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wieder auf, die sie noch gar nicht geführt hatten. »Niemals: Wir machen eine Gewaltaktion, wir machen eine friedliche Aktion, es ist egal. Für uns ist das große Problem, logisch zu sein, nicht beiseite zu stehen, wahrend die Welt ihren Lauf nimmt, Meinung in Überzeugung zu verwandeln und Überzeugung in Handeln.« Sie hielt inne, beobachtete die Wirkung ihrer Aussage auf ihre Schülerin. Ihre Köpfe waren sehr nahe beieinander. »Handeln ist Selbstverwirklichung und außerdem objektiv, ja?« Wieder eine Pause, aber immer noch keine Antwort. »Und wissen Sie noch was, was Sie völlig überraschen wird? Ich habe eine ausgezeichnete Beziehung zu meinen Eltern. Bei Ihnen ist das ganz anders. Das sieht man aus Ihren Briefen. Bei Anton auch. Natürlich ist meine Mutter die Intelligentere, aber mein Vater…« Sie sprach nicht weiter, doch diesmal ärgerte sie sich über Charlies Schweigen und darüber, dass sie wieder weinte.

»Charlie, hören Sie jetzt auf. Aufhören, okay? Wir sind schließlich keine alten Weiber. Sie haben ihn geliebt, das akzeptieren wir als logisch, aber er ist tot.« Ihre Stimme war erstaunlich hart geworden. »Er ist tot, aber wir sind keine Individualisten, denen es nur um das persönliche, das private Erleben geht, sondern wir sind Kämpfer und Arbeiter. Hören Sie mit der Heulerei auf!«

Helga packte Charlie beim Ellbogen und schob sie buchstäblich hoch, um sie durch die ganze Länge des Raums zu führen. »Hören Sie mir zu. Sofort! Ich hatte mal einen sehr reichen Freund. Kurt. Faschistisch bis in die Knochen, sehr primitiv. Ich brauchte ihn für den Sex, so wie ich jetzt Anton brauche, aber außerdem habe ich versucht, ihn zu erziehen. Eines Tages wurde der deutsche Botschafter in Bolivien, ein Graf Soundso, von den Freiheitskämpfern hingerichtet. Erinnern Sie sich an diese Aktion? Kurt, der ihn nicht einmal kannte, war sofort voller Empörung: ›Diese Schweine! Diese Terroristen! Eine Schande ist das!‹ Ich sagte zu ihm: ›Kurt‹ - so hieß er - ›um wen trauerst du eigentlich? Jeden Tag verhungern Menschen in Bolivien. Wieso sich da über einen toten Grafen aufregen?‹ Stimmen Sie mir in dieser Beurteilung zu, Charlie? Ja?« Charlie zuckte kaum merklich mit den Achseln. Helga drehte sie zu sich um und ging endlich auf ihr Ziel los. »Nehmen wir ein stichhaltigeres Argument. Michel ist ein Märtyrer, aber Tote können nicht kämpfen, und es gibt noch viele andere Märtyrer. Ein Soldat ist tot. Die Revolution geht weiter. Ja?«

»Ja«, flüsterte Charlie.

Sie hatten das Sofa erreicht. Helga nahm ihre vernünftige Handtasche und holte eine flache halbe Flasche Whisky heraus, auf der Charlie das Etikett des Duty-free-Shops erkannte. Sie schraubte den Verschluss auf und reichte ihr die Flasche. »Auf Michel«, erklärte sie. »Wir trinken auf ihn. Auf Michel! Sagen Sie es!«

Charlie nahm einen kleinen Schluck und verzog das Gesicht. Helga nahm ihr die Flasche wieder ab.

»Setzen Sie sich, Charlie. Ich möchte, dass Sie sich hinsetzen. Jetzt, sofort!«

Schwunglos nahm sie auf dem Sofa Platz. Wieder stand Helga über ihr.

»Sie hören mir zu, und Sie antworten, okay? Ich bin nicht zum Spaß hierhergekommen, verstehen Sie? Und auch nicht, um zu diskutieren. Ich diskutiere gern, aber nicht jetzt. Sagen Sie: ›Ja.‹ «

»Ja«, sagte Charlie erschöpft.

»Er fühlte sich von Ihnen angezogen. Das ist eine wissenschaftliche Tatsache. War wirklich bis über beide Ohren in Sie verknallt. Auf dem Schreibtisch in seiner Wohnung lag ein nicht zu Ende geschriebener Brief an Sie, voll mit phantastischen Äußerungen über Liebe und Sex. Alles für Sie. Und auch über Politik.« Langsam, als ob das, was da gesagt worden war, erst nach und nach bis zu ihr durchgedrungen sei, schien Charlie mit ihrem verquollenen und zuckenden Gesicht aufzuhorchen. »Wo ist er?« sagte sie. »Geben Sie ihn mir!«

»Er wird bearbeitet. Bei den Unternehmungen muss alles ausgewertet, muss alles objektiv untersucht werden.«

Charlie starrte auf ihre Füße. »Er gehört mir! Geben Sie ihn mir!« »Der Brief ist Eigentum der Revolution. Vielleicht bekommen Sie ihn später. Man wird sehen.« Nicht sonderlich sanft stieß Helga sie aufs Sofa zurück. »Dieser Wagen. Der Mercedes, der jetzt ein Trümmerhaufen ist. Sie haben ihn über die Grenze nach Deutschland gebracht? Für Michel? Ein Auftrag? Antworten Sie!« »Nach Österreich«, murmelte sie.

»Von wo?«

»Durch Jugoslawien.« »Charlie, was die Genauigkeit betrifft, scheinen Sie mir ehrlich ziemlich schlecht zu sein: von wo?«

»Saloniki.«

»Und Michel hat Sie auf dieser Fahrt begleitet, natürlich hat er das getan. Das war normal bei ihm, meine ich.« »Nein.«

»Wieso nein? Sie sind allein gefahren? Eine so weite Strecke? Lächerlich! Eine solche Verantwortung hätte er Ihnen nie aufgebürdet. Ich glaube Ihnen kein Wort. Das Ganze ist eine Lügengeschichte.«

»Wen interessiert das schon?« sagte Charlie und verfiel wieder in ihre Apathie.

Helga interessierte es sehr wohl. Sie war bereits außer sich. »Selbstverständlich interessiert es Sie nicht! Wieso sollte es eine Spionin auch interessieren? Mir ist schon klar, was passiert ist. Ich brauche keine Fragen mehr zu stellen, das ist reine Formsache. Michel hat Sie angeworben, hat Sie zu seiner heimlichen Geliebten gemacht, und bei der ersten besten Gelegenheit sind Sie zur Polizei gelaufen, um sich zu schützen und eine goldene Nase zu verdienen. Sie sind ein Polizeispitzel. Ich werde das einigen sehr einflussreichen Leuten stecken, mit denen wir in Kontakt stehen, und man wird sich Ihrer annehmen - und wenn es zwanzig Jahre dauern sollte. Hingerichtet.«

»Toll!« sagte Charlie. »Phantastisch!« Sie drückte ihre Zigarette aus. »Tun Sie das, Helga. Das ist genau das, was ich brauche. Schicken Sie sie vorbei, ja? Zimmer sechzehn, im Hotel.« Helga war ans Fenster getreten und hatte den Vorhang zurückgezogen, offenbar in der Absicht, Mesterbein zurückzurufen. An ihr vorbei erkannte Charlie, dass die Innenbeleuchtung seines blauen Mietwagens angeknipst war und Mesterbeins Silhouette mit der Baskenmütze auf dem Kopf unbeweglich auf dem Fahrersitz saß. Helga klopfte ans Fenster. »Anton? Anton, komm sofort her, wir haben es mit einem ausgebufften Spitzel zu tun.« Aber ihre Stimme war, wie beabsichtigt, zu leise für ihn. »Warum hat Michel uns nicht von Ihnen erzählt?« wollte sie wissen, zog den Vorhang wieder zu und drehte sich um, um sie anzusehen. »Warum hat er Sie nicht mit uns geteilt? Sie - die Sie so viele Monate sein Geheimnis gewesen sind? Zu lachhaft!«

»Er hat mich geliebt.«

»Quatsch! Benutzt hat er Sie. Sie haben doch noch seine Briefe - oder?«

»Er hat mir befohlen, sie zu vernichten.«

»Aber Sie haben es nicht getan. Selbstverständlich nicht. Wie sollten Sie auch? Sie sind ein einfältiges Bündel von Gefühlen, das erkennt man doch sofort aus Ihren Briefen an ihn. Sie haben ihn ausgebeutet, er hat Geld für Sie hinausgeworfen: Kleider, Schmuck, Hotels, und Sie - Sie gehen hin und verkaufen ihn an die Polizei. Natürlich haben Sie das getan!«

Helga stand nahe bei Charlies Handtasche, hob sie auf und entleerte den Inhalt impulsiv auf den Esstisch. Doch die Hinweise, die für sie darin untergebracht worden waren - der Taschenkalender mit den Tagebucheintragungen, der Kugelschreiber aus Nottingham, die Streichhölzer aus dem Diogenes in Athen - waren in ihrer augenblicklichen Stimmung zu feinsinnig für sie. Sie suchte nach Schuldbeweisen für Charlies Verrat, nicht nach Liebesbeweisen. »Dieses Radio.« Ihr kleiner japanischer Transistor mit dem eingebauten Wecker für die Proben.

»Was ist das? Ein Gerät für Spione. Woher kommt es? Wieso trägt eine Frau wie Sie in ihrer Handtasche ein Radio mit sich herum?« Charlie überließ Helga ihren eigenen Sorgen, wandte sich von ihr ab und starrte, ohne etwas wahrzunehmen, ins Feuer. Helga fummelte an den Knöpfen des Radios herum und bekam Musik herein. Sie stellte es ab und legte das Gerät gereizt beiseite. »In Michels letztem Brief - dem, den er nicht an Sie abgeschickt hat - schreibt er. Sie hätten die Pistole geküsst. Was bedeutet das?« »Das bedeutet, dass ich seine Pistole geküsst habe.« Sie verbesserte sich. »Die Pistole seines Bruders.«