Bis auf sonntags las sie sporadisch kapitalistische Zeitungen, hörte die auf die Konsumenten zugeschnittenen Nachrichten im Radio, hörte aber nichts von einer rothaarigen Engländerin, die im Zusammenhang mit der illegalen Einfuhr hochexplosiven russischen Plastiksprengstoffs nach Österreich gesucht wurde. Dazu kam es nie. Das waren zwei völlig verschiedene junge Frauen, eines meiner kleinen Hirngespinste. Ansonsten interessierte sie der Zustand der größeren Welt um sie herum so gut wie gar nicht mehr. Sie las von einem palästinensischen Bombenattentat in Aachen und von einem israelischen Vergeltungsangriff auf irgendein Flüchtlingslager im Libanon, bei denen eine große Anzahl von Zivilisten den Tod gefunden haben sollte. Sie las von wachsender öffentlicher Empörung in Israel und erschauerte entsprechend bei einem Interview mit einem israelischen General, der versprach, das Palästinenser-Problem »von Grund auf zu lösen«. Doch nach ihrem Schnellkurs in Verschwörung hatte sie kein Vertrauen mehr zur offiziellen Darstellung der Ereignisse und würde es nie wieder haben. Die einzigen Nachrichten, die sie einigermaßen getreulich verfolgte, betrafen eine riesige Panda-Bärin im Londoner Zoo, die sich nicht paaren wollte, obwohl Feministinnen behaupteten, es sei Schuld des Männchens. Außerdem gehörte der Zoo zu Josephs Lieblingstreffpunkten. Sie trafen sich dort auf einer Bank, und sei es nur, um eine Zeitlang Händchen zu halten wie ein Liebespaar, ehe jeder wieder seines Weges ging.
Bald, sagte er dann wohl. Bald.
Charlie ließ sich auf diese Weise treiben, schauspielerte die ganze Zeit über für ein unsichtbares Publikum, wappnete sich mit jedem Wort und jeder Geste gegen eine momentane Unachtsamkeit und stellte dann fest, dass sie sich zunehmend auf ein Ritual stützte. Am Wochenende fuhr sie für gewöhnlich zu ihrem Jugend-Klub in Peckham, und in einer großen Halle mit gewölbter Decke, die so groß war, dass man darin Brecht hätte aufführen können, brachte sie diese Schauspiel-Gruppe von Jugendlichen wieder in Schwung, und sie
genoss das. Sie planten für Weihnachten eine Rock-Pantomime, ein Stück reinster Anarchie.
Freitags ging sie manchmal in Als Kneipe, und mittwochs nahm sie immer zwei Dreiviertelliter-Flaschen dunkles Ale zu Miss Dubber mit, einer abgetakelten Nutte, die gleich um die Ecke wohnte. Miss Dubber litt unter Arthritis, Rachitis und Holzwürmern sowie unter etlichen ernsthaften Gebrechen und verfluchte ihren Körper mit einem Eifer, wie sie ihn früher nur für knauserige Freier übrig gehabt hatte. Charlie revanchierte sich damit, dass sie Miss Dubbers Ohr mit wunderbaren erfundenen Geschichten über das skandalöse Geschehen in der Welt des Show-Business füllte; die beiden schütteten sich darüber so vor Lachen aus, dass die Nachbarn den Fernseher lauter stellten, um den Lärm zu übertönen. Sonst konnte Charlie keine Gesellschaft ertragen, obwohl ihre Arbeit als Schauspielerin sie mit einem Halbdutzend Cliquen bekannt gemacht hatte, bei denen sie sich jederzeit hätte melden können, wenn ihr danach gewesen wäre.
Mit Lucy hielt sie ein Schwätzchen am Telefon, und sie nahmen sich vor, sich zu treffen, ließen es jedoch offen. Robert spürte sie in Battersea auf, doch die Mykonos-Clique war wie Schulfreunde von vor zehn Jahren; in ihrem Leben gab es nichts mehr, was sie mit ihnen teilen konnte. Sie traf sich mit Willy und Pauly zum Curry-Essen, doch die beiden dachten daran, sich zu trennen, und das Ganze war ein Reinfall. Sie versuchte es mit ein paar Busenfreunden aus früheren Existenzen, doch auch das war kein Erfolg, und danach wurde sie eine alte Jungfer. Wenn es eine Zeitlang nicht regnete, begoss sie die jungen Bäume in ihrer Straße und hängte in Drahtnetzen an der Fensterbank frische Nüsse für die Spatzen auf, denn das war eines der verabredeten Zeichen für ihn, genauso wie der ›Ent-rüstet euch‹ -Aufkleber an ihrem Auto und das Messing-›C‹ auf dem Lederanhänger ihrer Schultertasche. Er nannte das ihre Sicherheitssignale und probte wiederholt deren Anwendung mit ihr. Verschwand eines von ihnen, bedeutete das einen Hilfeschrei. Und in ihrer Handtasche hatte sie einen brandneuen weißen Seidenschal, aber nicht für die Kapitulation, sondern um zu sagen: ›Sie haben sich gemeldet‹ , falls das jemals der Fall sein sollte. Sie führte ihr kleines Tagebuch weiter und nahm die Eintragungen dort auf, wo der Bildungskreis aufgehört hatte, sie schloss die Reparatur eines Stickbildes ab, das sie gekauft hatte, ehe sie in Urlaub gegangen war, und das Lotte zeigte, wie sie sich am Grabe Werthers verzehrte. Wieder ich, diesmal in einer klassischen Rolle. Sie schrieb ihrem verschollenen Mann endlose Briefe, hörte jedoch nach und nach auf, sie einzuwerfen.
Liebster Michel, ach, Michel, hab Erbarmen und kehr zu mir zurück!
Aber sie hielt sich von den Versammlungsorten und alternativen Buchhandlungen in Islington fern, wo sie sich früher häufig zu schwunglosen Sitzungen bei Kaffee eingefunden hatte; vor allem aber machte sie einen Riesenbogen um die finstere St. Pancras-Gang, deren im Koksrausch geschriebene Flugblätter sie zu verteilen pflegte, weil niemand sonst das tun wollte. Von Eustace, ihrem Kfz-Mechaniker, bekam sie endlich ihr Auto, einen frisierten Fiat, zurück, den Al ihr zu Schrott gefahren hatte, und an ihrem Geburtstag nahm sie ihn das erste Mal wieder und fuhr damit zu ihrer Scheiß-Mutter nach Rickmansworth, um ihr die Tischdecke zu bringen, die sie auf Mykonos für sie gekauft hatte. In der Regel hatte sie großen Bammel vor diesen Besuchen: diese sonntäglichen Essens-Fallen mit dreierlei Gemüse und Rhabarbertorte als Dessert, der dann ihre Mutter im allgemeinen eine höchst detaillierte Zusammenfassung all dessen folgen ließ, was die Welt falsch gemacht hatte, seit sie zum letzten Mal zusammengewesen waren. Diesmal stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass sie ganz wunderbar mit ihr konnte. Sie blieb die Nacht über, band am nächsten Morgen ein dunkles Kopftuch um - auf keinen Fall das weiße -, fuhr sie zur Kirche und bemühte sich, nicht an das letzte Mal zu denken, als sie ein Kopftuch aufgehabt hatte. Als sie kniete, regte sich ein unerwarteter Rest von Frömmigkeit in ihr, und sie legte Gott ihre verschiedenen Identitäten zu Füßen. Als sie dem Orgelspiel zuhörte, musste sie weinen, und das brachte sie dazu, darüber nachzudenken, wie sehr sie sich eigentlich unter Kontrolle hatte. Es liegt daran, weil ich es nicht über mich bringen kann, in meine Wohnung zurückzukehren, dachte sie.
Durcheinander brachte sie, wie ihre Wohnung auf gespenstische Weise verändert worden war, um der neuen Persönlichkeit zu entsprechen, in die sie so sorgsam hineinwuchs: ein Szenenwechsel, dessen Ausmaß nur ganz allmählich deutlich wurde. Die tückische Umgestaltung ihrer Wohnung während ihrer Abwesenheit war das Beunruhigendste an ihrem ganzen neuen Leben. Bis jetzt hatte sie die Wohnung für den sichersten Ort überhaupt gehalten, eine Art architektonischer Ned Quilley. Sie hatte sie von einem engagementslosen Schauspieler geerbt, der - nachdem er Einbrecher geworden war - in Pension gegangen war und sich zusammen mit seinem Freund nach Spanien abgesetzt hatte. Sie lag am Nordrand von Camden Town über einer goanesisch-indischen Fernfahrer-Kneipe, in der es um zwei Uhr morgens lebendig wurde und wo man bis sieben Samosas und warmes Frühstück bekommen konnte. Um zu ihrer Treppe zu gelangen, musste man sich zwischen Klo und Küche hindurchzwängen und einen kleinen Hinterhof überqueren, und bis dahin hatten einen der Wirt, der Koch und der freche Freund des Kochs genau unter die Lupe genommen - ganz zu schweigen von demjenigen, der vielleicht gerade zufällig auf dem Klo saß. Oben an der Treppe war eine zweite Tür, durch die man hindurch musste, ehe man den geheiligten Bereich betrat, der aus einem Dachzimmer mit dem besten Bett der Welt bestand, einem Bad und einer Küche, alle separat und der Mietpreisüberwachung unterliegend. Und jetzt hatte sie plötzlich diesen Trost der Sicherheit verloren. Man hatte ihn ihr gestohlen. Ihr war, als hätte sie die Wohnung für die Dauer ihrer Abwesenheit an jemand vermietet gehabt und der hätte, um ihr einen Gefallen zu tun, alle möglichen unpassenden Veränderungen daran vorgenommen. Wie sie jedoch unbemerkt hereingekommen waren, blieb ein Geheimnis. Als sie in der Kneipe nachfragte, hatten sie dort keine Ahnung. Da war zum Beispiel ihre Schreibschublade, in die ganz hinten Michels Briefe hineingestopft worden waren - sämtliche Originale, von denen sie in München die Fotokopien gesehen hatte. Da war ihre Kampfreserve von dreihundert Pfund, alles in alten Fünfern hinter der rissigen Wandverkleidung im Bad versteckt, wo sie in der Zeit, als sie noch Marihuana geraucht hatte, ihr Gras aufbewahrt hatte. Sie verbarg sie nun in einem Zwischenraum unter den Dielenbrettern, dann wieder im Badezimmer und dann wieder unter den Dielenbrettern. Da waren ihre Souvenirs, die zusammengetragenen Bruchteile ihrer Liebesgeschichte vom Tag Eins in Nottingham an: Zündholzheftchen aus dem Motel; der billige Kugelschreiber, mit dem sie ihre ersten Briefe nach Paris geschrieben hatte; die allerersten gold-braunen Orchideen, gepresst und zwischen den Seiten ihres Mrs. Beeton-Kochbuchs aufgehoben; das erste Kleid, das er ihr gekauft hatte - damals in York, sie waren zusammen in den Laden gegangen; die schaurigen Ohrringe, die er ihr in London geschenkt hatte und die sie wirklich nicht tragen konnte, höchstens, um ihm eine Freude zu machen. Derlei Dinge hatte sie halb erwartet; Joseph hatte sie praktisch darauf vorbereitet. Was sie jedoch so beunruhigte, war, dass diese Kleinigkeiten, als sie anfing, mit ihnen zu leben, mehr sie selbst wurden, als sie es selber war: in ihrem Bücherregal die oft durchgeblätterten Hochglanz-Informationsbroschüren über Palästina, die mit den vorsichtigen Widmungen von Michel versehen waren; an der Wand das pro-palästinensische Poster mit den froschähnlichen Zügen des israelischen Premierministers, das sich alles andere als schmeichelhaft über die Umrisse arabischer Flüchtlinge breitete; daneben waren die farbigen Landkarten gepinnt worden, auf denen der Verlauf der israelischen Expansion seit 1967 eingezeichnet war - samt ihrem eigenhändigen Fragezeichen über Tyrus und Sidon, nachdem sie bei Ben Gurion gelesen hatte, dass die Israelis sie beanspruchten; und der Stapel schlechtgedruckter antiisraelischer Propaganda in englischer Sprache. Das bin ich durch und durch, dachte sie, als sie sich langsam durch die Sammlung wühlte; sobald sie mich beim Schlafittchen kriegen, kann ich mir einen Strick nehmen. Nur, dass ich es niemals war. Sie waren es.