Выбрать главу

Der Glanz des Winters war vom Ufer gewichen. Es erschien Ailyn wie eine Parabel auf das Leben. Unter dem festen, kristallenen Eis war grauer Granit zum Vorschein gekommen. Nichts konnte hier existieren. Nichts auf nacktem Fels leben. Das Eis war wie ein Zauber gewesen, der die Wirklichkeit verbarg. Es hatte Träume erlaubt, dass dieser Ort mit seinem wundersam rauchenden Fluss verwunschen und von großer Schönheit sein könnte, würde ihm nur die Gnade einer wärmeren Sonne zuteil. Eine Illusion, die das Feuer hinweggebrannt hatte.

Dort, wo das Eis geblieben war, hatte der schwarze Rauch des brennenden Öls seine Farbe zurückgelassen. Ihre überlebenden Krieger waren genauso schwarz. Ruß haftete ihnen auf den Kleidern, in den Haaren und auf den Gesichtern, in denen rot entzündete Augen leuchteten. So wie in der Esse und unter dem Schmiedehammer aus drei Stangen verschiedenartigen Erzes der beste Klingenstahl geschmiedet wurde, so hatten das unbarmherzige Hämmern der Katapulte und die Flammen der Ölkrüge ihre Krieger zu einer unvergleichlichen Klinge werden lassen, die nun in ihrer Hand lag, um den Menschenkindern das Geschenk des Todes zu bringen. Ihre Trolle, Zwerge und Kobolde hatten ihre alten Feindschaften vergessen. All ihre Kraft war gebündelt. Die Schwachen und Glücklosen hatte das Feuer geholt.

Obwohl sie es geschafft hatten, die Menschenkinder zu täuschen, sodass die meisten Geschosse ein gutes Stück hinter ihnen aufgeschlagen waren, hatte es doch immer wieder Treffer gegeben. Fast ein Drittel ihrer Männer war tot. Und noch im Tode hatten sie einen Armbrustbolzen durch den Kopf geschossen bekommen, damit sie sich nicht wieder erhoben, um ihre Körper Sklaven der Geister werden zu lassen, die diesen Ort heimsuchten.

Der Beschuss durch die Menschenkinder hatte wieder zugenommen, nachdem es in den letzten Stunden so ausgesehen hatte, als würden ihnen langsam die Feuerkrüge ausgehen.

Weit hinter dem Ufer erblühten zwei neue Flammenblumen, und die Trolle ergingen sich vor allen anderen in Gestöhne und wilden Schmerzensschreien. Ailyn wusste, dass die hünenhaften Krieger unter der Sonne litten. Sie waren von den Alben für die düstere Snaiwamark erschaffen worden. Im hellen Sonnenlicht wurden sie lethargisch und untätig. Und sie jammerten.

Nicht weit von ihr standen die zwei, die eigentlich mit Glamir in der Stadt der Menschenkinder hätten bleiben sollen. Die Ankunft des Sonnendrachen hatte sie derart erschreckt, dass sie nicht aufgehört hatten zu laufen, bis sie die Brücke erreichten. Was war in der Stadt geschehen? Warum kam der große Sonnendrache nicht hierher? Wartete er auf den nächsten Angriff der Menschenkinder, um auf der Brücke ein Massaker anzurichten? Aber das war gegen den Plan der Himmelsschlangen. Die Götterdrachen hatten kein gnädiges Ende für ihre Männer vorgesehen. Wenn sie daran dachte, was geschehen sollte, erfasste die Elfe kalte Wut. Sie war mit einem Trupp Lumpengesindel hierhergekommen, das sich in eine tapfere Heldenschar verwandelt hatte. Es war eine Schande, ihre Leben einfach fortzuwerfen! Sie hatten Besseres verdient, nachdem sie hier so lange mutig im Namen der Drachen ausgehalten hatten.

Weitere Feuersäulen stiegen entlang der Uferböschung auf, und brennendes Öl rann über den Granit hinab zum Fluss, wo es in kleinen Flammeninseln auf dem grauen Wasser davontrieb. Dichter, schwarzer Rauch tanzte vor dem Wind und brannte in den Augen.

Plötzlich wurde sich Ailyn einer unnatürlichen Stille bewusst. Das Jammergeschrei der Trolle war verstummt. Die grauen Krieger starrten zur Böschung hinauf, wo zwischen den Rauchschleiern ein zierliches, schneeweißes Pferd erschienen war. Nein, kein Pferd … Ailyn stockte der Atem. Ein Einhorn!

Sie kannte diese Geschöpfe nur aus Märchen, und noch nie war sie jemandem begegnet, der ein leibhaftiges Einhorn gesehen hätte. Es hieß, sie gehörten nicht zur Schöpfung der Alben, sondern es sei die Magie des Goldenen Netzes, die sie gebar. Sie verkörperten Unschuld und Schönheit, und sie erschienen nur dann, wenn sich jemand selbstlos aufopferte, ja manche Weise behaupteten sogar, es sei diese Tat, die ein Einhorn entstehen ließ. Ein selbstloses Opfer, wie es vielleicht einmal in einem Jahrhundert geschah. Es hätte also keinen Ort geben können, an dem ein Einhorn weniger verloren hatte als hier auf dem Schlachtfeld inmitten der Eiswüsten Nangogs.

Voller Anmut bewegte es sich durch den schwarzen Rauch, und inzwischen blickten all ihre Männer zur Böschung hinauf. Kein derber Scherz erklang. Niemand hob seine Waffe. Die Mörder und Barbaren unter ihrem Befehl waren ergriffen von der ätherischen Schönheit des Einhorns.

Der dumpfe Schlag der Katapultarme war zu hören, und nur Augenblicke später schossen rechts und links des Einhorns zwei Feuersäulen empor. Doch nicht ein einziger Flammenspritzer berührte das schimmernde, weiße Fell. Das Einhorn stieg auf die Hinterbeine, warf wild seinen Kopf zurück, sodass seine Mähne im Wind flatterte, und rief ihnen einen wiehernden Gruß entgegen. Dann wandte es sich ab und preschte in Richtung der Stadt davon.

Hatte es ihnen etwas sagen wollen? Ein fremdes Geräusch schreckte Ailyn aus ihren Gedanken, und die Magie dieses einzigartigen Augenblicks war schlagartig verflogen, als sie sich bewusst wurde, was sie da hörte. Das Knarren von Rudern! Die Elfe öffnete ihr Verborgenes Auge und sah, was der Nebel vor den Blicken ihrer Männer verbarg. Dutzende Schiffe kamen über den Fluss. Viel zu viele, um sie aufhalten zu können.

»An die Speerschleudern«, befahl sie ruhig. Dieser Kampf war nicht mehr zu gewinnen. Sie konnten nur noch entscheiden, als Helden oder als Feiglinge abzutreten. »Geschütze sechs bis zehn auf den Fluss ausrichten. Wir werden auch von dort angegriffen. Schießt nicht auf die Bootsrümpfe! Diese Kähne werden nicht sinken.«

Gefasst folgten die Zwerge ihrem Befehl.

»Groz! Schick deine zehn besten Männer auf die Brücke! Die anderen brauchen wir hier. Che, bring du deine Krieger auf die Uferböschung. Sucht euch selbstständig Ziele. Vermeidet, mit den Menschenkindern in Nahkämpfe zu geraten. Erschießt so viele ihr könnt.«

»Wir bringen dir hundert von ihren Köpfen als Morgengabe, meine Schöne!«, entgegnete der Kobold gutgelaunt und bedachte sie mit einem rußigen Lächeln.

Noch nie in ihrem Leben war sie in so kurzer Zeit so oft »meine Schöne« genannt worden, dachte Ailyn. Schade, dass sie nie einem Elfen begegnet war, der wenigstens ein bisschen wie Che gewesen wäre. Sie mochte den Halunken. Aber das würde für immer ihr Geheimnis bleiben.

»Ich sehe was!«, rief Nyr.

»Dann lass sie unseren Stahl schmecken.«

Die erste Welle

Zwei grellbunte Vogelköpfe schoben sich aus dem Nebel und bewegten sich genau auf ihren Abschnitt des Ufers zu.

»Was bei den Alben ist das?«, raunte Nyr.

»Bootsrümpfe.« Galar stand neben dem Geschütz und hielt schon den nächsten Speer bereit. Seine Hände waren feucht, obwohl es eiskalt war. Weitere bunt bemalte Köpfe schoben sich aus dem Nebel. Ein Fischreiherpaar, Echsen, zwei gelbe Hunde. Und jetzt sah Galar auch die Menschenkinder. Krieger mit fellbespannten Schilden drängten sich dicht an dicht auf den Gefechtsdecks, die zwischen den Doppelrümpfen lagen.

Nyr wartete gar nicht erst auf einen Schießbefehl. Er zog den Abzugshebel, und der Speer schnellte davon. Sofort begann Bailin an der Kurbel zu drehen, mit der der stählerne Bogen des Geschützes neu gespannt wurde.

Galar sah, wie der Speer einen der Fellschilde durchschlug. Schreie gellten über das Wasser. Die Menschenkinder standen so dicht gedrängt, dass der Verwundete nicht stürzte.

»Speer!«, ermahnte ihn Nyr, während Bailin noch immer spannte.

Galar legte das Geschoss auf die Führungsschiene und bückte sich, um einen weiteren Speer aus den langen Lederköchern zu ziehen, die neben dem Geschütz auf dem Felsboden lagen. Unmittelbar neben dem Fuß der Speerschleuder lag ein Ölkrug. Eines der Geschosse der Menschenkinder, das in eine Schneewehe gefallen und nicht zerschellt war. Ailyn hatte dafür gesorgt, dass jedes ihrer Geschütze in Brand gesteckt werden konnte, sobald sie den Befehl gab. Die Waffen sollten den Menschenkindern auf keinen Fall in die Hände fallen.