In der Hoffnung, er komme von Michel, nahm sie das zusammengefaltete Stück Papier von ihm entgegen, und ihr war die unterdrückte Enttäuschung anzumerken, als sie feststellte, dass er nur von ihrer Schwester kam und lautete: »Toi-toi-toi für die Aufführung heute abend« - Josephs Methode, ihr zuzuflüstern: »Wir sind bei dir«, aber so leise, dass sie es kaum hörte. Die Tür zur Halle öffnete sich und schloss sich hinter ihr. Über den
Teppich der Halle kamen die Schritte eines Mannes auf sie zu. Sie gestattete sich einen raschen Blick auf ihn, falls es Michel war. Doch er war es nicht, wie ihr enttäuschter Gesichtsausdruck zeigte. Er war jemand vom Rest der Welt und für sie zu nichts nutze. Ein schlanker, gefährlich-friedlicher junger Mann mit dunklen, kein Wässerchen trübenden Augen. Er trug einen braunen Gabardine-Trenchcoat mit militärischen Schulterklappen, die den Zivilisten-Schultern Breite verleihen sollten. Und einen braunen Schlips, passend zur Augenfarbe, die wiederum zum Trenchcoat passte. Durchaus nicht ein Mann der Gerechtigkeit, zu diesem Schluss kam sie - eher der verweigerten Gerechtigkeit. Ein vierzigjähriger Gabardine-Junge, der frühzeitig seiner Gerechtigkeit beraubt worden war.
»Miss Charlie?«
Und ein kleiner, überfütterter Mund in einem blassen Kinnbereich. »Ich möchte Ihnen Grüße von unserem gemeinsamen Bekannten Michel überbringen, Miss Charlie.«
Charlies Gesicht hatte sich verhärtet, wie bei jemand, der sich gegen eine Bestrafung wappnet. »Michel wer?« fragte sie -und sah, wie nichts in ihm sich rührte, was wiederum sie ganz still werden ließ, so wie wir vor Bildern und Plastiken und regungslosen Polizisten still werden.
»Michel aus Nottingham, Miss Charlie.« Der Schweizer Tonfall bekümmert und leicht anklagend. Die Stimme belegt, als ob Gerechtigkeit eine Geheimsache sei. »Michel hat mich gebeten, Ihnen goldene Orchideen zu schicken und Sie für ihn zum Essen auszuführen. Er möchte unbedingt, dass Sie mitkommen. Bitte. Ich bin Michels Freund. Kommen Sie.«
Du? dachte sie. Ein Freund? Einen Freund wie dich hätte Michel nie, nicht einmal, um sein Scheiß-Leben zu retten. Doch das sagte sie nur durch das wütende Funkeln ihrer Augen.
»Außerdem ist mir die Aufgabe übertragen worden, Michel vor Gericht zu vertreten, Miss Charlie. Michel hat ein Recht auf den vollen Schutz des Gesetzes. Kommen Sie, bitte. Jetzt.« Die Geste kostete sie große Anstrengung, doch das wollte sie auch. Die Orchideen waren schrecklich schwer, und es war ein langer Weg, sie durch die Luft von ihrer Hand in seine zu befördern. Aber sie schaffte es; sie hatte Mut und Kraft wieder gefunden, und seine Hände kamen in die Höhe, um die Blumen in Empfang zu nehmen. Außerdem traf sie den richtigen kessen Ton für die Worte, die sie beschlossen hatte zu sagen.
»Sie sind in der falschen Vorstellung«, sagte sie. »Ich kenne keinen Michel aus Nottingham, ich kenne überhaupt keinen Michel. Und ich kann mich auch nicht erinnern, Ihnen während der letzten Saison in Monte begegnet zu sein. Netter Versuch, aber ich bin müde. Bin euch alle leid.«
Während sie sich noch der Rezeption zuwandte, um ihren Schlüssel zu nehmen, ging ihr auf, dass Humphrey, der Nachtportier, sich in einer hochwichtigen Angelegenheit an sie wandte. Sein glasiertes Gesicht zuckte, und er hielt einen Bleistift schreibbereit über eine große Kladde gezückt.
»Ich habe gefragt«, blubberte er verächtlich in seiner fisteligen und gedehnten nordenglischen Sprechweise, »um welche Zeit Sie Ihren Morgentee möchten, Miss?«
»Um neun, mein Lieber. Aber keine Sekunde früher.« Abgespannt wandte sie sich zur Treppe. »Zeitung, Miss?« fragte Humphrey.
Sie drehte sich um und sah ihn missmutig an. »Himmel«, flüsterte sie.
Humphrey war plötzlich ganz aufgeregt. Er schien der Ansicht zu sein, nur sprühende Lebendigkeit könne sie aufwecken. »Morgenzeitung! Zum Lesen! Was ist Ihre Lieblingszeitung?«
»Die Times, mein Lieber«, sagte sie.
Humphrey versank wieder zufrieden in seiner Apathie. »Also Telegraph«, sagte er beim Schreiben. »Die Times gibt’s nur auf Vorbestellung.« Inzwischen hatte sie bereits begonnen, sich die Treppe zur historischen Dunkelheit des Treppenabsatzes hinaufzuschleppen. »Miss Charlie!« Wenn du mich noch einmal auf diese Weise rufst, dachte sie, könnte es sein, dass ich ein paar Stufen runterkomme, um dir eins über deinen glatten Schweizer Gebirgspass zu geben. Sie machte zwei weitere Schritte, ehe er wieder sprach. So viel Energie hatte sie ihm gar nicht zugetraut. »Michel wird sehr erfreut sein zu erfahren, dass Rosalinde heute Abend sein Armband getragen hat. Und, wie ich meine, noch trägt. Oder ist es das Geschenk eines anderen Herrn?« Erst wandte sich ihm oben von der Treppe ihr Gesicht, dann ihr ganzer Körper zu. Er hatte die Orchideen in die linke Hand genommen; der rechte Arm hing herunter wie ein leerer Ärmel. »Ich habe gesagt: fort! Gehen Sie. Bitte - einverstanden?« Aber sie sprach gegen ihre eigene Überzeugung, wie ihr Stocken schon verriet.
»Michel hat mir aufgetragen, Sie zu frischem Hummer und einer Flasche Boutaris einzuladen. Weiß und kalt, sagt er. Ich habe auch noch andere Nachrichten von ihm. Er wird außer sich sein, wenn Sie seine Einladung abschlagen, und auch verletzt.« Das war zuviel. Er war ihr eigener dunkler Engel, der die Seele forderte, die sie sorglos verpfändet hatte. Ob er log, ob er von der Polizei war oder ein gewöhnlicher Erpresser - sie würde ihm bis hinunter in die Unterwelt folgen, wenn er sie zu Michel brachte. Auf den Absätzen kehrtmachend, kam sie langsam die Treppe zur Rezeption herunter.
»Humphrey.« Sie warf den Schlüssel auf den Rezeptionstisch, nahm ihm den Bleistift aus der widerstandslosen Hand und schrieb den Namen CATHY auf den vor ihm liegenden Block. »Eine Amerikanerin. Kapiert? Eine Freundin. Wenn sie anruft, sagen Sie ihr, ich sei mit sechs Liebhabern losgezogen. Sagen Sie ihr, vielleicht käme ich morgen zum Lunch vorbei. Kapiert?« wiederholte sie.
Sie riss das Blatt vom Block, stopfte es ihm in die Brusttasche und gab ihm dann einen flüchtigen Kuss, während Mesterbein mit dem aufgesetzt-steinernen Unmut des Liebhabers wartete, der für heute abend Anspruch auf sie erhob. Vor der Tür holte er eine schöne Schweizer Taschenlampe hervor. In deren Lichtkegel erkannte sie den gelben Hertz-Aufkleber an der Windschutzscheibe seines Wagens. Er machte die Tür am Beifahrersitz auf und sagte »Bitte schön«, doch sie ging ungerührt an ihm vorbei auf ihren Fiat zu, stieg ein, ließ den Motor an und wartete. Zum Fahren, es fiel ihr auf, als er vor ihr herging, trug er eine schwarze Baskenmütze, deren Rand ganz gerade war wie bei einer Badekappe, nur dass seine Ohren dadurch abstanden.
Wegen der Nebelfelder fuhren sie langsam in Kolonne hintereinander her. Oder vielleicht fuhr Mesterbein immer so, denn er hatte den undurchdringlich-aggressiven Rücken des gewohnheitsmäßig vorsichtigen Fahrers. Sie fuhren einen Hügel hoch und dann in nördlicher Richtung über freies Moor. Der Nebel lichtete sich, die Telegrafenmasten standen wie eingefädelte Nadeln vorm Nachthimmel. Ein zerrissener griechischer Mond spähte kurz aus den Wolken heraus, ehe er wieder nach hinten hineingezerrt wurde. An einer Straßenkreuzung hielt Mesterbein, um auf der Karte nachzusehen. Schließlich wies er nach links, zuerst mit seiner Taschenlampe, dann mit einer kreisenden weißen Hand. Jawohl, Anton, hab’ schon verstanden. Sie folgte ihm einen Hügel hinunter und durch ein Dorf; sie kurbelte ihr Fenster herunter und ließ den Salzgeruch des Meeres herein. Der Luftzug riss ihr in einem Schrei den Mund auf. Sie folgte ihm unter einem zerfetzten Banner hindurch, auf dem stand: »East West Timesharer Chalets Ltd.«, dann eine schmale neue Straße durch die Dünen zu einer stillgelegten Zinnmine hinauf, die sich vorm Himmel abhob, wie für eine Anzeige: »Besuchen Sie Cornwall«. Links und rechts von ihr Holzbungalows; nirgends Licht. Mesterbein stellte seinen Wagen ab, sie parkte hinter ihm und ließ wegen des abschüssigen Geländes den Gang drin. Die Handbremse ächzt wieder, dachte sie; muss noch mal zu Eustace. Er stieg aus; sie tat das gleiche und verschloss ihr Auto. Der Wind hatte sich gelegt; sie befanden sich auf der windabgekehrten Seite der Halbinsel. Kreischend zogen Möwen über ihnen ihre Kreise, als hätten sie auf dem Boden etwas Wertvolles verloren. Die Taschenlampe in der Hand, griff Mesterbein nach ihrem Arm, um sie zu führen. »Lassen Sie mich«, sagte sie. Er stieß eine Pforte auf, sie quietschte. Vor ihnen ging ein Licht an. Kurzer Betonweg, blaue Tür mit dem Namen Sea-Wrack darauf. Mesterbein hielt einen Schlüssel bereit. Die Tür ging auf, er trat vor ihr ein, trat beiseite, um sie einzulassen, ein Immobilienmakler, der einem möglichen Kunden das Haus zeigt. Es gab keinen Vorbau und irgendwie keine Warnung. Sie folgte ihm hinein, er schloss die Tür hinter ihr, sie stand in einem Wohnzimmer. Sie roch feuchte Wäsche und sah schwarze Schimmelflecke an der Decke. Eine große blonde Frau in einem blauen Kordanzug steckte eine Münze in den elektrischen Zähler. Als sie eintraten, sah sie sich mit einem strahlenden Lächeln rasch um, sprang dann auf und strich dabei eine Strähne langer goldblonder Haare zurück.