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Doch das auszusprechen half ihr nichts, und überhaupt verwischten sich mit der Zeit die Unterschiede. Michel, um Himmels willen, haben sie dich erwischt?

Bald nach ihrer Rückkehr nach London suchte sie weisungsgemäß das Postamt in der Maida Vale auf, wies sich aus und nahm nur einen einzigen Brief in Empfang. Er war in Istanbul abgestempelt und offensichtlich angekommen, nachdem sie nach Mykonos abgereist war. Liebling. Jetzt nicht mehr lange bis Athen. Ich liebe Dich. Unterschrift: M. Eine hingekritzelte Nachricht, um sie nicht verdursten zu lassen. Doch der Anblick dieser lebendigen Nachricht verstörte sie tief. Ein Schwall verschütteter Bilder stieg vor ihr auf und suchte sie heim. Michels Füße, die in Gucci-Schuhen die Treppe heruntergeschleift wurden. Sein schöner, in sich zusammengesunkener Körper, von seinen beiden Gefängniswärtern gestützt. Sein Rehkitz-Gesicht, zu jung für die Einberufung. Seine Stimme, zu volltönend, zu harmlos. Das Goldamulett, das sanft über seiner olivfarbenen Brust hin und her schaukelte. Joseph, ich liebe dich. Danach ging sie jeden Tag auf die Post, manchmal sogar zweimal, und wurde dort zu einer vertrauten Erscheinung, und sei es nur, weil sie jedes Mal mit leeren Händen wieder abzog und jedes Mal ein verzweifeltes Gesicht machte: ein zartes, klug ausgedachtes Rollenspiel, an dem sie sorgsam arbeitete und das Joseph in seiner Eigenschaft als heimlicher Repetitor mehr als einmal persönlich beobachtete, während er am Nachbarschalter Briefmarken kaufte.

In derselben Zeit schickte sie in der Hoffnung, ein Lebenszeichen von ihm zu bekommen, drei an Michel gerichtete Briefe nach Paris ab, bat ihn, ihr zu schreiben, liebte ihn und verzieh ihm schon im Voraus sein Schweigen. Es waren die ersten Briefe, die sie selbst entwarf und schrieb. Und geheimnisvollerweise verschaffte es ihr Erleichterung, sie abgeschickt zu haben; sie verliehen den Vorgängern Authentizität und den Gefühlen, die sie zu haben vorgab, etwas Echtes. Jedes Mal, wenn sie einen schrieb, brachte sie ihn zu einem für sie ausgesuchten Briefkasten, und sie nahm an, dass Leute da wären, die ihn abfingen, doch hatte sie gelernt, sich nicht neugierig umzublicken und nicht darüber nachzudenken. Einmal entdeckte sie Rachel, die äußerst schlampig und englisch aussah, hinter dem Fenster eines Wimpy-Imbisses. Einmal knatterten Raoul und Dimitri auf einem Motorrad an ihr vorüber. Den letzten ihrer Briefe an Michel schickte sie per Eilboten, und zwar vom selben Postamt, wo sie vergeblich immer wieder nach postlagernden Briefen fragte, und nachdem sie ihn bereits frankiert hatte, schrieb sie noch »Liebling, ach, bitte, bitte, bitte schreib« an den oberen Rand des Umschlags, während Joseph geduldig hinter ihr wartete.

Nach und nach dachte sie an ihr Leben in diesen Wochen als in Großgedrucktem und in Kleingedrucktem. Das Großgedruckte, das war die Welt, in der sie lebte, und das Kleingedruckte die Welt, in die sie hinein- und aus der sie wieder hinausschlüpfte, wenn die große Welt nicht zusah. Keine Liebesaffäre, nicht einmal mit verheirateten Männern, war bei ihr jemals so von Heimlichkeiten bestimmt gewesen.

Zu ihrem Ausflug nach Nottingham kam es an Charlies fünftem Tag, Joseph traf ganz besondere Vorsichtsmaßnahmen. Er holte sie an einem Samstag abend in einem Rover von einem entlegenen U-Bahnhof ab und brachte sie am Sonntag nachmittag wieder nach Hause. In einem Koffer hatte er ihr eine blonde, besonders gute Perücke sowie etwas Kleidung zum Wechseln mitgebracht, unter anderem einen Pelzmantel. Außerdem hatte er ein spätes Abendessen vorbestellt, und es war genauso schlimm wie das Originaclass="underline" mitten beim Essen gestand Charlie eine absurde panische Angst ein; sie fürchtete, die Bedienung könne sie trotz ihrer Perücke und des Pelzmantels erkennen und sie mit Fragen nach ihrem wirklichen Geliebten und was aus ihm geworden sei, bestürmen. Dann gingen sie auf ihr Zimmer: zwei keusche Doppelbetten, die sie in der Fiktion zusammengeschoben und deren Matratzen sie quer gelegt hatten. Einen Augenblick dachte sie sogar, genau dies werde geschehen. Als sie aus dem Badezimmer kam, lag Joseph der Länge nach ausgestreckt auf dem Bett und sah sie an; sie legte sich neben ihn und bettete ihren Kopf auf seine Brust, hob dann das Gesicht und fing an, ihn zu küssen, das heißt ihm schwerelose, ausgewählte Küsse auf Lieblingsstellen an den Schläfen, Wangen und schließlich auf die Lippen zu geben. Seine Hand hielt sie am Rücken, kam dann hoch zu ihrem Gesicht, und er küsste sie seinerseits, hielt die Hand an ihrer Wange und hielt die Augen offen. Dann schob er sie sehr behutsam von sich und setzte sich auf. Und küsste sie noch einmaclass="underline" Wiedersehen! »Horch!« sagte er und nahm seinen Mantel.

Er lächelte. Sein schönes, gütiges Lächeln, sein allerbestes. Sie horchte und hörte, wie der Nottinghamer Regen gegen ihr Fenster prasselte - der gleiche Regen, der sie zwei Nächte und einen ganzen Tag lang im Bett hatte verbringen lassen.