Auch der kleine Daimon schien sich vor dem Pferd zu fürchten. Statt erneut anzugreifen, wich er aus, bis der bärtige Kerl auf dem Rücken des Tiers ihm etwas zurief.
Der Hengst hielt kaum drei Schritt vor Subai und senkte drohend sein Horn, während der Reiter seinen Gefährten auf den Pferderücken zog.
Subai war wie versteinert. Jeden Augenblick rechnete er damit, dass die Bestie ihm ihr Horn in die Brust stoßen würde. Doch das Pferd warf sich plötzlich herum und preschte davon. Es folgte der blutigen Schleifspur im Schnee, die von dem gemarterten dritten Daimon geblieben war.
Wir sind hier noch nicht fertig
Erschüttert kniete Galar neben der Leiche seines Gefährten. Bailins Gesicht war nur noch eine unförmige Masse von zerschundenem Fleisch.
»Komm!«, drängte Che. »Ich kann sie sehen. Sie folgen uns, und wenn sie uns erreichen, werden sie uns mit Pfeilen überschütten. Wenn sie ein bisschen Verstand haben, werden sie nicht noch mal versuchen, diesen wunderlichen Hörnergaul zu fangen.«
»Das ist ein Einhorn«, murmelte Galar, nahm seinen Schal ab und wickelte ihn Bailin um den Kopf. Er konnte es nicht ertragen, dem Toten ins Gesicht zu sehen. Sein Bart war fortgerissen, ebenso die Nase. Ein Auge fehlte. »Das hast du nicht verdient.«
»Ich glaub nicht, dass das hier ein richtiges Einhorn ist.« Che war nicht vom Rücken des Hengstes gestiegen. Er klammerte sich immer noch an der Mähne fest. »Einhörner sind edle, friedliebende Geschöpfe. Ich kenne alle Geschichten über Einhörner. Niemals hätte uns ein Einhorn gerettet und einen dieser Menschensöhne aufgespießt. Die schnuppern an Blumen, stolzieren in den Sonnenuntergang und hüten verwunschene Wälder. Ich bin froh, dass unser Horngaul anders ist. Sonst wären wir beide tot.«
»Du kennst vielleicht die falschen Geschichten.« Galar setzte den Toten auf und wuchtete sich Bailin dann über die Schulter.
»Heh, was wird das?«
»Wir lassen ihn natürlich nicht zurück«, sagte Galar entschieden. »Er soll eine ordentliche Feuerbestattung bekommen. Los, hilf mir, ihn auf den Rücken des Einhorns zu setzen.«
»Einhörner tragen ganz gewiss keine Leichen spazieren«, beharrte Che, packte Bailin aber unter den Achseln und mühte sich nach Kräften, ihn zu sich heraufzuziehen. Dann reichte er Galar die Hand und half auch ihm hoch.
Der Zwerg sah zu den Menschenkindern. Die Reiter hatten sie eingekreist.
»Kannst du uns zu der Stadt bringen?«, fragte er das Einhorn. Er hatte keine Ahnung, wie man ein Pferd ohne Zaumzeug dazu brachte, sich in die gewünschte Richtung zu bewegen. Galar hielt Bailin im Arm und klammerte sich mit der Linken in der Mähne des Einhorns fest. Che saß hinter ihm und umschlang Galar nun mit beiden Armen.
»Lass das!«, zischte der Zwerg gereizt. »Wir sind kein Liebespaar. Halt dich an meinem Gürtel fest!«
Che grummelte etwas in seinen Schal, fügte sich aber.
Verstand ein Einhorn es, wenn man mit ihm sprach, fragte sich Galar. Und wusste es überhaupt, was eine Stadt war? »Kannst du uns zu den Ställen der Menschenkinder bringen?«, wiederholte er langsam und überdeutlich.
Der Hengst schnaubte und stampfte unruhig mit einem der Vorderhufe auf den gefrorenen Boden.
Galar versuchte es damit, an die Stadt zu denken. Vielleicht konnte ein Einhorn ja Gedanken lesen? Gleichzeitig strich er vorsichtig mit der Hand über den Hals des Hengstes. »Bitte bring uns zu unseren Freunden.«
Noch einmal stampfte das Einhorn mit dem Vorderhuf, dann setzte es sich langsam in Bewegung. Es schritt den Menschenkindern entgegen, die keine dreihundert Schritt mehr entfernt waren.
Dachte der Hengst, diese Reiterschar wären ihre Freunde?
Das Einhorn beschleunigte und ging vom Schritt in einen leichten Trab über.
Galar klammerte sich vorsichtshalber wieder an der Mähne fest.
Die Menschen waren nur noch gut hundert Schritt entfernt. Deutlich sah Galar, wie die reitenden Bogenschützen nach ihren Köchern griffen.
Der Zwerg beugte sich dicht über den Hals des Hengstes, der immer schneller wurde. Das Trommeln seiner Hufe auf dem gefrorenen Grund dröhnte ihm in den Ohren. »Du darfst ihnen nicht näher kommen. Die werden uns töten.«
Das Einhorn hörte nicht auf ihn, sondern legte noch einmal an Tempo zu. In gestrecktem Galopp preschte es ihren Feinden entgegen.
Galar wurde auf dem Rücken durchgeschaukelt, dass ihm angst und bange wurde. Che hatte einen seltsamen Singsang angestimmt. Ein Totenlied?
Der Zwerg hielt Bailin fest an sich gedrückt. Sein toter Kamerad würde ihm ein Schutzschild gegen die Pfeile, die von vorne kamen, sein. Doch was half das schon, wenn das Einhorn getroffen wurde und strauchelte? Der Hengst hatte offenbar keine Ahnung, welch tödlicher Gefahr sie entgegenstürmten.
Pfeile pfiffen durch die Luft. Einer schlug Bailin in die Brust. Ein anderer verfing sich in der Mähne des Einhorns und riss eine Strähne Haare mit sich fort. Dann waren sie mitten unter den Menschenkindern. Ihre Pferde stoben in blinder Panik auseinander.
Galar presste sein Gesicht in die Mähne des Einhorns und hielt Bailin noch fester an sich gedrückt. Er konnte nichts anderes tun. Er war kein Reiterkämpfer, er schaffte es ja kaum, sich auf dem breiten Rücken des Einhorns zu halten.
Schreie erklangen rings um ihn herum. Stimmen voller Furcht und Zorn. Und dann waren sie durch die Linie der Reiter durchgebrochen. Einige schossen ihnen noch ihre Pfeile nach, doch das Einhorn lief schneller und schneller, bis es Galar schließlich vorkam, als berührten dessen Hufe kaum noch den Boden und es flöge wie der Nordwind über die Ebene.
Schon erschienen die beiden mächtigen Türme, die auf dem großen Platz von Wanu aufragten. Dann sah Galar die ersten der armseligen Häuser. Sie preschten an einer Gruppe verwundeter, abgekämpfter Trolle vorbei. Drei oder vier Zwerge begleiteten sie und kein einziger Kobold.
Das Einhorn wurde langsamer. Sein Hufschlag hallte in den engen, verlassenen Gassen wider, bis sie den Platz im Zentrum der Stadt erreichten. Den Platz, den ein riesiger, roter Kadaver ausfüllte.
Der Schmied brauchte einen Moment, bis er begriff, was er dort sah: ein Drache, größer noch als das weiße Ungeheuer, das er vor langer Zeit mit Nyr getötet hatte.
»Hier sind wir nicht sicher«, keuchte Che. »Die Menschengötter müssen hier sein. Wer sonst hätte einen Sonnendrachen töten können?«
Galar schwieg. Er glitt vom Rücken des Einhorns hinab. Che hielt Bailin und ließ den Toten dann in Galars Arme sinken. Der Zwerg bettete seinen Kameraden mit dem verhüllten Gesicht sanft auf den Boden. Che landete mit einem kühnen Sprung neben ihm.
»Hab ein wenig Geduld mit mir, Bailin. Ich muss einer Sache nachgehen, ich komme bald zurück«, flüsterte Galar.
Das Einhorn schnaubte, legte seinen Kopf schief und sah ihn fragend mit seinen großen, schwarzen Augen an.
»Ich kann hier noch nicht fort. Ich schulde es meinem Volk, hierzubleiben und diese Sache zu verschleiern.« Er seufzte und betrachtete verzweifelt den riesigen Drachen. »Obwohl ich fürchte, dass sich da nicht viel verschleiern lässt. Und dennoch muss ich bleiben. Ich muss Glamir finden und erfahren, was geschehen ist.« Er streckte sich und tätschelte über den Hals des Einhorns. »Danke, dass du nicht so unschuldig bist wie in den Märchen, die man über dich erzählt. Mach dich davon. Die Menschenkinder werden bald hier sein. Und sie zerstören alles, was schön ist auf der Welt.«
Das Einhorn schüttelte den Kopf, als wollte es ihm widersprechen. Dann warf es sich herum und preschte davon. Galar lauschte auf den Hufschlag in den Gassen, bis er in der Ferne verklungen war. Rotes Abendlicht streckte seine glühenden Finger zwischen den beiden Türmen hindurch, die den weiten Platz beherrschten.
»Wenn der wieder aufsteht, sind wir alle tot. Warum sind wir nicht auf den Rücken des Einhorns gestiegen und haben uns verpisst? Hier können wir ohnehin nichts ausrichten«, zeterte Che.
»Lauf dem Einhorn nach oder hilf mir, dafür zu sorgen, dass dieses Mistvieh nicht mehr aufsteht.«