»Du siehst auf alle Kobolde herab, nicht wahr. Hältst uns für Feiglinge. Du weißt nicht, wie es ist, wenn einen fast alle Völker als die geborenen Diener betrachten.«
»Einen Diener wie dich wollte ich im Leben nicht«, schnarrte Galar ihn an. »Und jetzt mach dich nützlich. Such mit mir nach der Wunde, die den Drachen umgebracht hat. Klettere auf ihm herum.«
»Und wenn er aufwacht?«
»Dann wirst du an einem Tag auf einem Einhorn und einem Drachen geritten sein. Du wirst eine Legende unter den Deinen werden«, entgegnete der Schmied zynisch. »Und jetzt hilf mir!«
Che lachte. »Du untergräbst meine schönsten Vorurteile über Zwerge. Ich fand immer, dass ihr genauso viel Humor habt wie die Felsen, in die ihr euch hineingrabt.«
»Absolut wahr!« Galar umrundete den Drachen. Er sah keine Wunde. Nichts, was … Glamir! Der Rumpf des Schmiedes lehnte an einer blutbespritzten Wand. »Glamir!« Galar sah die Armbrust in der Hand des Toten, die verstreuten Bolzen, die neben ihm auf dem Boden lagen. Ailyn würde sofort ahnen, was geschehen war, wenn sie das hier sah. Falls sie noch lebte … Selbst Che würde begreifen … Galar fluchte. Das war zu früh! Die Himmelsschlangen durften nicht argwöhnisch werden.
Der Zwerg eilte über den Platz hinweg zu dem Toten. »Du verdammter, alter Narr. Was hast du nur getan?« In fliegender Hast sammelte er die verstreuten Armbrustbolzen ein, schob sie in den ledernen Köcher und nahm ihn an sich. Dann löste er die Waffe mit dem seltsamen Schulterstück vom verstümmelten Arm des Toten. Glamirs Finger waren am Abzug der Waffe festgefroren. Als Galar die Hand endlich losbekam, fehlte ein daumennagelgroßer Fetzen Haut am Abzugsfinger. Er drückte dem Toten seine Axt in die Hand. Die anderen sollten ihn nicht ohne Waffe finden. Das würde nur weitere Fragen aufwerfen.
Galar ging in die Hocke und versuchte sich vorzustellen, welche Flugbahn der Armbrustbolzen genommen haben mochte. Und da sah er es. Ein kleines Rinnsal gefrorenen Blutes am Hinterkopf des Sonnendrachen. Das Eintrittsloch im Drachenschädel war so winzig, dass er es nur sah, weil er wusste, dass es dort sein musste.
»Guter Schuss.« Galar blickte in das fahle, blutleere Gesicht seines Freundes. »Damit hast du uns zumindest eine Sorge erspart.«
»Ich find nichts!« Che stieg über den Drachenschwanz hinweg und stutzte. »Hier ist alles voller Blut. Die ganze Schwanzspitze. Der hat …«
Galar wich zur Seite, sodass der Kobold den toten Schmied sehen konnte. »Er hat meinen Freund ermordet. Ihm sein zweites Bein genommen und ihn verbluten lassen. Was immer dieser Bestie widerfahren ist, ich würde ihrem Mörder gerne ein Fass vom besten Pilz der Tiefen Stadt spendieren.«
»Wenn der wieder aufsteht …« Che erschauderte sichtlich. »Den hält niemand mehr auf. Der …«
»Boah!« Zwei Trolle waren auf den Platz getreten und in fassungslosem Staunen, unterbrochen von unartikulierten Lauten, verharrt. Weitere Trolle folgten und dann auch die kleine Schar der Zwerge, die Galar kurz vor der Stadt gesehen hatte. Kein einziger Kobold zeigte sich, doch Che wirkte nicht beunruhigt.
»Die Reiter umstellen die Stadt!«, erklang eine wohlvertraute Stimme vom nördlichen der beiden Türme. Ailyn! Sie hatte überlebt. Wie war das möglich? Sie war von Feinden umringt gewesen. Nicht ein einziger Tropfen Blut zeigte sich auf ihrem schneeweißen Kleid. Nicht einmal ihre streng nach hinten und zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haare waren durcheinandergeraten. Sie hatte die ersten Stufen der Wendeltreppe an der Außenwand des Turms erklommen, sodass alle sie gut sehen konnten. Den toten Drachen würdigte sie keines Blickes. »Wir brauchen einen Unterschlupf, der gut zu verteidigen ist. Einen Keller wie den, in dem die Menschenkinder Zuflucht gesucht haben. Ich habe so einen gesehen, als wir zum ersten Mal hier waren. Es gibt dort auch Vorräte. Folgt mir! Hier in den Straßen werden uns die Reiter niedermachen. Aber zu dem Gewölbe gibt es nur einen Zugang. Und sie müssen an mir vorbei, wenn sie euch an die Kehlen wollen. Heute haben wir viele gute Männer verloren, nun ist es an den verdammten Menschenkindern, zu bluten.«
»Wer hat den Drachen getötet?«, rief Galar. Er hielt es für eine gute Idee. Sollte Ailyn eine Ausrede erfinden. Ihr würden die anderen alles glauben.
Die Elfe sah ihn an, als wäre er ein lästiges Insekt. »Liegt das nicht auf der Hand, Galar?«
Der Schmied schluckte. Wie meinte sie das?
»Wer außer den Devanthar könnte einen Sonnendrachen töten?«
Nach wie vor sah sie nur ihn an. Und Galar wusste, dass sie nicht glaubte, was sie sagte.
Drachentöter
Vorsichtig streckte Subai die Hand nach dem Ungeheuer aus, das fast den ganzen Marktplatz ausfüllte. Nie zuvor hatte er eine solche Kreatur gesehen. Etliche Wolkensammler waren deutlich größer als dieses Geschöpf, aber auch wenn es ohne Zweifel tot war, ging immer noch etwas Bedrohliches von ihm aus. War das eine der Himmelsschlangen? Sie waren die Daimonenfürsten. Mächtige, geflügelte Schlangen. Ungeheuer, wie einem Albtraum entsprungen.
Ein Reiter mit einer Fackel in der Hand preschte auf den Platz. »Herr, ich habe die Flüchtlinge aufgespürt. Sie sind in einem Keller, nicht weit von hier.«
Subai hob die Hand und gebot dem Reiter zu schweigen. An die hundert Krieger drängten sich auf dem Platz. Einige hatten Schuppen des Ungeheuers abgetrennt. Ohne Zweifel würden sie machtvolle Talismane sein.
Dieses Ungeheuer war ein Geschenk der Götter. Wenn er jetzt klug handelte, dann erlangte er endlich den Ruhm, nach dem er sich schon sein ganzes Leben lang sehnte.
»Bogenschützen!«, rief er mit einer Stimme, die das Donnern Hunderter Hufe übertönen konnte. »Legt Pfeile auf!«
Die Männer sahen einander verwundert an, aber keiner wagte etwas zu sagen. Sie fürchteten ihn und seine Launen.
»Erschießt diese Himmelsschlange!«, rief er scharf.
Die Männer in seiner Nähe sahen ihn an, als wäre er verrückt geworden.
»Wollt ihr als Drachentöter gefeiert werden oder nicht? Seht ihn euch an, wie er dort liegt, ohne eine sichtbare Wunde. Sein Tod ist ein Geheimnis. Vielleicht ist es ein Geschenk der Götter an uns. Wenn Hunderte Pfeile in seinem Leib stecken, wer sollte uns den Ruhm absprechen, dieses geflügelte Ungeheuer erlegt zu haben? Folgt mir, Männer! Beschreiten wir gemeinsam den Pfad zu unsterblichem Ruhm.« Er ging zu dem Pferd, das er einem seiner Hauptleute abgenommen hatte, nahm den Bogen vom Sattel und zog einen Pfeil aus dem Köcher, der vom Sattelhorn hing.
»Tut es mir gleich, Männer!« Mit diesen Worten legte er einen Pfeil auf die Sehne und schoss auf den toten Drachen.
Die Krieger gehorchten ihm nicht. Es schien ihm sogar, als sähen ihn manche voller Abscheu an. Unbeirrt griff er erneut zum Köcher und zog den nächsten Pfeil. »Ihr kennt meinen Vater! Wir haben nicht alle Daimonen niederreiten können, wie er es uns befohlen hatte. Einige sind hierher entkommen, und wir werden diesen verfluchten Keller nicht stürmen können, wenn einer der grauen Riesen den Eingang bewacht. Jedenfalls nicht, bevor die Heere der verbündeten Unsterblichen eintreffen. Wir hatten die geringste von allen Aufgaben. Wir mussten nur geschlagene Flüchtlinge verfolgen und stellen. Was glaubt ihr, was mein Vater mit uns allen tun wird, wenn er erfährt, dass wir versagt haben? Wie wird er es aufnehmen, wenn er in Anwesenheit aller Unsterblichen sein Gesicht verliert, weil seine Krieger versagt haben? Ihr alle wisst, dass er nicht für seinen Langmut bekannt ist. Wir müssen dieses Ungeheuer töten! Jeder muss erkennen können, dass Pfeile der tapferen Ischkuzaia es niedergestreckt haben. Nur eine Heldentat von den Ausmaßen dieses Drachen vermag unsere Leben zu retten.«
Er hakte den Pfeil in die Sehne ein und schoss erneut. Obwohl er kaum zehn Schritt vom Drachen entfernt stand und die Bogensehne bis hinter sein Ohr zurückzog, drang das Geschoss nur knapp drei Fingerbreit in den Leib des Drachen ein.
Die ersten seiner Krieger folgten seinem Beispiel, als der Befehlshaber seiner Leibwache an seine Seite trat.