Lyvianne hingegen suchte das Kind, aus dem der vollkommene Elf erwachsen würde. Schön wie der Frühling, klug, von Magie durchdrungen, ohne jeden Makel, ganz gleich in welcher Hinsicht. Diese Suche hatte sie verblendet. Sie hatte einen Gonvalon geboren und nicht erkannt, wie wertvoll er war. Wenn die anderen Elfen durchschauten, was sie tat, dann würde es einen Aufschrei des Entsetzens geben. Und da Lyvianne eine Drachenelfe war, würde auch das Ansehen der Himmelsschlangen Schaden nehmen. Das durfte auf keinen Fall geschehen! Nicht jetzt, wo sie alle Kräfte Albenmarks bündeln mussten, um im Schicksalskampf gegen die Devanthar zu bestehen. Nur eine ihrer beiden Welten würde auf Dauer weiter bestehen können. Und er würde es nicht zulassen, dass Albenmark dem Verderben ausgeliefert wurde!
Er richtete sich auf, und sein Kopf streifte die niedrige Decke der Höhle, in die er sich zurückgezogen hatte. Vorsichtig schob er sich ins Freie. Ein klarer, blauer Himmel spannte sich über den weiten Berghang, auf dem sich die Truppen Albenmarks versammelt hatten. Seine Drachenbrüder und Tausende Albenkinder erwarteten ihn. Sie hatten sich unter Bannern in allen Regenbogenfarben versammelt. Da war der steigende weiße Pegasus auf weißem Grund, das Banner der Elfen aus dem Herzland, zwei schwarze, gekreuzte Armbrustbolzen der Eisbärte aus dem fernen Norden, der Bärenschädel auf blauem Grund, das Feldzeichen der Zwerge von Ishaven, oder die Standarten mit Pferdeschädeln und Rossschweifen der Kentauren aus dem Windland. Hunderte Feldzeichen blähten sich im leichten Wind, der über den Hang strich. Nie zuvor hatte Albenmark eine solche Armee gesehen. Sie war eine Macht, die fast jeden Feind zerschmettern konnte – und doch war sie so wie Ailyns kleine Streitmacht letztlich nur ein Köder.
Sie würden die Armee der Menschenkinder über die Brücke locken. Und dann, wenn sich die Menschen ihres Sieges ganz sicher waren, würden sie die Heere der Menschenkinder angreifen und vor sich hertreiben. Es ging nicht darum, sie zu vernichten. Nein, sie würden mit ihnen spielen, wie eine Katze mit der Maus spielte. Sie sollten in höchste Verzweiflung geraten und ihre Götter, die Devanthar, um Hilfe rufen. Wenn das geschah, dann würden er und seine Brüder nachholen, was in Selinunt nicht gelungen war. Sie würden die Devanthar in der Glut ihrer vereinigten Flammen vergehen lassen.
Der Goldene blickte zum Himmel hinauf. Die Sonne stand im Zenit. Kurz vor der Abenddämmerung würden sie auf einem Drachenpfad, den die Himmelsschlangen nur für sie erschaffen würden, hinübergehen. Es war ein neuer Weg durch das Dunkel zwischen den Welten. Ein Weg, den die Devanthar nicht hatten berücksichtigen können, als sie den Feldzug planten. Sie würden noch warten, bis die Menschen die Brücke überquert und Wanu besetzt hatten. Ailyn und ihre Krieger hatten nie auch nur die geringste Hoffnung auf einen Sieg gehabt. Sie waren der Köder, und in diesem Augenblick wurden sie verschlungen.
Und?, erklang die Stimme Nachtatems in den Gedanken des Goldenen. Deutlich spürte der Goldene die Anspannung seiner Brüder.
Das Sterben hat begonnen. Drei oder vier Stunden noch, dann ist die Zeit gekommen, unsere gefallenen Kinder zu rächen.
Und die ganze Zeit willst du sie hier am Hang warten lassen?, fragte der Frühlingsbringer ruhig. Die Kobolde und Kentauren stehen ja schon jetzt kaum still. Du verlangst mehr, als sie geben können.
Der Goldene hatte die Wartezeit nicht bedacht. Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass die Albenkinder sie als unbequem empfinden könnten. Er selbst lag an einem sonnigen Tag wie diesem gern stundenlang auf einem Felsen und hing seinen Gedanken nach, und stets hatte er das Gefühl, dass die Zeit wie im Fluge verging.
Sie sind nur Kinder, ermahnte ihn sein grün geschuppter Bruder, und der Goldene hatte das Gefühl, der Duft frischen Grases und erster Blüten läge in der Luft. Der Frühlingsbringer hatte in seinen Gedanken gelesen! Das verstieß gegen jegliche Etikette unter ihnen.
Und doch hat er recht, warf Nachtatem ein. Nein, auch ich habe nicht in deinen Gedanken gelesen. Dich anzusehen reicht, um zu wissen, was in dir vorgeht.
Der Goldene kämpfte gegen sein aufbrausendes Temperament an. Geben wir unseren Kindern eine Beschäftigung. Was haltet ihr davon, wenn wir Elfengestalt annehmen und ihre Reihen abschreiten, Einzelnen gut zusprechen und ihnen Komplimente machen. Halten wir eine Truppenparade ab, schwingen wir große Reden über die Erhabenheit dieses Augenblicks und wie sie einst ihren Kindern erzählen werden, dass sie in der Stunde größter Not zu den Rettern Albenmarks gehört haben.
Ist das nicht ein wenig platt, wandte der Rote konsterniert ein.
Nein, sie sind nur Kinder. Es war ausgerechnet Nachtatem, der ihm zu Hilfe eilte.
Misstrauisch beäugte der Goldene seinen Bruder, der sich wie stets einen schattigen Platz gesucht hatte und Teil der Dunkelheit zu sein schien, die dort nistete.
Wir sind ihre Götter, fuhr Nachtatem fort. Auch wenn wir nicht wirklich ihre Schöpfer sind, sind wir diejenigen, von denen sie sich ein Bild machen können, jene, die ihnen von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. Sie spüren den Hauch der Ewigkeit, der uns umgibt. Sie glauben, uns sei alles möglich. Wenn wir, wie unser Bruder vorgeschlagen hat, durch ihre Reihen gehen und Einzelne durch Lob auszeichnen, dann strahlt ein wenig unserer Allmacht auf sie ab. Für uns ist es nichts. Für sie aber wird es ein Augenblick, den sie bis zur Stunde des Todes als golden in der Schatzkammer ihrer Erinnerungen aufbewahren werden. Heute haben sie Gelegenheit, ihren Göttern so nahe zu sein wie nie zuvor. Wir begegnen ihnen von Angesicht zu Angesicht. Sie werden es lieben. Und selbst die Kobolde werden in Ehrfurcht verharren. Zelebrieren wir diesen Augenblick, bevor wir sie in unseren Kampf schicken, und sie werden es uns mit Selbstaufopferung und unverbrüchlicher Treue vergelten. Wir stehen an der Schwelle eines neuen Zeitalters. Die Geschichte hält ihren Atem an, und sie alle haben teil an dem, was geschehen wird. Gönnen wir ihnen dieses letzte Fest!
Aus Fluten geboren
Galar stemmte sich mit der Kraft der Verzweiflung gegen den Trollarm. Langsam begann sich das tote Fleisch zu bewegen. Drei Mal in seinem Leben war der Schmied verschüttet gewesen, doch die Last der Steine war ihm nie so erdrückend erschienen wie dieser Arm, der ihn nun auf den Boden nagelte, sodass er nur hilflos zusehen konnte, wie die Flammen über das verschüttete Öl huschten und immer näher kamen.
Der Zwerg schrie vor Wut und Verzweiflung. Inzwischen war ihm egal, ob ihn ein Fischkopf oder ein anderer Menschensohn hören konnte. Wieder stemmte er sich gegen den Arm. Er schaffte es sogar, ihn einige Zoll anzuheben, aber er kam einfach nicht darunter hervor.
Flammen erreichten seine fellgefütterte Lederhose und tanzten über die dunklen Ölflecken seinem Schritt entgegen. Noch spürte er keine Hitze. Kalter Schweiß rann ihm den Rücken hinab. Er würde bei lebendigem Leib verbrennen! So wie fast alle Zwerge der Tiefen Stadt gestorben waren. Er lächelte bitter. Der Kreis schloss sich. Und er hatte sein Ziel nicht erreicht, die großen Tyrannen vom Himmel stürzen zu lassen.
Wilde Kriegsschreie ertönten flussabwärts. Dann waren Waffengeklirr zu hören und die röhrenden Schreie der Trolle, die sich den neuen Gegnern stellten.
Er wollte nicht verbrennen, dachte Galar. Er wollte den Tod eines Kriegers sterben. Kalter Stahl sollte sein Leben beenden. »Hierher, ihr Menschenluschen!«, brüllte er los, auch wenn er wusste, dass sie ihn nicht verstehen würden. »Macht schon, kommt und kämpft mit mir, wenn ihr es wagt.«
Der Gefechtslärm kam näher. Galar konnte die breiten Schultern von Trollen sehen, die langsam vor einer Mauer aus vorgestreckten Speeren zurückwichen.