Am nächsten Morgen legten sie wehmütig die kleinen Ausflüge zurück, die sie und Michel in die ländliche Umgebung gemacht hatten, bis sie das Verlangen wieder ins Motel zurückgebracht hatte; alles wegen der sichtbaren Erinnerungen, wie Joseph ihr ernst versicherte, und wegen der zusätzlichen Sicherheit, es wirklich gesehen zu haben. Zwischen solchen Lektionen brachte er ihr - und das war eine gewisse Erleichterung - andere Dinge bei. Stumme Signale, wie er sie nannte: und eine Methode, auf der Innenseite einer Marlboro-Schachtel eine Geheimschrift anzubringen, etwas, was sie irgendwie nicht ernst nehmen konnte. Mehrere Male trafen sie sich bei einer Kostümbildnerin hinterm Strand, für gewöhnlich nach den Proben.
»Sie kommen wegen der Anprobe, nicht wahr, meine Liebe?« sagte eine riesenhafte, in wallende Gewänder gehüllte Blondine um die Sechzig jedes Mal, wenn Charlie zur Tür hereinkam. »Hier entlang, bitte«, sagte sie und führte Charlie in ein nach hinten hinaus gehendes Schlafzimmer, wo Joseph wie der Freier einer Hure auf sie wartete. Herbst steht dir, dachte sie; dass sein Haar leicht meliert war, fiel ihr ebenso wieder auf wie der rosige Hauch auf seinen hageren Wangen; das wird immer so sein.
Am meisten beunruhigte sie, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie ihn erreichen könne: »Wo wohnst du? Wie kann ich mich mit dir in Verbindung setzen?«
Durch Cathy, sagte er dann wohl. Du hast die Sicherheitssignale, und du hast Cathy.
Cathy war ihre Rettungsleine, Josephs Vorzimmer, die Hüterin seiner Unnahbarkeit. Jeden Abend zwischen sechs und acht betrat Charlie eine Telefonzelle, immer eine andere, und wählte eine Nummer im West End, damit Cathy den Tag mit ihr durchgehen konnte: wie es auf der Probe gewesen sei, ob sie etwas Neues von Al oder der Clique gehört habe, wie es Quilley gehe und ob sie über neue Rollen gesprochen hätten, ob sie schon für den Film vorgesprochen habe und ob sie irgend etwas brauche? - oft über eine halbe Stunde oder länger. Zuerst hatte Charlie etwas gegen Cathy, sah in ihr eine Beschneidung ihrer Beziehung zu Joseph, doch nach
und nach freute sie sich auf ihr Geplauder, denn wie sich herausstellte, konnte Cathy umwerfend witzig sein und besaß eine gute Portion gesunden Menschenverstand. Charlie stellte sie sich als jemand Warmherziges und Realistisches vor, möglicherweise eine Kanadierin: eine von jenen Psychotherapeutinnen, die nichts erschüttern konnte und die sie in der Tavistock Clinic aufgesucht hatte, als sie aus der Schule geflogen war und gedacht hatte, sie drehe durch. Das war gar nicht so dumm von Charlie, denn wenn Miss Bach auch Amerikanerin war und keine Kanadierin, ihre Vorfahren waren seit Generationen Ärzte gewesen.
Das Haus in Hampstead, das Kurtz für seine Leute gemietet hatte, war sehr groß und lag an einer stillen Seitenstraße, eine beliebte Übungsstraße der Fahrschule Finchley. Die Hausbesitzer hatten sich auf den Vorschlag ihres guten Freundes Marty aus Jerusalem klammheimlich nach Marlow verzogen, doch ihr Haus war eine Feste stiller und intellektueller Eleganz geblieben. Im Salon hingen Bilder von Nolde und im Wintergarten ein Foto von Thomas Mann mit Widmung; ein Vogel im Käfig sang, wenn man ihn aufzog, in der Bibliothek standen knarrende Lederstühle und im Musikzimmer ein Bechsteinflügel. Im Keller gab es eine Tischtennis-Platte, und nach hinten hinaus einen ziemlich verwilderten Garten mit einem unebenen grauen Tennisplatz, der allerdings schon so verwahrlost war, dass die jungen Leute ein neues Spiel dafür erfanden, eine Art Tennis-Golf, das man auch in den Löchern spielen konnte. Vorn gab es ein winziges Torhüterhäuschen, an dem sie ihr Firmenschild anbrachten: »Studiengruppe für hebräistische und humanistische Studien. Eintritt nur für Studenten und Lehrkörper«, worüber in Hampstead kein Mensch die Nase rümpfte. Mit Litvak waren sie vierzehn Mann, doch verteilten sie sich mit einer solchen diskreten und katzengleichen Disziplin über die vier Stockwerke, dass man sich fragte, ob überhaupt jemand in dem Haus wohnte. Ihr Kampfgeist war nie ein Problem gewesen, und das vornehme Haus in Hampstead hob ihn womöglich noch. Die dunklen Möbel gefielen ihnen, und sie mochten das Gefühl, dass jedes Stück um sie herum mehr zu wissen schien als sie selbst. Am liebsten arbeiteten sie den ganzen Tag und oft auch noch die halbe Nacht hindurch und kamen gern in diesen Tempel kultivierten jüdischen Lebensstils zurück - und lebten dieses Erbe auch. Wenn Litvak Brahms spielte, und zwar sehr gut, legte sogar Rachel, die ganz verrückt auf Pop-Musik war, ihre Vorurteile ab und kam nach unten, um ihm zuzuhören; dabei hatte sie sich zunächst - wie sie ihr immer wieder unter die Nase rieben - mit Händen und Füßen gegen die Vorstellung gewehrt, nach England zurückzukehren, und hatte eigensinnig darauf bestanden, nicht mit einem britischen Pass zu reisen.
In diesem schönen Team-Geist richteten sie sich darauf ein, gewissenhaft zu warten. Ohne dass man es ihnen eigens eingeschärft hätte, mieden sie die Pubs, Restaurants und jeden unnötigen Kontakt mit den Leuten, die in diesem Viertel wohnten. Auf der anderen Seite kümmerten sie sich darum, sich gegenseitig Briefe zu schicken, Milch und Zeitungen zu kaufen und all die Dinge zu tun, die Neugierigen dann auffallen, wenn sie nicht geschehen. Sie fuhren viel Rad und waren ganz aus dem Häuschen, als sie entdeckten, was für erlauchte und manchmal fragwürdige Juden schon vor ihnen hier gewesen waren, und nicht einer von ihnen versäumte es, dem Haus von Friedrich Engels oder dem Grab von Karl Marx auf dem Highgate-Friedhof einen Besuch abzustatten. Ihr Fuhrpark war eine hübsche kleine, rosa gestrichene Reparaturwerkstatt hinter Haverstock Hill; im Schaufenster stand ein alter silberner Rolls-Royce mit einem Plakat: NICHT ZU VERKAUFEN, der Besitzer war ein gewisser Bernie. Bernie war ein großer, bärbeißiger Mann mit dunklem Gesicht, blauem Anzug und einer halbgerauchten Zigarette und einem blauen Homburg, ähnlich dem Schwilis, den er selbst dann trug, wenn er eigenhändig etwas tippte. Er hatte Lieferwagen und PKWs und Motorräder und Nummernschilder, soviel man wollte, und am Tag ihrer Ankunft hängte er ein Plakat auf: NUR VERTRAGS-ARBEITEN. KEINE KUNDENANNAHME. »Ein paar Mist-Puper«, erklärte er seinen Geschäftsfreunden grob. »Behaupteten, eine Film-Gesellschaft zu sein. Haben meinen ganzen Mist-Laden gemietet und mich mit neuen Mist-Lappen bezahlt - wie, verdammter Mist, kann man da schon nein sagen?« Was alles aufs Haar genau stimmte, denn das war die Fiktion, auf die sie sich mit ihm geeinigt hatten. Allerdings wusste Bernie sehr wohl, wie der Hase lief. Bernie hatte früher selbst bei der einen oder andren Sache mitgemischt.
Inzwischen liefen über die Londoner Botschaft fast täglich Nachrichtenleckerbissen ein, wie Meldungen von fernem Schlachtgetöse. Rossino hatte Yanukas Münchener Wohnung wieder einen Besuch abgestattet, diesmal in Begleitung einer Blonden, die ihre Theorien über die unter dem Namen Edda bekannte Frau bestätigten. Soundso hatte Soundso in Paris oder Beirut, Damaskus oder Marseilles besucht. Seit Rossinos Identifizierung hatten sich eine ganze Reihe neuer Wege aufgetan, die in alle Himmelsrichtungen führten. Bis zu dreimal wöchentlich hielt Litvak eine Lagebesprechung mit freier Aussprache ab. Wo Aufnahmen gemacht worden waren, gab es zusätzlich noch eine Laterna-magica-Vorstellung, dazu Kurzreferate über bekannt gewordene Decknamen, Verhaltensweisen, persönliche Vorlieben und Geschäftsgebaren. Ab und zu veranstaltete er sogar ein Quiz, bei dem für die Gewinner lustige Preise ausgesetzt wurden.
Gelegentlich, wenn auch nicht oft, stieß unauffällig auch der große Gadi Becker zu ihnen, um die letzten Neuigkeiten zu hören; er setzte sich dann wohl hinten im Raum ganz allein hin und ging, sobald die Besprechung vorüber war. Von dem Leben, das er fern von ihnen führte, hatten sie keine Ahnung, erwarteten das aber auch nicht: Er war der Agentenführer, eine Spezies für sich; er war Becker, unbesungener Held von mehr Geheimmissionen, als die meisten von ihnen Geburtstage aufweisen konnten. Liebevoll nannten sie ihn ›Steppenwolf‹ und erzählten sich gegenseitig beeindruckende, halbwahre Geschichten über seine Heldentaten. Das entscheidende Wort traf am Tag achtzehn ein. Ein Fernschreiben aus Genf versetzte sie in Alarmbereitschaft, und ein Telegramm aus Paris war die Bestätigung. Binnen einer Stunde waren zwei Drittel des Teams unterwegs und fuhren durch schwarzen Regen gen Westen.