzündet. »Bei lebendigem Leib gefressen haben sie dich«, murmelte er und vertrieb die blutgierigen Plagegeister so gut er es konnte.
Er hatte Kirum auf der Südseite des Passes gefunden, als er nach einem seiner Krieger gesucht hatte. Sie hatte auf einer Geröllhalde gelegen, das Haar steif von gefrorenem Blut. Sie war niedergeschlagen und ihres Mantels beraubt worden. Der Frost hatte ihr schon arg zugesetzt gehabt. Sie war mehr tot als lebendig gewesen, als er sie in seinen Umhang hüllte und auf die Ebene hinabtrug. Als er in den Kampf musste, hatte er sie bei den wenigen Nachzüglern zurückgelassen, die sich unweit des Weltentors versammelt hatten.
»Du musst dich selber ausruhen, Ormu.« Sein Freund Yazde blickte vorwurfsvoll auf ihn herab. Er war wie Ormu hager und ausgezehrt. Gezeichnet vom ewigen Winter, dem sie so knapp entkommen waren. Auch er stammte aus den Bergen Garagums.
Ihn um sich zu haben war, wie ein Stück Heimat bei sich zu behalten. Schon sein Akzent, die Art, wie er die Worte setzte. Ormu musste lächeln. Dass Worte Heimat sein könnten, hatte er niemals erwartet, als er seine Berge verlassen hatte, um dem Unsterblichen Aaron zu folgen.
Traurig blickte er wieder auf die ohnmächtige Kirum. Vorsichtig tupfte er mit in warmes Wasser getauchten Lumpen den Schmutz von ihrem Leib. Sie war keine Schönheit. So hager wie alle, die den Marsch durch das Eis überlebt hatten, mit kleinen Brüsten und vielen Narben.
»Sie sieht aus wie ein Krieger«, sagte Yazde überrascht. »All diese Narben. Sie muss ein schweres Leben gehabt haben. Sieh nur die Narbe unter dem Schlüsselbein. Sie hat eine richtige Mulde in ihr Fleisch gestanzt.«
Ormu hatte so etwas schon einmal gesehen. Solche Narben hinterließen Dornäxte, wenn sich ihre Spitze tief in einen Leib bohrte. Nur wenige überlebten solche Wunden. »Sie ist eine Frau voller Geheimnisse«, sagte er mit vor Erschöpfung schwerer Stimme. Er konnte verstehen, dass Aaron sich in sie verliebt hatte. Sie war ganz anders als die jungen Edeldamen, die die Provinzfürsten immer wieder in den Palast von Akšu schickten, in der Hoffnung, der Unsterbliche würde unter ihnen die Eine entdecken.
»Hol mir ein paar Ziegenschläuche mit warmem Wasser«, bat er Yazde. Er wollte nicht, dass sein Freund noch länger ihre Nacktheit sah.
Vom großen Hof hörte Ormu Flötenspiel und Zimbelklang. Aaron hatte ein Fest für die Überlebenden befohlen. Doch niemand sang grölend Trinklieder. Nicht einmal Lachen erklang.
Der Hauptmann wusch Kirum so gut er es vermochte. Dann massierte er ihre geröteten Finger. Ihre Nägel waren von dunklem Blau, ebenso ihre Lippen. »Du wirst jetzt nicht sterben«, zischte er ärgerlich. »Nicht jetzt, wo du endlich in Sicherheit bist, Trösterin.«
Er wünschte, er könnte Aaron holen. Nichts würde seinem Herrscher so guttun, als wieder mit Kirum vereint zu sein. Aber er hatte ihr sein Wort gegeben, als sie gekommen war, um den Unsterblichen in der Höhle beim Pass zu retten.
Als er Schritte hörte, deckte er die Heilerin zu. Yazde brachte drei Schläuche mit warmem Wasser. Ormu schob sie unter die Decke. »Eine Nacht in einem guten Bett und morgen eine dicke Hühnerbrühe«, sagte er leise. »Das wird dich wieder auf die Beine bringen!«
»Jetzt erteilst du sogar Schlafenden Befehle«, scherzte Yazde.
Ormu lächelte müde. »Hab mich wohl daran gewöhnt, Hauptmann zu sein.« Er war zu müde, um sich zu erheben. Sein Kopf sank auf das Bett, neben dem er immer noch auf dem Boden kauerte. Er spürte die Wärme eines der Wasserschläuche durch die dicke Wolldecke. Wenn er die Augen schloss, würde er binnen drei Herzschlägen einschlafen.
Als der Duft von frischem Hammelbraten vom Flur in sein Zimmer zog, lief ihm das Wasser im Munde zusammen. Er hatte noch keinen Happen gegessen, seit er in den Palast zurückgekehrt war.
Plötzlich flatterten die Lider der Heilerin. Ihre Lippen bewegten sich. Ormu musste sich vorbeugen, um die gehauchten Worte zu verstehen. »Nicht essen … werden sterben …«
Der Jäger verstand den Sinn dieser Botschaft nicht. Er legte ihr die Hand auf die Stirn. Sie war kühl. Kirum fieberte also nicht.
Ihre Hand tastete sich unter der Decke hervor und griff nach der seinen. »Sie dürfen nicht essen«, sagte sie nun lauter. »Nur etwas Brot und dünne Suppe.«
»Das kannst du den Männern nicht verweigern. Ein gutes, warmes Essen, das ist ihr größter Traum.«
»Es wird sie töten! Fettes, schweres Essen wird sie umbringen.«
Sie stieß jedes einzelne Wort mit aller ihr noch verbliebenen Leidenschaft hervor. Sie war die Trösterin. Sie hatte auf dem Rückzug alles für die Sterbenden gegeben. Würde sie die Überlebenden ihres wohlverdienten Festmahls berauben, wenn es nicht wirklich eine Gefahr gäbe? Nein!
»Ich verhindere es!« Als Ormu aufstand, taumelte er vor Schwäche.
Yazde eilte ihm zu Hilfe und stützte ihn. »Wirst du das wirklich tun?«, flüsterte sein Freund.
Er half Ormu hinaus auf den Gang und dann zum weiten Hof, der im Licht Hunderter Fackeln erstrahlte. Entlang der hohen Mauern waren dicke Teppiche ausgerollt und schwere Sitzkissen aufgestellt. Die Überlebenden saßen in sich zusammengesunken, an die Mauern gelehnt. Einige verfolgten mit glänzenden Augen die wirbelnden Tänzerinnen, die meisten aber waren einfach nur unendlich erschöpft. Viele waren eingeschlafen.
»Schön, dass auch du gekommen bist.« Ashot, der Feldherr des Unsterblichen, löste sich aus einer Gruppe von Palastwachen, bei denen auch Mataan, der Hofmeister, stand. Der ehemalige Krieger stützte sich schwer auf seinen Krückstock und nickte Ormu freundlich zu.
»Sie dürfen nicht vom Hammelfleisch essen«, stieß der Hauptmann der Kushiten hervor. »Lass es wegschaffen, Ashot!«
Der Feldherr runzelte die Stirn. »Warum?«
»Es wird sie töten!«
»Es ist allerbestes Fleisch, zubereitet von den Hofköchen. Es gibt keinen Grund …«
»Es wird sie töten!«, beharrte Ormu. »Die Trösterin hat mich gewarnt. Wenn dies kein Festmahl mit dünner Suppe und trockenem Brot wird, dann wirst du morgen viele Gräber ausheben lassen.«
Mataan kam zu ihnen herübergehinkt. »Du bist laut geworden, Ormu. Was ist das für eine Trösterin, von der du da sprichst?«
»Sie ist die eigentliche Heldin des Rückzugs. Sie hat sich um die Schwachen und die Sterbenden gekümmert. Alle, die lebend zurückkamen, kennen zumindest ihren Namen: die Trösterin. So heißt sie in allen Zungen.«
»Wo ist sie?«, fragte Mataan. »Wenn sie so beliebt ist, soll sie mit der schlechten Botschaft vor die Männer treten.«
»Nein«, warf Ashot ein. »Sie soll vor Aaron treten. Du weißt, wie er ist. Eine Heldin aus dem einfachen Volk. Er wird sie um sich haben wollen und ein Amt in diesem Palast für sie erschaffen. Er wird sie vor seinen Wagen spannen, so wie uns, damit sie ihm hilft, die Welt zu verbessern.«