»Fragen Sie.«
»Womit haben wir es hier denn zu tun? Ein Unfall ist schließlich kein Kaffeekränzchen, Marty. Wir leben in einer zivilisierten Demokratie, verstehen Sie, was ich meine?«
Und wenn - Kurtz enthielt sich jedenfalls jeden Kommentars. »Hören Sie, eines muss ich verlangen. Marty, ich verlange es, ich bestehe darauf. Kein Schaden, kein Menschenleben. Das ist eine Bedingung. Wir sind Freunde. Begreifen Sie?«
Kurtz begriff sehr wohl, wie seine knappe Antwort bewies. »Paul, deutsches Eigentum wird bestimmt nicht beschädigt werden. Ein paar Kratzer vielleicht, aber kein echter Schaden.« »Und Menschenleben? Um Gottes willen, Marty, wir sind doch hier nicht primitiv!« rief Alexis, in dem neuerlich Panik aufflackerte.
Kurtz’ Stimme bekam plötzlich etwas überwältigend Ruhiges. »Das Blut Unschuldiger wird nicht vergossen werden, Paul. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Und kein deutscher Staatsbürger wird auch nur eine Schramme abbekommen.«
»Darauf kann ich mich verlassen?«
»Es wird Ihnen gar nichts anderes übrig bleiben«, sagte Kurtz und legte auf, ohne zu hinterlassen, unter welcher Nummer man ihn erreichen könnte.
Unter normalen Umständen hätte Kurtz nicht so unbekümmert das Telefon gebraucht, doch da die Verantwortung fürs Anzapfen jetzt bei Alexis lag, hatte er das Gefühl, das Risiko auf sich nehmen zu können.
Litvak rief zehn Minuten später an. Los, sagte Kurtz; grünes Licht; ans Werk.
Sie warteten, Kurtz am Fenster, Becker, wieder auf seinem Stuhl, blickte an ihm vorbei auf den unruhigen Nachthimmel. Kurtz packte den Mittelhebel, schob ihn beiseite und machte die beiden Fensterflügel so weit wie möglich auf, so dass der Lärm von der Autobahn hereindrang.
»Warum überflüssige Risiken eingehen?« brummte er, als hätte er sich bei einer Nachlässigkeit ertappt.
Becker fing an, nach Soldatenart zu zählen: soundso lange, um die beiden richtig hinzusetzen. Soundso lange für eine letzte Überprüfung. Soundso lange, um abzuhauen. Soundso lange, bis aus beiden Richtungen eine Verkehrslücke gemeldet wurde. Soundso lange, um noch einmal darüber nachzudenken, wie viel ein Menschenleben wert ist, selbst für die, die völlig aus den menschlichen Bindungen ausgebrochen sind, und für die, bei denen das nicht der Fall ist. Es war wie üblich die lauteste Detonation, die je jemand gehört hatte. Lauter als Bad Godesberg, lauter als Hiroshima, lauter als alle Schlachten, in denen er mitgekämpft hatte. Becker, der noch immer auf seinem Stuhl saß und an Kurtz’ Silhouette vorbeiblickte, sah einen riesigen orangefarbenen Feuerball aus dem Boden emporschießen, dann verschwinden und die späten Sterne und das frühe Tageslicht mitnehmen. Ihm folgte sofort eine Woge von öligem schwarzen Rauch, der schnell den durch die sich ausdehnenden Gase entstandenen Raum erfüllte. Er sah Trümmer durch die Luft fliegen und einen Regen von schwarzen Bruchteilen nach hinten wegspritzen: ein Reifen, ein Brocken Asphalt, menschliche Gliedmaßen - wer wollte das jemals wissen? Er sah, wie der Vorhang liebevoll Kurtz’ nackten Arm streifte und spürte den warmen Hauch eines Föhns. Er vernahm das insektenhafte Summen von harten Gegenständen, die sich vibrierend aneinander reiben, und längst ehe es sich gelegt hatte, die ersten Schreie der Empörung, das Gehechel von Hunden sowie das Schlurfen ängstlicher Füße, als die Leute sich in Pantoffeln in dem überdachten Gang versammelten, der die einzelnen Häuschen miteinander verband, und er hörte die sinnlosen Sätze, die die Leute im Film auf untergehenden Schiffen zueinander sagen: »Mutter! Wo ist Mutter! Ich hab’ meinen Schmuck verloren.« Er hörte, wie eine völlig aufgelöste Frau sich nicht davon abbringen ließ, dass die Russen kämen, während eine nicht weniger verängstigte Stimme ihr versicherte, es sei nur ein Tankwagen, der in die Luft gehe. Jemand sagte, es müsse sich um was Militärisches handeln - die Sachen, die sie nachts transportieren, sind eine Schande! Neben dem Bett stand ein Radio. Während Kurtz am Fenster stehen blieb, stellte Becker einen lokalen Unterhaltungssender für Nachtschwärmer an und ließ das Radio laufen, für den Fall, dass sie eine Meldung durchgaben. Unter Sirenengeheul sauste ein Polizeiwagen die Autobahn entlang, das Blaulicht blitzte. Dann nichts, dann ein Feuerwehrauto, dem ein Krankenwagen folgte. Die Musik wurde unterbrochen, es kam zur ersten Meldung. Unerklärliche Explosion westlich von München, Ursache unbekannt - keine weiteren Einzelheiten. Die Autobahn sei in beiden Richtungen gesperrt; den Autofahrern werde geraten, auf Umgehungsstraßen auszuweichen. Becker stellte das Radio ab und knipste das Licht an. Kurtz machte das Fenster zu und zog den Vorhang vor, dann setzte er sich aufs Bett und zog die Schuhe aus, ohne die Schnürsenkel aufzumachen.
»Äh - übrigens - Gadi, vor ein paar Tagen habe ich von unseren Leuten in der Botschaft in Bonn gehört«, sagte Kurtz, als ob irgend etwas plötzlich die Erinnerung daran auffrischte. »Ich hatte sie gebeten, ein paar Erkundigungen über diese Polen anzustellen, mit denen du in Berlin zusammenarbeitest. Mal festzustellen, wie ihre Finanzlage ist.« Becker sagte nichts.
»Die Nachrichten waren anscheinend nicht so besonders ermutigend. Sieht so aus, als ob wir ein bisschen mehr Geld oder ein paar Polen mehr für dich finden müssten.«
Da er immer noch keine Antwort erhielt, hob Kurtz langsam den Kopf und sah, wie Becker ihn von der Tür her anstarrte; irgend etwas in der Haltung des größeren Mannes zeigte bemerkenswert deutlich, wie wütend er war.
»Möchten Sie mir etwas sagen. Mr. Becker? Möchten Sie mir eine Standpauke halten, die Sie in eine angenehme seelische Verfassung versetzt?«
Das war offenbar nicht der Fall. Becker machte leise die Tür hinter sich zu und war fort.
Kurtz musste noch ein letztes Telefongespräch führen: mit Gavron, und zwar über die Direktleitung zu ihm nach Hause. Er griff nach dem Hörer, zögerte und zog die Hand dann wieder zurück. Soll die kleine Krähe doch warten, dachte er, als der Zorn wieder in ihm aufwallte. Und rief ihn dann trotzdem an. Begann ganz sanft, alles fest in der Hand, nichts Unvernünftiges. So, wie sie immer anfingen. Sprachen englisch. Benutzten die Decknamen, auf die sie sich für diese Woche geeinigt hatten: »Nathan, hier ist Harry. Wie geht’s? Und deiner Frau? Danke, du sie auch von mir. Nathan, zwei kleine Bösewichter aus unserer Bekanntschaft haben sich plötzlich ganz schrecklich erkältet. Das wird bestimmt die Leute freuen, die von Zeit zu Zeit beruhigt werden müssen.« Während er Gavrons krächzender, unverbindlicher Antwort lauschte, spürte Kurtz, wie er anfing zu zittern. Trotzdem gelang es ihm, seine Stimme fest im Zaum zu halten. »Nathan, ich glaube, jetzt kommt dein großer Augenblick. Man ist es mir schuldig, dass du gewisse Druckmittel zurückhältst und die Sache reifen lässt. Da sind Versprechen gemacht und gehalten worden, ein gewisses Maß an Vertrauen ist jetzt gerechtfertigt, und ein kleines bisschen Geduld.« Unter all den Männern und Frauen, die er kannte, war Gavron der einzige Mensch, der ihn so weit reizte, dass er Dinge sagte, die er hinterher bereute. Noch hatte er sich in der Hand. »Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden, Nathan. Ich brauche Luft, hörst du? Luft -ein bisschen Freiheit - einen gewissen Bewegungsfreiraum.« Sein Zorn wallte auf. »Halt also diese Verrückten in Schach, ja? Geh doch hin und verschaff mir zur Abwechslung mal etwas Unterstützung!«
Die Leitung war tot. Ob daran die Explosion schuld war oder Misha Gavron, sollte Kurtz nie erfahren, denn er machte nicht den Versuch, noch einmal anzurufen.
Teil II
Der Preis
Kapitel 16