»Anton: Ach, zu reizend. Sie haben mir Charlie gebracht! Charlie, willkommen. Und Sie sind mir doppelt willkommen, wenn Sie mir zeigen, wie dieser unmögliche Apparat funktioniert.« Sie packte Charlie bei den Schultern und gab ihr aufgeregt einen Kuss auf beide Wangen. »Ich meine, Charlie, hören Sie, Sie waren einfach fabelhaft in diesem Shakespeare heute abend, ja? Nicht wahr, Anton? Ich meine: hinreißend. Ich bin übrigens Helga., ja?« Ausdrücken wollte sie damit: Namen sind für mich ein Spiel. »Helga. Ja? So wie Sie Charlie sind, bin ich Helga.«
Ihre Augen waren grau und durchsichtig und wie Mesterbeins gefährlich ohne Arg. Mit kämpferischer Einfachheit blickten sie auf eine komplizierte Welt. Ehrlich zu sein bedeutet, ungezähmt zu sein, dachte Charlie und zitierte für sich aus einem von Michels Briefen. Ich fühle, also handle ich.
Aus einer Ecke des Raums gab Mesterbein eine verspätete Antwort auf Helgas Frage. Er hängte seinen Gabardine-Trenchcoat über einen Kleiderbügel. »Aber ja, sie war sehr beeindruckend, natürlich!«
Helga hatte die Hände immer noch auf Charlies Schultern liegen, und ihre kräftigen Daumen strichen ihr leicht über den Hals. »Ist es schwierig, so viel Text auswendig zu lernen, Charlie?« fragte sie und sah Charlie dabei strahlend ins Gesicht. »Ich habe damit keine Schwierigkeiten«, sagte sie und löste sich von Helgas Griff.
»Sie lernen also leicht auswendig?« Sie nahm Charlies Hand und drückte ihr ein Fünfzig-Pence-Stück hinein. »Kommen Sie! Zeigen Sie mir, wie diese phantastische englische Erfindung, genannt Feuer, funktioniert.«
Charlie hockte sich vor den Automaten, drehte den Hebel zur Seite, steckte die Münze hinein, drehte den Hebel zur anderen Seite, und klirrend fiel die Münze hinein. Mit einem protestierenden Zischen ging das Feuer an.
»Unglaublich! Ach, Charlie! Aber sehen Sie, das ist typisch für mich. Nicht so viel technischen Verstand!« erklärte Helga augenblicklich, als sei dies etwas Wichtiges, das eine neue Freundin von ihr wissen müsse. »Ich bin gegen jeden Besitz, und wenn ich nichts besitze, wie soll ich dann wissen, wie etwas funktioniert? Anton, bitte übersetz das für mich. Ich glaube an Sein, nicht Haben.« Das war ein Befehl, von einer Kinderzimmer-Autokratin. Ihr Englisch war auch ohne seine Hilfe recht gut. »Haben Sie Erich Fromm gelesen, Charlie?«
»Sie meint sein, nicht besitzen«, sagte Mesterbein trübsinnig, während er die beiden Frauen betrachtete. »Das ist der Kern von Fräulein Helgas Einstellung. Sie glaubt an das grundsätzlich Gute und an die Überlegenheit der Natur über die Wissenschaft. Das tun wir beide«, setzte er dann noch hinzu, als wollte er sich zwischen sie beide stellen.
»Haben Sie Erich Fromm gelesen?« wiederholte Helga, strich sich wieder das blonde Haar aus dem Gesicht und dachte bereits an etwas ganz anderes. »Ich bin ganz verliebt in ihn.« Die Hände vorgestreckt, hockte sie sich vor das Feuer. »Wenn ich einen Philosophen bewundere, liebe ich ihn. Das ist typisch für mich.« Ihre Bewegungen waren von einer unaufrichtigen Anmut und ungelenk wie bei einem Teenager. Sie trug flache Schuhe, um ihre Größe auszugleichen.
»Wo ist Michel?« fragte Charlie.
»Fräulein Helga weiß nicht, wo Michel ist«, wandte Mesterbein aus seiner Ecke scharf ein. »Sie ist keine Anwältin und ist nur wegen der Reise und der Gerechtigkeit mitgekommen. Fräulein Helga hat keine Ahnung von Michels Aktivitäten oder Aufenthalt. Nehmen Sie doch bitte Platz.«
Charlie blieb stehen, doch Mesterbein selbst setzte sich auf einen Stuhl und faltete die sauberen weißen Hände auf dem Schoß. Nachdem er den Trenchcoat abgelegt hatte, stellte er seinen neuen braunen Anzug zur Schau, als wäre es ein Geburtstagsgeschenk von seiner Mutter.
»Sie haben gesagt, Sie hätten Nachrichten von ihm«, sagte Charlie. Ihre Stimme zitterte, und ihre Lippen fühlten sich ganz steif an. Helga, die immer noch auf dem Boden hockte, hatte sich umgedreht und sah sie an. Nachdenklich hatte sie einen Daumennagel gegen die kräftigen Vorderzähne gepresst.
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?« fragte Mesterbein. Sie wusste nicht mehr, wen von beiden sie ansehen sollte. »In Salzburg«, sagte sie.
»Salzburg ist kein Datum, oder?« wandte Helga vom Boden her ein.
»Vor fünf, sechs Wochen. Wo ist er?«
»Und das letzte Mal von ihm gehört haben Sie wann?« fragte Mesterbein.
»Sagen Sie mir doch bloß, wo er ist! Was ist ihm passiert?« Sie wandte sich wieder an Helga. »Wo ist er?«
»Ist niemand zu Ihnen gekommen?« fragte Mesterbein. »Keiner seiner Freunde? Keine Polizei?«
»Vielleicht ist Ihr Gedächtnis doch nicht so gut, wie Sie behaupten, Charlie«, meinte Helga.
»Bitte, sagen Sie uns, mit wem Sie Kontakt hatten, Miss Charlie«, sagte Mesterbein. »Sofort. Das ist von höchster Wichtigkeit. Wir sind wegen dringender Dinge hier.«
»Eigentlich könnte sie ja leicht lügen, solch eine Schauspielerin«, sagte Helga und hatte dabei die großen Augen unverhüllt fragend auf Charlie gerichtet. »Eine Frau, die darin ausgebildet ist, zu tun, als ob - wie kann man der überhaupt irgendetwas glauben?« »Wir müssen sehr vorsichtig sein«, pflichtete Mesterbein ihr bei, als müsse er sich das für die Zukunft merken.
Ihr Zusammenspiel hatte etwas Sadistisches; sie trieben ihr Spiel mit einem Schmerz, den sie noch gar nicht fühlte. Erst sah sie Helga an, dann Mesterbein. Die Worte entfuhren ihr. Sie konnte sie nicht mehr zurückhalten. »Er ist tot, nicht wahr?« flüsterte sie.
Helga schien sie nicht zu hören. Sie war ganz davon in Anspruch genommen, sie zu beobachten.
»Oh ja, Michel ist tot«, sagte Mesterbein düster. »Das tut mir natürlich leid. Und Fräulein Helga auch. Es tut uns beiden sehr leid. Und nach den Briefen, die Sie ihm geschrieben haben, nehmen wir an, dass es Ihnen auch leid tut.«
»Aber vielleicht sind die Briefe auch nur vorgetäuscht, Anton«, erinnerte Helga ihn. Das war ihr schon einmal im Leben passiert, in der Schule. Dreihundert Mädchen, an den Wänden der Turnhalle aufgereiht, die Direktorin in der Mitte, und jede wartete darauf, dass die Schuldige gestand. Mit den besten von ihnen hatte Charlie sich verstohlen umgeblickt, nach der Schuldigen Ausschau gehalten - ist sie es? Ich wette, die da -, sie errötete nicht, sondern sah ernst und unschuldig drein und hatte - das stimmte wirklich und erwies sich später auch als wahr - überhaupt niemand etwas gestohlen. Trotzdem gaben ihre Knie plötzlich nach, und sie fiel einfach hin, fühlte sich von der Taille aufwärts völlig in Ordnung, nur unten gelähmt. Genau das gleiche tat sie jetzt, durchaus nichts Einstudiertes - sie tat es, ehe sie selbst merkte, was mit ihr geschah, noch ehe sie sich auch nur halb über die Ungeheuerlichkeit dessen klar geworden war, was man ihr da gesagt hatte, und noch ehe Helga eine Hand ausstrecken konnte, um sie aufzufangen. Sie stürzte hin und fiel mit einem dumpfen Schlag auf den Boden, dass die Deckenbeleuchtung an der Strippe auf und ab sprang. Helga kniete augenblicklich neben ihr, murmelte etwas auf Deutsch und legte ihr tröstend die Hand einer Frau auf die Schulter - eine gütige, spontane Gebärde. Mesterbein bückte sich, um auf sie hernieder zu starren, doch er berührte sie nicht. Er interessierte sich mehr dafür, wie sie weinte. Sie hatte den Kopf auf die Seite gelegt, und ihre Wange ruhte auf der geballten Faust, so dass die Tränen ihr quer übers Gesicht strömten und nicht daran hinunter. Je länger er sie beobachtete, desto froher schienen ihre Tränen ihn zu machen. Er nickte leise, was vielleicht anerkennend gemeint war; er blieb nahe bei ihnen, während Helga ihr aufs Sofa half, wo sie -das Gesicht in den kratzenden Kissen verborgen und die Hände vors Gesicht geschlagen - dalag und weinte, wie es nur Kinder können - und jene, denen das Liebste genommen worden ist. Aufruhr, Zorn, Schuld, Reue, Schrecken: jedes einzelne dieser Gefühle wurde von ihr wahrgenommen wie die Phasen einer beherrschten, gleichwohl jedoch tief empfundenen Darbietung. Ich wusste es, hab’s nicht gewusst, hab’ mir nicht erlaubt, diesen Gedanken zu denken. Ihr Betrüger, ihr mörderischen Betrüger, ihr habt im Theater des Wirklichen meinen heißgeliebten Liebsten umgebracht!