Nyr wollte den schneeweißen Umhang wegschieben, doch der Kobold an seiner Seite packte ihn mit erstaunlicher Kraft und zog ihn zurück. »So geht das nicht, Zwerg!«
Nyr sah die Reiter auf Galar und Bailin zupreschen. Der Hauptmann stützte sich auf den Schmied, und sie humpelten so schnell es ging. Glaubten sie denn wirklich, sie könnten entkommen? Che hatte einen Speer aufgehoben, der auf dem Eis gelegen hatte, und stellte sich der Reiterfront entgegen.
»Euer eigener Anführer steht da. Er wird auch draufgehen. Ihr könnt doch nicht …«
Der Kobold zu seiner Linken schnitt ihm mit einer wilden Geste das Wort ab.
Er und sechs weitere Kobolde, mit denen Nyr geflohen war, lagen in einer flachen Senke. Über ihnen waren drei weiße Umhänge ausgebreitet. Einer, den sie mit Hölzchen ausgelost hatten, hatte die Umhänge mit Schnee abgestreut.
»Wie könnt ihr nur …«, setzte er noch einmal an.
»Che selbst hat uns angewiesen, uns so zu verhalten«, raunte nun ein anderer Kobold. Er lag rechts von ihm, und sein Atem stank nach fauligen Zähnen. Fettige, schwarze Strähnen hingen ihm in die Stirn. Nyr wusste nicht einmal, wie er hieß. Das wusste er von keinem der sieben, mit denen er hier Seite an Seite lag. »Was glaubst du, wie wir im Krieg um Ishaven deinesgleichen immer wieder entkommen sind. Wenn eine Schlacht aussichtslos ist, dann machen wir uns unsichtbar. Die Menschenkinder haben keine Hunde mitgebracht. Das ist unser Glück. Sie können einen Schritt entfernt vorbeilaufen und werden uns nicht sehen.« Der Kobold zog den schmalen Spalt zu, durch den sie über den Rand der Senke gesehen hatten. »Unsere Atemwolken würden uns verraten. Du rührst dich nicht und du gibst keinen Ton von dir. Alles ganz einfach. Dann finden sie uns nicht.«
»Aber …«
»Nein, kein Aber. Du hast uns erzählt, wie wichtig es ist, dass du überlebst. Dass es da ein Geheimnis gibt, das nicht verloren gehen darf. Wir helfen dir. Aber noch wichtiger als dein Geheimnis ist uns unsere Haut. War das deutlich genug?«
Nyr nickte. Er konnte Galar nicht retten. Der gefrorene Boden, auf dem sie lagen, erbebte unter dem Trommeln Hunderter Pferdehufe. Eine ganze Armee wäre nötig, um den Schmied jetzt noch zu beschützen. Tränen standen ihm in den Augen. Er hatte gesehen, wie Galar umgekehrt war, um Bailin zu helfen. Und er ließ die beiden nun im Stich!
Aber er musste überleben. Sonst würde das Geheimnis der Drachentöterpfeile für immer verloren sein.
Umstellt
Subai riss sein Pferd am Zügel herum, um den fliehenden, kleinen Wicht doch noch zu erwischen. Er schlug Haken wie ein Hase, aber das würde ihm nicht helfen.
Der Steppenreiter beugte sich im Sattel vor und hielt seinen Speer weit vorgestreckt. Er ahnte, was der Kleine vorhatte. Immer wieder blickte er über seine Schulter zurück. Was für eine hässliche Fratze! Das also waren die Daimonen aus der anderen Welt. Subai war zutiefst von ihnen enttäuscht. Der Kampf um die Brücke war hart gewesen, und allen Ruhm hatten die anderen geerntet. Die Luwier hatten die grauen Riesen am Ende überwältigt, die Männer von den Schwimmenden Inseln das Ufer gestürmt. Nur für die Ischkuzaia war kein Ruhm geblieben. Sie jagten nur noch diese flüchtenden, grässlich entstellten Kinder. Mit ihren dunklen Gesichtern, den überlangen, spitzen Nasen und dem Maul voller nadelspitzer Zähne sahen sie allesamt aus wie Missgeburten.
Er hatte den Kerl, der vor ihm weglief, fast erreicht. Subai hielt den Speer ganz locker. Erst im letzten Augenblick vor dem Stoß würde er ihn fest packen. Solange er entspannt blieb, reagierte er schneller. Da! Er tat es! Genau wie er erwartet hatte. Der kleine Kerl warf sich in den Schnee und hoffte darauf, dass er ihn verfehlen würde.
Subai riss erneut an den Zügeln. Sein Hengst stieg und warf ihn fast aus dem Sattel. Senkrecht stieß der Steppenreiter seinen Speer hinab. Er spürte, wie das Stichblatt den zierlichen Körper durchstieß und in den hart gefrorenen Boden drang. Die Arme und Beine des kleinen Kerlchens zuckten, und er gab japsende Laute von sich. Ein paar Augenblicke nur, dann lag er still inmitten der Blutlache, die sich dampfend in den Schnee fraß.
»Einen neuen Speer!«, rief Subai ärgerlich. Sie fegten die Reste zusammen. Eine ehrlose Aufgabe war das! Er hatte so sehr darauf gehofft, im Kampf gegen die Daimonenkinder unsterblichen Ruhm zu ernten und endlich die Anerkennung seines Vaters zu gewinnen. Aber das hier war ein Dreck! Eine Wolfsjagd in den Weiten der Steppe war gefährlicher.
Saumakos, der Befehlshaber seiner Leibwache, reichte ihm einen neuen Speer. Der Kerl sah genauso mürrisch aus, wie er selbst sich fühlte, dachte Subai. Saumakos hatte ein flaches Gesicht mit platter Nase. Man sah ihm an, dass seine Mutter eine Konkubine vom Seidenfluss gewesen sein musste. Er hatte sich als Schwertkämpfer und Bogenschütze hervorgetan. Vor allem aber hatte Subai den mürrischen Kerl zum Befehlshaber seiner Leibwache ernannt, weil er nie zusammen mit Shaya gekämpft hatte. Subai hasste es, Männer um sich herum zu haben, die seine Schwester bewunderten. Der Steppenfürst wandte sich auf dem Pferderücken um und deutete nach Norden. »Da hinten sind noch drei Daimonen! Holen wir sie uns!«
Er preschte in wildem Galopp über die Ebene. Der verharschte Schnee splitterte unter den trommelnden Hufen, und Eis und Schnee spritzten um sie herum auf. Er spürte die Hitze des Hengstes zwischen seinen Schenkeln. Seine Lust zu laufen. Er war für den Kampf geboren.
»Herr! Dort hinten. Seht nur. Nördlich!«
Ein weißer Hengst lief mit ihnen um die Wette. Er war reiterlos. Ein prächtiges Tier, das geradezu über dem Schnee zu schweben schien. Bald hatte er sie überholt. Wie ein Windstoß glitt er über die Ebene und ließ Schleier wirbelnden Schnees hinter sich zurück. War das der Weiße Wolf? Der Gott, der über die Ischkuzaia wachte? Meist erschien er ihnen in Wolfsgestalt oder als ein stattlicher Krieger in schimmernder Wehr. So hatte Subai ihn schon gesehen.
Angeblich verwandelte er sich auch manchmal in einen weißen Hengst. War er gekommen, um sich an der Hatz auf die Daimonen zu beteiligen? Damit würde diese Aufgabe geadelt. Der Hengst hielt genau auf die drei kleinen Gestalten zu. Obwohl das Tier zu weit entfernt war, um es ganz deutlich erkennen zu können, erschien Subai etwas seltsam an ihm. Er stieß seinem Schlachtross die Hacken in die Flanken und trieb es gnadenlos an. Bald lag er um mehrere Pferdelängen vor seinen Begleitern, doch mit dem weißen Hengst konnte er nicht mithalten. Als jener die Daimonen erreichte, war Subai noch fast hundert Schritt entfernt.
Was war das? Der Hengst griff die Geschöpfe der Anderswelt nicht an … Er hielt und gestattete ihnen, auf seinen Rücken zu steigen!
»Fangt mir dieses Pferd. Ich …« Subai stockte der Atem. Erst jetzt sah er das Horn, das mitten aus der Stirn des Pferdes wuchs. Länger als eine Schwertklinge war es und in sich gedreht.
Er wollte, er musste es haben! Wollte ihm seinen Willen aufzwingen und künftig auf diesem wundersamen Pferd zur Jagd und in die Schlacht reiten. Es würde seinem Namen den Glanz geben, den er als Sohn des Unsterblichen Madyas haben sollte. Dann würde niemand mehr von seiner Schwester Shaya sprechen, dieser verdammten Hure, die mit der Hälfte ihrer Leibwache das Bett geteilt hatte, bis der Unsterbliche Muwatta ein Auge auf sie geworfen hatte.
Bis heute hatte Subai nicht begriffen, was der Herrscher Luwiens an diesem Mannweib gefunden hatte. Aber in ihm hatte Shaya ihren Meister gefunden. Er grinste böse. Sie hatte den Herrscher enttäuscht und ihm kein Kind geboren, und Muwatta hatte sie dafür verbrennen lassen. Doch ihr Name war nicht zu Rauch geworden. Im Gegenteil! Mit ihrem Tod war sie zur Legende geworden, und immer phantastischer wurden die Geschichten, die über sie die Runde machten. Es hieß, sie sei auf dem Rücken des Weißen Wolfes über den Himmel geritten und sie habe hier auf Nangog gemeinsam mit dem Unsterblichen Aaron Daimonen getötet.
Subai schnaubte ärgerlich. Was war schon dabei, Daimonen zu morden? Er hatte an diesem Mittag ein halbes Dutzend von ihnen auf Speere gespießt. Wie konnte man über den Kampf gegen sie nur Heldengeschichten erzählen? Gleich würde er noch drei umbringen.