Während in London der Sommer in den Herbst überging, befand sich Charlie drei endlose Wochen lang in einem halb unwirklichen Zustand, schwankte sie zwischen Fassungslosigkeit und Ungeduld, zwischen erregtem Bereitsein und krampfhaftem Entsetzen. Früher oder später holen sie dich, sagte er immer wieder. Das geht gar nicht anders. Und er machte sich daran, sie innerlich zu wappnen und aufzubauen.
Aber warum mussten sie sie eigentlich holen? Sie wusste es nicht, und er sagte es ihr nicht, benutzte aber sein Fernsein wie einen Schild. Ob wohl Mike und Marty Michel irgendwie an sich banden, so wie sie Charlie an sich gebunden hatten? An manchen Tagen stellte sie sich vor, dass Michel eines Tages die Fiktion, die sie für ihn aufgebaut hatten, einholen, bei ihr auftauchen und leidenschaftlich einfordern würde, was sie ihm als Geliebten schuldig war. Joseph bestärkte sie sanft in diesem gespaltenen Zustand und führte sie immer näher an seinen abwesenden Stellvertreter heran. Michel, ach mein geliebter Michel, komm zu mir. Liebe Joseph, aber träume von Michel. Zu Anfang hatte sie kaum in den Spiegel zu blicken gewagt, so sehr war sie davon überzeugt, dass ihr Geheimnis durchschimmerte. Ihr Gesicht war bis zum Zerreißen gespannt wegen der ungeheuerlichen Informationen, die sich unmittelbar unter der Oberfläche verbargen; ihre Stimme und ihre Bewegungen hatten eine Unterwasser-Langsamkeit, die sie weit vom Rest der Menschheit entfernte: Ich spiele rund um die Uhr eine Ein-Mann-Show; erst die ganze Welt, dann ich.
Doch als die Zeit verging, wich ihre Angst vorm Entdecktwerden allmählich einer gewissen liebevollen Geringschätzung gegenüber den Unschuldigen um sie herum, die einfach nicht sahen, was sich Tag für Tag unter ihrer Nase abspielte. Sie sind dort, wo ich herkam, dachte sie. Sie sind ich, ehe ich durch den Spiegel schritt.
Joseph selbst gegenüber bediente sie sich einer Technik, die sie auf ihrer Fahrt durch Jugoslawien vervollkommnet hatte. Er war der Vertraute, auf den sie jede Handlung und jede Entscheidung bezog; er war der Geliebte, für den sie ihre Witze riss und für den sie sich schön machte. Er war ihr Stecken und Stab, ihr bester Freund, überhaupt das Beste, was es gab. Er war der Kobold, der an den unmöglichsten Orten auftauchte und schon immer im voraus ganz genau wusste, wo sie war -mal an einer Bushaltestelle, dann wieder in einer Bibliothek oder in der Automaten-Wäscherei, wo er im Neonlicht unter den schlampigen Muttis saß und zusah, wie seine Hemden sich drehten. Nie jedoch gab sie seine Existenz zu. Er hatte mit ihrem Leben nicht das allergeringste zu tun, war außerhalb von Zeit und Raum - bis auf ihre verstohlenen Rendezvous, die sie aufrechterhielten. Bis auf seinen Ersatz, Michel. Für die Proben zu Wie es euch gefällt hatte das Theater eine alte Übungshalle der Territorial-Armee in der Nähe der Victoria Station gemietet; dorthin ging sie jeden Morgen, und jeden Abend wusch sie sich den Geruch von schalem Soldatenbier aus dem Haar.
Sie ließ sich von Ned Quilley zum Lunch ins Bianchi ausführen und fand ihn sonderbar. Er schien sie vor etwas warnen zu wollen, doch als sie rundheraus fragte, wovor denn, hüllte er sich in Schweigen und erklärte, Politik sei jedermanns eigene Sache; dafür habe er im Krieg bei den Green-Jackets gekämpft. Dann betrank er sich ganz furchtbar. Nachdem sie ihm geholfen hatte, die Rechnung abzuzeichnen, mischte sie sich wieder unter die Menge auf der Straße und hatte das Gefühl, vor sich selbst herzulaufen; ihrer eigenen flüchtigen Gestalt zu folgen, die ihr in der dichten Menschenmenge immer wieder entschlüpfte. Ich bin vom Leben getrennt. Ich finde nie wieder zurück. Doch noch während sie dies dachte, spürte sie, wie eine Hand ihren Ellbogen streifte, Joseph einen Moment neben ihr herging und dann im Eingang von Marks & Sparks untertauchte. Sein unverhofftes Auftauchen hatte bald eine ganz ungewöhnliche Wirkung auf sie: Sie war dadurch unablässig auf der Hut und, wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war, auch voller Verlangen. Ein Tag ohne ihn war ein Un-Tag; erhaschte sie aber auch nur einen einzigen flüchtigen Blick von ihm, flogen ihm Herz und Körper zu wie bei einer Sechzehnjährigen.
Sie las die seriösen Sonntagszeitungen, studierte die neuesten überraschenden Enthüllungen über die SackvilleWest - oder war es die Sitwell? - und wunderte sich darüber, wie hoch die herrschende englische Meinung die eigene Bedeutungslosigkeit einschätzte. Sie sah sich das von ihr bereits vergessene London an und fand überall ihre Persönlichkeit als Radikale, die sich dem Weg der Gewalt verschrieben hatte, bestätigt. Die Gesellschaft, wie sie sie kannte, war abgestorben; Charlies Aufgabe war es, sie zu beseitigen und den Boden für etwas Besseres zu bereiten. Die hoffnungslosen Gesichter der Leute, die sich beim Einkaufen wie geschlagene Sklaven durch die neonbeleuchteten Supermärkte schleppten, sagten ihr das, die verzweifelnden Alten und die Polizisten mit den giftigen Augen desgleichen. Ebenso die ziellos herumbummelnden schwarzen Jugendlichen, die die Rolls-Royces vorbeirauschen sahen und die schimmernden Banken mit ihrem Air verweltlichter Anbetung und ihren rechtschaffenen, leuteschindenden Managern vor Augen hatten. Die Baufirmen, die die Irregeleiteten in ihre Eigentumsfallen lockten; die Schnapsläden, die Wettbüros, der Auswurf - es brauchte nicht viel, und die ganze Londoner Szene bot sich Charlie als ein überquellender Mülleimer voller aufgegebener Hoffnungen und enttäuschter Seelen dar. Dank Michels Anregungen schlug sie im Geiste Brücken zwischen der kapitalistischen Ausbeutung der Dritten Welt und hier in ihrer unmittelbaren Umgebung, Camden Town.
Da sie dies so eindeutig lebte, schickte ihr das Leben sogar das überfrachtete Symbol eines hilflos umher getriebenen Menschen. Als sie am Sonntag morgen zeitig einen Spaziergang am Treidelpfad des Regent’s Canal entlang machte - in Wirklichkeit war sie zu einem der wenigen verabredeten Treffen mit Joseph unterwegs -, hörte sie den Klang eines tiefen Saiteninstruments, das einen Negro-Spiritual sägte. Der Kanal erweiterte sich, und in der Mitte eines von aufgegebenen Speichern umrahmten Hafenbeckens sah sie einen alten Schwarzen, der direkt aus Onkel Toms Hütte kam, auf einem festgemachten Floß sitzen und einer Gruppe von hingerissen lauschenden Kindern auf dem Cello vorspielen. Eine Szene wie aus einem Fellini-Film; Kitsch; Fata Morgana; eine ihrem Unterbewussten entstiegene erleuchtete Vision.
Was immer es war, etliche Tage lang wurde es für sie zum persönlichen Bezugspunkt für alles, was sie um sich herum sah - zu persönlich, um selbst Joseph davon zu erzählen; sie hatte Angst, er würde sie auslachen oder, noch schlimmer, eine rationale Erklärung dafür anbieten.
Sie schlief ein paar Mal mit Al, weil sie keine Auseinandersetzung mit ihm wollte und weil ihr Körper ihn nach der langen Dürre mit Joseph brauchte; außerdem hatte Michel ihr das befohlen. Sie vermied jedoch, dass er sie in ihrer Wohnung besuchte, denn er hatte wieder einmal kein Dach überm Kopf, und sie fürchtete, dass er versuchen würde, bei ihr zu bleiben, was er früher schon öfter getan hatte, bis sie seine Kleider und seinen Rasierapparat auf die Straße geworfen hatte. Außerdem barg ihre Wohnung neue Geheimnisse, und nichts auf der Welt hätte sie dazu gebracht, sie mit ihm zu teilen: Ihr Bett war Michels Bett, seine Pistole hatte unter dem Kopfkissen gelegen, und es gab nichts, was Al oder sonst jemand tun konnte, um sie zu bewegen, es zu entweihen. Sie war auch vor Al auf der Hut, weil Joseph sie gewarnt hatte, dass aus seinem Filmangebot nichts geworden sei, und sie wusste aus Erfahrung, wie schlimm er werden konnte, wenn sein Stolz verletzt war. Ihr erstes leidenschaftliches Wiedersehen fand in einer Stammkneipe statt, wo sie den großen Philosophen von einer Schar seiner Jüngerinnen dicht umringt fand. Als sie auf ihn zuging, dachte sie: Er wird Michel riechen; er ist in meinen Kleidern, meiner Haut, meinem Lächeln. Aber Al war viel zu sehr damit beschäftigt, seine Gleichgültigkeit zu demonstrieren, um irgendetwas zu riechen. Mit dem Fuß schob er einen Stuhl für sie zurück, und beim Hinsetzen dachte sie: Gott bewahre, es ist noch keinen Monat her, da war dieser Zwerg mein Hauptberater, wenn es darum ging, was mit der Welt los ist. Als die Kneipe zumachte und sie in die Wohnung eines Freundes gingen und dessen zweites Zimmer mit Beschlag belegten, erschrak sie, als sie sich bei der Vorstellung ertappte, es sei Michel, der in ihr war, Michels Gesicht, das auf sie herab starrte, und Michels olivfarbener Körper, der sich ihr im Halbdunkel aufdrängte - Michel, ihr geliebter kleiner Killer, der sie in Ekstase versetzte. Dabei gab es hinter Michel noch einen anderen - Joseph, der endlich ihr gehörte; seine lodernde, aufgestaute Sexualität, für die es endlich kein Halten mehr gab; sein narbenbedeckter Körper und seine narbenbedeckte Seele, endlich ihr.